von Günter Müchler

Günter Müchler

Man hat es schon fast vergessen. Die Drei von der Ampel starteten mit einem hochtönenden Versprechen. Eine Koalition des Fortschritts wollten sie sein. Was draus wurde, ist bekannt. Ihr Auftritt endete weit vor den vereinbarten vier Jahren. Die Regierung Scholz warf das Handtuch nach technischem K.O. und bescherte Deutschland in Zeitumständen, in denen der Bedarf an Führung weit über normal liegt, ein langes, bitteres Interim. Die Neuen, die jetzt übernehmen, bemühen sich erst gar nicht um deklamatorische Höhenflüge. Sie wissen warum. Was auch immer kommt, die schwarz-rote Regierung wird ihre Meriten in den Mühen der Ebene erwerben müssen, dort, wo nur Leistung zählt. Die Menschen erwarten von ihr kein Wortgeklingel, sondern Veränderungsmut und Tatkraft. Sie wären zufrieden, ginge die Regierung am Ende ihrer Tage mit dem schlichten Titel in die Annalen ein: Koalition der Arbeit.

Schon die alte Regierung unter Olaf Scholz war um das Maß ihrer Aufgaben nicht zu beneiden. Der russische Überfall auf die Ukraine ließ viel von dem, was sie sich vorgenommen hatte, Makulatur werden. Die Herausforderungen, vor der die neue Regierung unter Friedrich Merz steht, sind durch die Wirrnisse der Präsidentschaft Trump noch einmal gewachsen. Dank der gemeinsamen Anstrengungen von Putin und Trump sind wir weltpolitisch in eine Periode eingetreten, die man nur als Weltunordnung bezeichnen kann, weil in ihr das gegebene Wort nichts mehr zählt und die Herrschaft des Rechts durch das Recht des Stärkeren unterminiert wird. Wir ahnen, dass diese Periode nicht so schnell vorüber sein wird. „Es ist leichter, ein Aquarium in Fischsuppe zu verwandeln als umgekehrt“. Das Wort stammt vom ehemaligen polnischen Staatspräsidenten Walesa.

Merz hat die Wochen des Verhandlungsmarathons in einer auf Beschönigung verzichtenden Weise bilanziert. Es sei keine Euphorie aufgekommen, erklärte er. Das ist wohl wahr. Der Start war holprig. Der Strauß der Vorschusslorbeeren, der nach dem diffusen Wahlergebnis vom Februar überschaubar war, ist nicht größer geworden. Aber wie immer kommt es auf das Auge des Betrachters an. Die Verhandlungen von Union und SPD wurden von Durchstechereien nicht getrübt, Ostern, das selbstgesetzte Zeitziel, wurde nur knapp verfehlt, und das Mitgliedervotum der Sozialdemokraten fiel eindeutiger aus als von vielen vermutet.

Für eine Arbeitskoalition haben der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz und sein Stellvertreter und Bundesfinanzminister Lars Klingbeil ein passenden Profil. Weder der eine noch der andere ist ein Charismatiker. Führungswillen haben beide. Davon, wie sie ihre Rollen ausbalancieren, wird viel für das Gelingen des Bündnisses abhängen. Von Klingbeil erwartet die Gefolgschaft, dass er dem historischen Niedergang der SPD ein Ende setzt. Merz steht in der Pflicht, ohne Übertreibung aber doch unmissverständlich zu zeigen, dass die Regierung eine unionsgeführte ist.

Die Prioritäten, die schwarz-rot setzen will, sind einigermaßen klar und lassen sich bei gutem Willen auch aus dem Koalitionsvertrag ablesen. Wirtschaft, Europa, Verteidigung bilden die Trias der Hauptaufgaben, über die, bei mancherlei Unschärfen im Einzelnen, Einigkeit besteht. Die Wirtschaftskräfte sollen durch Steuererleichterungen und Bürokratieabbau entfesselt werden. Das gigantische Sondervermögen für die Verbesserung der maroden Infrastruktur soll die Beschäftigung ankurbeln. Die Wirtschaftsverbände haben bereits billigend den Daumen gehoben. Für sie bewegt sich der Tanker in die richtige Richtung. Die Gewerkschaften werden nicht auf die Barrikaden gehen. Eine Deindustrialisierung Deutschlands liegt nicht in ihrem Interesse.

Mit gespannter Aufmerksamkeit blicken die europäischen Nachbarn auf die Großbaustelle Berlin. Hoch sind die Erwartungen in den östlichen Hauptstädten, besonders aber in Paris. Die Signale, die aus dem Élysée kommen, sind geradezu überschwänglich, obwohl noch gar nichts passiert ist. Die Erklärung des Überschwangs liegt darin, dass in den vielen zurückliegenden Jahren, in der Ära Merkel wie auch in der Kanzlerschaft Scholz, eben gar nichts passiert ist. Man muss es so klar sagen: Für die deutsch-französische Partnerschaft wie für den Weiterbau des Vereinten Europa war das Vierteljahrhundert seit Helmut Kohls Abschied vertane Zeit.

Die Hoffnungen auf Merz sind nicht unbegründet, obwohl auch für die Europapolitik gilt: An ihren Taten sollt ihr sie messen. Administrativ hat Merz bemerkenswerte Akzente gesetzt. Zum ersten Mal seit unvordenklichen Zeiten ist das Außenministerium wieder bei der Union. Thorsten Frei, Chef des Kanzleramts, ist ein überzeugter Europäer. Für die Abteilung 5 im Kanzleramt, die Europaabteilung, hat Merz mit Michael Clauß einen erfahrenen Diplomaten gewonnen. Merz selbst ist vom Herkommen Atlantiker. Er wird bewahren wollen, was aus 75 Jahren transatlantischer Partnerschaft zu retten ist. Aber Merz weiß eben auch, dass die USA selbst dann nicht mehr die sichere Bank für bequeme Europäer sein werden, wenn der Präsident anders heißt als Trump.

