72 Prozent der Weltbevölkerung leben in Autokratien. Um die Demokratie zu stärken, braucht es eine klare Strategie.

Die USA haben als Bollwerk der Demokratie an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Gelingt es Joe Biden dennoch, die Führungsrolle zu übernehmen?

Den Aktivistinnen und Aktivisten in der Republik Georgien ist etwas Bemerkenswertes gelungen: Sie haben ihre junge Demokratie mit ihrem friedlichen Protest davor bewahrt, in eine autoritäre Herrschaft abzudriften. Statt ein Gesetz nach russischem Vorbild zu akzeptieren, mit dem die Regierung die Zivilgesellschaft hätte zerschlagen können, schlossen junge Menschen und gestandene Leute, die sich noch daran erinnern, was es einst bedeutete, die sowjetische Vorherrschaft abzuschütteln, sich zu einer Koalition zusammen. Einige Tage vor Beginn der Proteste saß ich in Tiflis mit der langjährigen pro-demokratischen Aktivistin Nino Evgenidze zusammen. Sie sagte mir: „Wir werden nicht klein beigeben.“ Und sie haben nicht klein beigegeben.

Georgien hat eine machtvolle Geschichte – nicht weil es ein so einzigartiges Land ist, sondern weil die Herausforderungen, mit denen die Protestierenden konfrontiert sind, dermaßen zur Normalität geworden sind. Nachdem in den 1990er Jahren die gewaltige globale Demokratisierungswelle ihren Höhepunkt erreicht hatte, hat die Freiheit auf der ganzen Welt schwere Rückschläge erlitten. Laut dem Bericht 2023 Freedom in the World befinden wir uns jetzt schon seit 17 Jahren in einer anhaltenden globalen Rückwärtsentwicklung.

Keine Region blieb verschont: Millionen Bürgerinnen und Bürger in Amerika, Europa, Asien und Afrika haben grundlegende politische und bürgerliche Rechte verloren. Nach Angaben des V-DEM-Forschungsinstituts (Varieties of Democracy) leben inzwischen 72 Prozent der Weltbevölkerung in Autokratien, so viele wie seit 1986 nicht mehr. Auch wenn die konkreten Umstände von Land zu Land unterschiedlich sind (zunehmende Unterdrückung und Aggression, Ungleichheit, Klima, Technologie), ist eines unverkennbar: Die Demokratie steckt in der Krise. 

Was muss getan werden, um diese Entwicklung aufzuhalten und den Abbau von Rechten und Freiheiten in der ganzen Welt zu stoppen? US-Präsident Biden hat diese Frage als „die entscheidende Herausforderung unserer Zeit“ bezeichnet. Es ist nicht das erste Mal, dass wir vor einer solchen Herausforderung stehen: In den beiden Jahrzehnten vor Bidens Geburt im Jahr 1942 hatte die Zahl der Demokratien sich weltweit halbiert. Tun die Vereinigten Staaten und ihre demokratischen Verbündeten in der heutigen Zeit des Niedergangs genug, um dieser massiven Bedrohung zu begegnen?

Wir bekämpfen noch immer einen Waldbrand mit einer Eimerkette.

Zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Biden fällt die Bilanz durchwachsen aus. In der letzten Woche lud das Weiße Haus zum zweiten Mal zu einem Gipfel für Demokratie ein, nachdem 2021 schon einmal führende Politikerinnen und Politiker aus aller Welt sich virtuell getroffen hatten, um über die Widerstandsfähigkeit der Demokratie zu diskutieren. Bei diesen Gipfeltreffen wurden wichtige neue Initiativen angestoßen, mit denen zum Beispiel die unabhängigen Medien und die Bekämpfung der Kleptokratie stärker unterstützt werden sollen. Besonders vielversprechend ist eine neue Initiative der USAID (United States Agency for International Development) mit dem Namen Bright Spots. Sie soll gezielt zusätzliche Mittel für Länder bereitstellen, die einen demokratischen Transformationsprozess durchmachen.

Ermutigend ist, dass diese neuen Investitionen durch diplomatische Bemühungen flankiert werden, um demokratische Akteure in Anbetracht der globalen Probleme auf den gleichen Wissensstand zu bringen – vor allem was Russland und die Ukraine sowie die Bedeutung der Technologien im erstarkenden Autoritarismus betrifft. Insgesamt führen diese Bemühungen dazu, dass die Befürworter der liberalen Demokratie über ein besseres Instrumentarium verfügen und sich eine Gruppe von Verbündeten formiert, die bereit und in der Lage ist, dieses Instrumentarium auch zu nutzen.

Doch angesichts der massiven Rückschritte und der Tatsache, dass Xi Jinping und Wladimir Putin dabei sind, eine globale autoritäre Achse zu bilden, bekämpfen wir noch immer einen Waldbrand mit einer Eimerkette. Auf strategischer Ebene müssen wir erst noch eine Vision der Veränderung entwerfen – oder eine überzeugende These aufstellen, die erklärt, warum die genannten Schritte in der Summe den Wandel, den wir anstreben, herbeiführen werden. Es gibt auch kaum Anzeichen für die anspruchsvolle taktisch politische, steuerliche oder bürokratische Neuausrichtung – andere Finanzierungsprioritäten, Personalentscheidungen für hochrangige Schlüsselpositionen, Direktiven des Präsidenten –, die es braucht, um den Fokus zu schärfen und die Ressourcen für einen grundlegenden Wandel bereitzustellen.

