Zeitverzug beim Denkwandel

Die Zeitenwende ist auch eine Mentalitätswende: Deutschland muss nicht nur in Bezug auf Russland, sondern auch auf die USA und China umdenken.

„Zeitenwende“ ist ein Zwitter: Der Begriff steht sowohl für Zeitdiagnose als auch für ein Politikprogramm. Was die richtige Diagnose ist und was das richtige Politikprogramm, darüber wird politisch gestritten in der demokratischen Öffentlichkeit. Dieser Streit basiert auf Konzepten, mit denen wir die Welt ordnen und Politikrezepte entwickeln. Wo stehen wir in der mentalen Zeitenwende? Wo sind wir auf dem richtigen Weg? Wo hinken wir noch hinterher?

Ist Deutschland bereit für die neue Zeit? ©seppspiegl

Beim Blick auf die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung hat sich ein weitgehender und dringend notwendiger Mentalitätswandel vollzogen: weg von dem Mantra, dass Sicherheit in Europa nur gemeinsam mit Russland möglich sei. In seiner Rede im Bundestag am 27. Februar 2022 formulierte Bundeskanzler Olaf Scholz: „Dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit.“ SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich spitzte diese Diagnose im letzten Sommer zu: „Seit dem 24. Februar 2022 wird es Sicherheit auf absehbare Zeit nur vor und nicht länger mit Russland geben können.“ Dass diese Feststellung vom wohl profiliertesten SPD-Vertreter der – gegenüber Konzepten wie Abschreckung höchst skeptischen – Friedens- und Entspannungspolitik kommt, ist bemerkenswert.

Es zeigt, dass Parteichef Lars Klingbeil mit der mentalen Zeitenwende, die er in der Sozialdemokratie mit Blick auf eine neue Ostpolitik vorantreibt, keinesfalls allein auf weiter Flur steht. Zu dieser mentalen Zeitenwende gehört auch eine Analyse der Fehler der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte. Hier ist nicht nur die Sozialdemokratie gefordert. Die maßgeblichen Entscheidungen (inklusive für die immer größere Abhängigkeit von russischen Gasimporten) wurden in einem breiten Konsens zwischen der Wirtschaft sowie von CDU/CSU, SPD und FDP getroffen. Aber die Rolle der Sozialdemokratie war nicht zuletzt deshalb eine besondere, weil der ehemalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder sich schamlos auf die Gehaltsliste russischer Staatsunternehmen setzen ließ und seine Männerfreundschaft zum russischen Präsidenten Putin zelebrierte.

Es ist wichtig, dass die Führungsspitzen der SPD vorangehen bei der Aufarbeitung von Fehlannahmen.

Insofern ist es wichtig, dass die Führungsspitzen der SPD vorangehen bei der Aufarbeitung von Fehlannahmen. Hier lässt der Bundeskanzler Engagement vermissen. Viel mehr als ein Bedauern darüber, dass er sich nicht früher mit seinem Plan, Flüssiggasterminals an der deutschen Küste zu bauen, hatte durchsetzen können, ist Olaf Scholz nicht über die Lippen gekommen. Dabei sollte es Scholz leichtfallen, mit der Russlandpolitik ehrlich ins Gericht zu gehen, gehörte er doch nie zu der Fraktion, die Nähe zu Putin zelebrierte. Scholz überlässt es dem SPD-Parteichef Klingbeil, die blinden Flecken und Fehler der SPD-Ostpolitik zu sezieren. Klingbeil tat dies in einer wegweisenden Rede am 18. Oktober. Er rief in Erinnerung, dass die Ostpolitik Willy Brandts auf Abschreckung durch eigene militärische Stärke fußte, was erst die Annäherung ermöglicht habe. Dass die Verteidigungsausgaben unter Brandt gestiegen sind, sei in jüngerer Zeit in Vergessenheit geraten. Klingbeil betonte, dass es ein Fehler der Ostpolitik gewesen sei, „zivilgesellschaftliche Gruppen, wie etwa die Solidarność in Polen, nicht in ihrem Kampf gegen die repressiven Regime zu unterstützen“. Der SPD-Vorsitzende räumte als einen blinden Fleck der Russlandpolitik ein, die „Interessen und Perspektiven“ der Länder Mittel- und Osteuropas nicht ausreichend berücksichtigt zu haben.