Von einer fälligen Neugründung Europas zu sprechen, ist nicht zu hoch gegriffen. Adenauer; Schumann, Monnet, Spaak, de Gasperi und die übrigen, die nach 1945 als erste die Kelle am Bau Europas in die Hand nahmen, suchten den geeigneten Mörtel richtigerweise in der ökonomischen Zusammenarbeit. Obwohl sich seither eine Menge geändert hat, ist der politische Arm Europas noch immer notleidend. Die Lähmung kann nur durch eine Großoperation überwunden werden: durch die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips. Wissen tun es alle, sagen tut es im Moment noch keiner. Dabei führt der Weg zu einer Autonomie Europas nur durch dieses Nadelöhr.

Zur Autonomie Europas gehört die Aufrüstung. Interessant ist eine Äußerung, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich des kürzlichen NATO-Jubiläums machte. „Ein schlecht gerüstetes Deutschland“, sagte er, „ist heute die größere Gefahr für Europa als ein stark gerüstetes“. Das Wort hat Gewicht nicht nur weil Steinmeier der erste Mann im Staate ist. Steinmeier gehörte bekanntlich lange zum Inkassobüro für Friedensdividende und segelte als Außenminister allzu lange auf Appeasement-Kurs gegenüber Putin. Sein Wort macht deutlich, dass die realistische Weltsicht in der SPD langsam aber unverkennbar vorankommt. Dafür stehen auch die Namen Klingbeil und Pistorius. Falls Merz die Aktivierung der Wehrpflicht auf die Tagesordnung setzt, woran im Grunde kein Weg vorbeiführt, findet er hier Ansatzpunkte.

Messen wird man die künftige Bundesregierung nicht nur an gouvernementalen Entscheidungen, sondern auch an der Art und Weise, wie sie die Bevölkerung einbezieht. Die Wirtschaft wird nicht auf die Füße kommen, wenn das Misstrauen gegen alles, was mit Unternehmertum zu tun hat, anhält. Dieses Misstrauen wird, gepaart mit Unwissen und Desinteresse, in Teilen der Gesellschaft und der Medien sorgsam gepflegt. Im grünen Milieu gilt es als höherwertig, über die Verkehrswege von Wanderkröten Bescheid zu wissen als über Soll und Haben. Kirchenvertreter und Sprecher der ungezählten (und ungewählten) Nichtregierungsorganisationen predigen gute Werke, was keinen Tadel verdient. Nur wird leider allzu oft vergessen, dass die meisten guten Werke Wunschträume bleiben, solange sie nicht finanziert werden können. Eine schwächelnde Wirtschaft bedeutet sinkende Steuereinnahmen, bedeutet wachsende Arbeitslosigkeit und fördert den Rostfraß am Sozialstaat.

Politik wirkt auf den Zeitgeist ein und wird von diesem wieder vorangetrieben. Dass gearbeitet werden muss, ist im Bewusstsein vieler nur theoretisch verankert. In der Praxis gilt derjenige als smart, der Arbeit auf virtuose Weise zu umkurven versteht. Agenturen für Lebensgestaltung und Befindlichkeit versprühen Tipps für eine optimale Work-live-balance und nennen Schleichwege für die Frühverrentung. Die Arbeitszeitkonten deutscher Arbeitnehmer sind schmaler als die ihrer Kollegen in den meisten europäischen Nachbarstaaten, die Inanspruchnahme von Teilzeit liegt über dem Schnitt. Dessen ungeachtet ist das Lamento über fehlende Arbeitskräfte riesengroß und die Sorge allgemein, dass die Rente spätestens für die nächste Generation nicht mehr sicher ist, schon allein wegen der Altersentwicklung. Doch wer glaubt, auf den 140 Seiten des Koalitionsvertrags fände sich das Wort Demographie nur ein einziges Mal, täuscht sich.

Der Wille zur Veränderung, der der neuen Regierung abverlangt wird, muss auch die langen Linien gesellschaftlicher Grundströmungen ins Visier nehmen, die dem Wandel entgegenstehen. Gewiss, es gibt drängendere Probleme als die Exzentrik des Stammesegoismus (Identitätspolitik) und die Quälerei der Gendersprache. Aber wer zu Recht über die Spaltung der Gesellschaft klagt, darf daran nicht vorbeigehen. Die Union hatte sich vorgenommen, die (geschriebene) Gendersprache überall dort zu verbieten, wo der Staat in Erscheinung tritt. Davon ist mittlerweile kaum noch die Rede. Warum? Hier könnte die Regierung sogar Sympathiepunkte sammeln, denn 80 Prozent der Bevölkerung sind gegen das „Gendern“, Männer wie Frauen.

Die Merz-Regierung verdient eine Chance. Sie wird eine Regierung im Ausnahmezustand sein und auch deshalb Fehler machen. Mancher Kegel, der dringend abgeräumt gehörte, wird stehen bleiben. Aufgaben werden zu Daueraufgaben werden, einfach weil sie Geduld brauchen. Man denke nur an die Ertüchtigung Europas. Für vieles wird man Verständnis aufbringen, solange Mut und Zielstrebigkeit erkennbar bleiben. Die Arbeitskoalition ist zu Erfolg verpflichtet. Sie darf nicht scheitern. Andernfalls wird es finster in Deutschland.

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