Die Besorgnis der USA über den Niedergang der Demokratie rührt nicht nur von der amerikanischen Grundüberzeugung her, dass alle Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem Glauben oder ihrem Land das Recht auf Freiheit, Demokratie und grundlegende Würde haben. Diese Sorge erwächst auch aus der Erkenntnis, dass die anderen wichtigen Dinge, die wir uns für uns selbst wünschen – Sicherheit, Wohlstand, einen bewohnbaren Planeten, öffentliche Gesundheit –, in hohem Maße von der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Nationen abhängen.

Länder mit einer rechenschaftspflichtigen Regierung, Rechtsstaatlichkeit und einer freien Presse sind die besseren und zuverlässigeren Partner.

Dies setzt zwar nicht unbedingt voraus, dass andere Länder liberale Demokratien sind, aber es ist doch hilfreich, wenn das der Fall ist: Länder mit einer rechenschaftspflichtigen Regierung, Rechtsstaatlichkeit und einer freien Presse sind die besseren und zuverlässigeren Partner. Nationen, die bei ihren Nachbarn einmarschieren, den Ausbruch von Krankheiten verheimlichen, Minderheiten versklaven, Märkte manipulieren, die Umwelt verschmutzen und ihre Bevölkerung durch Umweltschäden belasten, ohne dass diese protestieren kann, sägen hingegen an den Grundlagen unseres gemeinsamen Erfolgs.

Zunächst einmal brauchen die Vereinigten Staaten eine umfassende nationale Demokratiestrategie, die auf der Höhe der Zeit ist. Eine solche Strategie sollte zuallererst die menschlichen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Kosten einschätzen, die entstehen, wenn die Demokratie und der Autoritarismus sich zurückentwickeln oder auf dem Vormarsch sind. Die systemischen Auswirkungen und Kosten durch Krisen im öffentlichen Gesundheitswesen, durch Klimawandel und Diskriminierung zu erfassen, ist für die Politik und die Interessenvertretung von enormem Wert.

Wir wissen, dass ein Vormarsch des Autoritarismus (Krieg, Desinformation, vernichtetes menschliches Potenzial) oder gescheiterte Staaten (Flüchtlinge, Hungersnöte, regionale Destabilisierung) enorme Kosten verursachen. Aber wenn wir nicht wenigstens versuchen, diese Kosten zu berechnen, können wir sie nicht in unsere langfristigen Überlegungen einbeziehen. Um eine Bestandsaufnahme der Fakten und Erwartungen zu machen, sollte das Weiße Haus ein National Intelligence Estimate (NIE) in Auftrag geben, um den weltweiten Zustand der Demokratie, die Ursachen für ihren Niedergang und dessen sicherheitspolitische und wirtschaftliche Auswirkungen auf die USA zu bewerten.

Zweitens muss die Strategie eine überzeugende Theorie des Wandels liefern. Statt an vielen Stellen mit vielen Maßnahmen anzusetzen und das Ergebnis als Strategie zu deklarieren, brauchen wir eine faktenbasierte Aussage darüber, warum unsere neue Ausrichtung zu dem gewünschten Ergebnis führen wird. Mit anderen Worten: Welche Strategien, Maßnahmen und Investitionen haben das Potenzial, in welchem Zeitrahmen echte Veränderungen zu bewirken? Bei dieser Analyse sollten auch die Auswirkungen (externen Effekte) einer guten Regierungsführung auf die Umgebung berücksichtigt werden: Wenn sich das Blatt an einem Ort wendet, werden auch Veränderungen an einem anderen Ort wahrscheinlicher.

Allzu viele globale Entwicklungsinvestitionen scheinen sich nicht um Demokratie zu scheren

Wenn in Georgien ein Angriff auf die Zivilgesellschaft abgewehrt wird, entwickeln die demokratischen Bewegungen in unmittelbarer Nachbarschaft mehr Mut. Wenn in Brasilien nach den Wahlen ein Putsch verhindert wird, werden aufstrebende Autokraten in Südamerika sich zweimal überlegen, ob sie einen Putschversuch wagen. Wenn in Afghanistan die freie Presse erhalten bleibt, hat dies auch Auswirkungen auf den Iran und Zentralasien.

Deshalb sollten wir Entwicklung „demokratisch gestalten“. Allzu viele globale Entwicklungsinvestitionen scheinen sich nicht um Demokratie zu scheren, sondern konzentrieren sich stattdessen auf „Effektivität“ und „Bereitstellung“. Ein Beispiel sind die Milliardenbeträge, die in Uganda und Ruanda für die öffentliche Gesundheit  ausgegeben werden, während die Bürgerinnen und Bürger dort immer mehr ihre Grundrechte verlieren. Diese Herangehensweise verkennt die Dynamik der nachhaltigen Entwicklung und des demokratischen Wandels: Es sind immer die an vorderster Front kämpfenden Bürgerinnen und Bürger, die in ihren eigenen Gesellschaften Veränderungen herbeiführen. Solange die Veränderungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Regierungsführung nicht mit einer sinnvollen Bürgerbeteiligung und der Achtung der Rechte einhergehen, werden sie vermutlich nicht von Dauer sein.