Das zu ändern, bleibt eine große Aufgabe nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern für das gesamte Land. Das setzt viel mehr Neugier und mehr Austausch voraus. Deutschland muss dabei nicht die in Polen oder den Staaten des Baltikums vorherrschenden Ansätze zum Umgang mit Russland (gerade mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine) übernehmen, es muss sich auch nicht von moralisierenden Lektionen provozieren lassen, aber es muss geduldig zuhören und den eigenen Ansatz ohne rechthaberischen Gestus vermitteln. Dies setzt auch eine neue Geschichtspolitik voraus, welche die von Timothy Snyder beschriebenen „Bloodlands“ – im Baltikum, in Polen, Belarus und in der Ukraine – ins Zentrum stellt, statt sich allein auf Russland zu fokussieren. Diese Perspektiv-Erweiterung zu verinnerlichen und umzusetzen, ist eine Generationenaufgabe.

Noch wenig vorangeschritten ist der Mentalitätswandel mit Blick auf die Rolle der USA für die europäische Sicherheit.

Noch wenig vorangeschritten ist der Mentalitätswandel mit Blick auf die Rolle der USA für die europäische Sicherheit. Die Reaktion auf Russlands Krieg hat gezeigt: Gegenwärtig ist europäische Sicherheit nicht ohne die Vereinigten Staaten denkbar. Die USA organisieren nicht nur einen Großteil der militärischen wie wirtschaftlichen Antworten auf Russlands Angriffskrieg. Sie sorgen auch dafür, dass die Allianz zusammenhält, und sind bereit, dafür einen Preis zu zahlen, wie etwa die Lieferung von Abrams-Panzern auf Bitten von Olaf Scholz, um den Weg für die Lieferung von Leopard-Panzern freizumachen und vor allem um ein großes Spaltungsthema zwischen Deutschland und einigen Verbündeten abzuräumen. 

Das Treffen des Bundeskanzlers mit dem US-Präsidenten im Weißen Haus an diesem Freitag wird viel transatlantische Wohligkeit versprühen, auch wenn Biden wirtschaftspolitisch Trumps America First mit klügeren Mitteln, aber großer Entschlossenheit fortführt. Doch diese Wohligkeit ist trügerisch. Biden ist der letzte klassische Transatlantiker im Weißen Haus. Einen wie ihn wird es niemals wieder geben. Auch im besten aller Fälle werden die USA von Europa fordern (und zwar mit definitiver Bestimmtheit), mehr für die eigene Sicherheit zu tun, damit sich die Vereinigten Staaten auf die Auseinandersetzung mit China im Indo-Pazifik fokussieren können. Und im schlechteren Fall wird es zu einer Fortsetzung einer Spielart des Trumpismus kommen, was zum Ende der Sicherheitsgarantien der USA für Europa führen könnte. Deutschland und Europa stünden dann nackt da. Und die Reaktion darauf muss die entschlossene Investition in eigene Fähigkeiten sein. Von einer mentalen Zeitwende hin zu einer entschlossenen Vorbereitung auf ein Europa, das nicht mehr unter dem Schutz des wohlmeinenden Großvaters Biden steht, ist jedoch bislang nichts zu spüren.

Wir sollten uns jeden Morgen ausmalen, wie es für Europa im Krieg gewesen wäre, wenn Trump eine zweite Amtszeit bekommen hätte.

