Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Franzobel © Julia Haimburger

Franzobel beweist mit seinem neuesten Roman wieder, mit welch bemerkenswerter Beobachtungsgabe er die Motive und Emotionen der Protagonisten geschichtlicher Ereignisse in Ausnahmesituationen darzustellen vermag.

Der ruhmsüchtige Robert Peary ist Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts besessen vom Nordpol. Von einem seiner Aufenthalte in Grönland bringt er einige Inuit nach New York, um sie dort der „Forschung“, der Sensationsgier von Medien und Bevölkerung und schließlich, nachdem er sie zu seinem Zweck ausgeschlachtet hatte, ihrem Schicksal zu überlassen. Fremde Völker im Zoo auszustellen, war gängige Praxis.

Franzobel versucht, die amerikanische Gesellschaft mit den Augen eines Inuit zu beurteilen. Die allgemeine Einstellung zu Menschen, denen man sich haushoch überlegen fühlte, ist zutreffend geschildert. Beide Seiten wähnen ihr Gegenüber unzivilisiert, weil man die eigene Gesellschaft für das Maß aller Dinge betrachtete. Dass in jedem Landstrich ein anderes Verhalten zum Überleben zweckmäßig sein könnte, lag jenseits der Vorstellungskraft.

Bis auf den Jungen Minik sterben die Inuit an Tuberkulose und ihre Skelette landen in Museen. Nach zwölf Jahren, in denen Minik in der Familie eines Museumsangestellten lebt, hat er die Sprache und Sitten seines Volkes vergessen. Nun sitzt er mit seinen Erinnerungen zwischen allen Stühlen. Als er seinem Heimweh folgt und seine Heimat erreicht, scheitert der Außenseiter und wird von Landsleuten nicht mehr für voll genommen.

Der Autor hat sich von Ethnologen zu den Sitten und Gebräuchen der grönlandischen Inuit beraten lassen, ihm wurde Sekundärliteratur zugänglich gemacht. Er war in Grönland mit einem Nachfahren Pearys unterwegs, suchte Plätze auf in Neufundland und Kanada, wo Minik lebte, und kann die Gewaltmärsche durchs Eis sehr abwechslungsreich und plastisch beschreiben.

Der durchgängig schnodderige Stil des ganzen Textes unterstreicht zwar die Absurdität des Unternehmens „Wettlauf zum Nordpol“. Was den Leser allerdings immer wieder stutzig macht, sind die Redewendungen, Wörter oder Gedanken im Wortschatz des 21. Jahrhunderts. Meint Franzobel, damit heutige Leser eher abzuholen? In dieser Art und Weise haben die Zeitgenossen garantiert nicht gedacht. Auch in Anbetracht der tragischen Entfremdung Miniks wirkt die Flapsigkeit stellenweise fehl am Platze. Möglicherweise steckt die Absicht dahinter, damit Distanz zum Geschehen zu schaffen.

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Arthur-Schnitzler-Preis, den Nicolas-Born-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane »Das Floß der Medusa« (2017), »Die Eroberung Amerikas« (2021), »Einsteins Hirn« (2023) und »Hundert Wörter für Schnee« (2025).

 

Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

Erscheinungsdatum: 18.02.2025
528 Seiten
Zsolnay
Hardcover
ISBN 978-3-552-07543-6
Deutschland: 28,00 €
Österreich: 28,80 €

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