Auch informierte und engagierte Bürgerinnen und Bürger sind ein starkes Bollwerk gegen erstarkende autoritäre Kräfte. Ausländische Hilfe hingegen stört allzu oft die Verantwortungsketten vor Ort, anstatt sie zu festigen, denn sie koppelt die politischen Entscheidungsträger von den Nutznießern ihrer Politik ab und macht sie stattdessen von ausländischen Geldgebern abhängig. Wir müssen unsere Wirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik so ausrichten, dass sie die demokratische Konsolidierung befördert und die Anfälligkeit für ungute Einflüsse verringert.

Schließlich müsste eine nationale Demokratiestrategie, die ernst genommen werden will, eine Reihe verlässlicher Zusagen beinhalten. Hier sollte Präsident Biden sich an der positiven Resonanz orientierten, die kürzlich dem 20 Jahre alten Notfallplan von Präsident George W. Bush zur AIDS-Bekämpfung zuteilwurde. Diese mutige Initiative trug dazu bei, dass ein weltweiter Schutzschirm zur Bekämpfung der AIDS-Epidemie aufgespannt werden konnte. Die Initiative war nicht nur wirkungsvoll – 25 Millionen Menschenleben konnten gerettet werden –, sondern hat dank enormer globaler Finanzzusagen, politischer Reformen und parteiübergreifender Zusammenarbeit Bestand. Die Stärke von Bushs Notfallplan liegt darin, dass das Programm mit den Ländern zusammenarbeitet, die vor den größten Herausforderungen stehen, dass es sich langfristig engagiert und auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht nimmt. Ein Notfallplan zur Unterstützung von Demokratien und demokratischen Bewegungen, die in Bedrängnis sind, könnte – mit einem großen Budget, vielen Partnern und einem Zeithorizont von 10 bis 20 Jahren – Ähnliches bewirken.

Wie bei der globalen Erwärmung könnten Tipping Points Länder und Regionen unumkehrbar ihrer Freiheit berauben.

Eine leichte Aufgabe wird das nicht. Denn die Vereinigten Staaten haben aus verschiedenen Gründen in der ganzen Welt an Glaubwürdigkeit als Bollwerk der Demokratie eingebüßt. Dadurch ist es für die USA viel schwieriger, die Führungsrolle wahrzunehmen und Verbündete oder erst recht sich sträubende Partner für sich zu gewinnen. Doch wenn wir von unserem Sockel gestoßen werden, kann das ironischerweise unsere Erfolgschancen erhöhen. Als ich zwischen 2013 und 2015 mit führenden chinesischen Experten für Auslandshilfe sprach, fiel mir ein entscheidendes Merkmal ihrer Weltanschauung besonders auf: China weiß, wie sich Entwicklung und Armutsbekämpfung wirklich anfühlen, weil es beides seit Jahrzehnten tagtäglich erlebt, und ist nach Ansicht der chinesischen Gesprächspartner genau deshalb ein guter Entwicklungspartner.

Die Vereinigten Staaten seien dagegen so weit weg von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realität einkommensschwacher Länder, dass sie keine guten Entwicklungspartner seien. Inzwischen steckt Amerika viel tiefer im Sumpf von Wahlverweigerung, Desinformation, Korruption und sogar politischer Gewalt als andere Länder. Dass wir solche Probleme unmittelbar an uns selbst erleben, sollte dazu führen, dass wir besser kommunizieren und reagieren und ein schärferes Dringlichkeitsbewusstsein entwickeln.

Die Alternative sieht düster aus. Ohne eine solide langfristige Strategie und Investitionen sind Fortschritte kaum zu erwarten. Wie bei der globalen Erwärmung könnten Tipping Points Länder und Regionen unumkehrbar – oder zumindest für eine sehr lange Zeit – ihrer Freiheit berauben. Die globale Abschottung – der unerbittliche und nachweisliche Niedergang offener Gesellschaften und der Abbau bürgerlicher und politischer Rechte auf der ganzen Welt – ist eine Tatsache.

Heute leben zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten mehr Menschen in unfreien oder eingeschränkt freien Gesellschaften als in liberalen Demokratien. Noch einige weitere autoritäre Machtübernahmen, Angriffskriege, Pandemien oder massive wirtschaftliche Störungen, und 2042 könnte sehr viel stärker dem Jahr 1942 gleichen, als wir es uns je hätten träumen lassen. Wenn wir jetzt keine Visionen entwickeln und uns nicht vorbereiten, wird diese deprimierende Zukunft immer wahrscheinlicher.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Alex Thier ist Senior Advisor bei dem weltweit tätigen Medien- und Bildungsunternehmen Moby Media und war Co-Direktor der parteiübergreifenden Task Force zur Unterstützung der Demokratie und Bekämpfung des Autoritarismus.

- ANZEIGE -