In den ersten Wochen nach Putins Überfall war Deutschland von einer tiefen Angst ergriffen, dass Putin seinen Marsch nach Westen in Richtung NATO-Territorium fortsetzen würde und Deutschland dann blank dastünde. Diese Angst machte die 100 Milliarden Sondervermögen für die Ertüchtigung der Bundeswehr erst möglich. Doch die Entlarvung der Schwächen des russischen Militärs sowie das kriegspolitische Rundum-sorglos-Paket der Biden-Regierung führten dazu, dass Deutschland die Angst angesichts der eigenen Verteidigungsfähigkeit wieder weitgehend verlor. In den letzten Monaten dominierte stattdessen eher die Angst vor der Eskalation des Kriegs in Folge einer zu forschen Unterstützung der Ukraine. Dieser Angst kann man glücklicherweise durch bedächtiges Vorgehen Rechnung tragen, was dem deutschen Apparat nicht sonderlich schwerfiel. Statt des nötigen „Deutschland-Tempos“ bei der Ertüchtigung der Bundeswehr, das sich am Bau der LNG-Terminals an der Küste orientiert, dominiert, in den Worten Carlo Masalas, ein Zeitlupentempo. „Das System“, so Masala, ist „wieder in seine alte bürokratische Lethargie zurückgefallen“.

Das liegt auch an einer nicht vollzogenen mentalen Zeitenwende mit Blick auf die Rolle der USA. Wir sollten uns jeden Morgen ausmalen, wie es für Europa im Krieg gewesen wäre, wenn Trump eine zweite Amtszeit bekommen hätte. Und mit Angstschweiß die Jahre der Biden-Regierung als ein Geschenk begreifen, das wir nutzen müssen, um mit Hochdruck in eigene Fähigkeiten zu investieren und dabei den Schalter zum Deutschland-Tempo umzulegen. Das setzt auch voraus, dass wir schrittweise unseren nuklearen IQ erhöhen und uns der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron angestoßenen Debatte um eine mögliche Europäisierung der französischen Nuklearwaffenfähigkeiten nicht entziehen, so ungemütlich das Thema auch ist.

Die mentale Zeitenwende muss über die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung hinausgehen im Sinne der „globalen Zeitenwende“, die der Bundeskanzler in einem Beitrag in Foreign Affairs beschrieben hat. Mit Blick auf die sehr unterschiedlichen Länder, die gern unter dem Begriff des „Globalen Südens“ zusammengeworfen werden, ist der Kanzler mit seiner mentalen Zeitenwende weiter als die meisten im Lande. Scholz diagnostiziert sehr richtig, dass die Welt des 21. Jahrhunderts eine multipolare sein wird, in der die großen nichtwestlichen Länder wie Indien, Brasilien, Nigeria, Indonesien ein großes Wort mitreden werden und sich nicht einfach in eine Blockkonfrontation zwischen den USA auf der einen und China (und Russland) auf der anderen Seite einreihen werden. Deshalb ist es wichtig, viel mehr in die Beziehungen zu diesen Ländern zu investieren, und es war kein Zufall, dass der Kanzler am Jahrestag der Zeitenwende-Rede frisch von einem Indien-Besuch zurückkam.

Weniger klar sind die Signale mit Blick auf China, die andere autoritäre Großmacht, die zudem mit Moskau eine immer engere Partnerschaft pflegt. Welche Lehren ziehen wir aus dem Scheitern des „Wandels durch Handel“ mit Russland für die Abhängigkeiten von China? Niemand fordert ernsthaft eine komplette Entkopplung. Doch die Abhängigkeiten von China, die weit komplexer sind als die von Russland (nicht zuletzt bei den Kerntechnologien der Energiewende), erfordern entschlossenes Handeln. Ebenso dringlich ist ein Umdenken mit Blick auf den Taiwan-Konflikt und einen möglichen Krieg zwischen Taiwan, China und den USA. Diesen Krieg, der noch weitaus größere Auswirkungen hätte als der derzeitige, müssen wir mit aller Macht zu verhindern suchen. Die einzige tragfähige friedenspolitische Strategie zur Verhinderung dieses Krieges ist die entschlossene Abschreckung Pekings – der Status quo darf nicht mit Gewalt verändert werden. Hierzu bedarf es einer Beschleunigung des chinapolitischen Umdenkens – der Lackmustest der mentalen Zeitenwende. Wenn wir damit erfolgreich sind, erspart uns das dann auch die Suche nach einer Vokabel, um den Epochenbruch nach einem Krieg zwischen China und den USA zu beschreiben.

Thorsten Benner ist Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.

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