Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Mitunter hört man ihn noch – den Begriff „deutsche Tugenden“. Meistens, wenn die Fußball-Nationalmannschaft mal wieder ein schlechtes Spiel abgeliefert hat und zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz über 80 Millionen Experten (also nahezu die gesamte Bevölkerung) die Hände über den Köpfen zusammenschlagen. Ja, die Helden von damals, die Recken um Fritz Walter, Uwe Seeler, selbst noch um Lothar Matthäus – die gaben nie auf, sondern haben gekämpft und gerackert bis zur letzten Sekunde. Aber die heutigen Generationen, denen schon in jungen Jahren alles Unangenehme abgenommen wird… Wie sollen die denn zu Handeln wissen, falls es mal eng und schwierig wird in ihrem Leben?

Wie gesagt, wir alle kennen solche Diskussionen. Und zwar häufig auch dann, wenn es nicht bloß ums Kicken geht. Die „deutschen Tugenden“. Dahinter verbirgt sich ja keineswegs nur teutonisches  Selbstlob. Denn die beiden Worte sind auch im Ausland immer noch oft zu hören, wenn die Rede von „the germans“ oder „les allemands“ ist. Dazu gehören Fleiß, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Qualitätsbewusstsein, Disziplin, Sauberkeit, Bescheidenheit, manchmal (man mag es glauben oder nicht) sogar Toleranz und Humor. Alles positive Eigenschaften, keine Frage. Und so ist es auch nicht überraschend, dass selbst jetzt noch – Jahrzehnte später – die Geschwindigkeit beim Wiederaufbau des praktisch steht total zerstörten Landes nach 1945 und das damit verbundene „Wirtschaftswunder“ hauptsächlich mit diesen (vermeintlichen?) Wesensmerkmalen verknüpft werden. Selbstverständlich spielten damals auch viele andere Faktoren eine wesentliche Rolle. Aber die eigenen Leistungen , die individuellen wie die gesellschaftlichen,– waren fraglos groß.

Warum dieser, fast schon nostalgische, Blick in die Vergangenheit? Weil gerade in diesen Tagen der Internationale Währungsfonds (IWF) in seiner Wirtschaftsprognose das dieses Jahr in Deutschland zu erwartende Wachstum von (ohnehin nur geringen) 0,5 auf gar nur noch 0,2 (!) Prozent abgesenkt hat. Damit steht die „Berliner Republik“ in der Reihe der 7 wichtigsten westlichen Industrienationen an letzter Stelle. Mit anderen Worten – der traditionelle Motor für Europa, aber auch für das wirtschaftliche Geschehen weit darüber hinaus, ist nicht bloß ins Stottern geraten, sondern praktisch zum Stillstand gekommen. Natürlich sind die „Erklärer“ dafür schnell zur Stelle. Die Folgen der „Corona“-Pandemien, sagen sie, seien noch nicht ganz bewältigt. Auch der russische Überfall auf die Ukraine (mit dem Ende des billigen russischen Öls) und der neue Ausbruch von Gewalt im Nahen Osten spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Das ist, ohne Zweifel, alles richtig. Und wir lassen auch die äußeren Einflüsse nicht außer Acht. Dennoch: Wir registrieren in den Medien fast täglich jede Menge Unternehmenspleiten im Handel wie im verarbeitenden Gewerbe. Gleichzeitig klagt die Wirtschaft einhellig über einen dramatischen Fachkräftemangel. Den gibt es tatsächlich. Aber das hat natürlich Gründe.  Sie beginnen damit, dass in den Gymnasien noch immer praktisch nur das Studium (und nicht auch eine qualifizierte Ausbildung) als Ziel vorgegeben wird. Und sie enden noch lange nicht bei der  sträflichen,  politischen Unterlassung, rechtzeitig der bevorstehenden Pensionierungswelle der so genannten Baby-Boomer Rechnung getragen zu haben. Allein der Gedanke, welche Folgen damit für die Rentenkassen verbunden sind, lässt einem den Atem stocken.

Aber sind es denn wirklich immer nur „die Anderen“, die verantwortlich sind, wenn es in Germanien wieder einmal nicht rund läuft und sich im Land, wieder einmal, Weltuntergangs-Stimmung breitmacht. Man kann ja über die „Qualität“ der Berliner Migrations-Politik denken und urteilen wie man will – die deutsche Schlusslicht-Position beim Wirtschaftswachstum ist damit ganz gewiss nicht allein erklärt. Vielmehr wäre es höchste Zeit, sich einmal an die eigene – deutsche – Nase zu fassen. Dieses Land und unsere Gesellschaft waren (basierend auf der christlichen wie auch sozialdemokratischen Soziallehre) einmal auf dem so genannten Subsidiaritätsprinzip aufgebaut worden. Theoretisch gilt das auch heute noch. Theoretisch! Hinter dem Begriff verbirgt sich die einfache Formel, dass jeder und jede zunächst einmal selbst für sich und die Seinen verantwortlich ist. Allerdings (und nur dann) steht jenen die selbstverständliche Solidarität der Gemeinschaft zu, die nicht dazu in der Lage sind.

Dass Letzteres auf viele Mitbürger zutrifft, steht außer Frage. Indessen – nicht jeder (und jede) Unbeschäftigte hierzulande ist invalide und arbeitsunfähig. Die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder 2006 initiierte (und nicht zuletzt in seiner eigenen Partei  erbittert bekämpfte) Agenda 2010 führte in der Sozialgesetzgebung die Formel „Fördern und Fordern“ ein. Übersetzt heißt das: Anspruch auf staatliche Fördermöglichkeiten (durchaus auch Geld) hat nur, wer sich auch ernsthaft um eigene Arbeit bemüht. So richtig dieser Grundsatz ist – funktionieren tut seine Umsetzung bis heute nicht. Erstens gibt es für clevere Zeitgenossen genügend Schlupflöcher, um (mit eigenem Gewinn) den Maschendraht des Forderns zu überwinden. Und zweitens hat der Staat viel zu wenig Personal und Instrumente, um die Einhaltung seiner Gesetze zu kontrollieren und „Sünder“ zu bestrafen.

Doch, abgesehen von „Cleverles“ bis hin zu kriminellen Sozialbetrügern, stellt sich die Frage, ob und wie weit das Begreifen der wirklichen wirtschaftlichen Lage unseres Landes in unserer Gesellschaft bereits Platz gegriffen hat. Wer sich in der Welt umschaut, müsste doch eigentlich sehen, dass Leistungswille und Stolz darauf längst nicht mehr hier auf dem „alten Kontinent“ zu finden sind, sondern vor allem in den aufstrebenden (und erfolgreichen) südostasiatischen „Tiger“-Staaten wie etwa Süd-Korea und Vietnam. Im Deutschen Bundestag wie auch im Land draußen zerstreitet man sich stattdessen über das Recht (oder gar die Pflicht), die Sprache durch Sternchen und diverse Striche gender-mäßig zu verhunzen bzw. quasi nach Belieben Namen und Geschlechtszugehörigkeit zu wechseln. Und ob die partielle Freigabe der Droge Cannabis die wirtschaftliche Wachstumsschwäche entscheidend beheben kann, darf mit gutem Recht bezweifelt werden. Vor relativ kurzer Zeit herüber geschwappt von amerikanischen Elite-Unis, wird zudem im Lande von Goethe, Leibnitz und Beethoven mit Verve die offensichtlich dringlichst zu beantwortende Frage nach einer work/life-balance gewälzt. Also, wie man die wahrscheinlich leider doch nicht ganz zu vermeidende Arbeitsleistung mit einem Höchstmaß an Freizeit verbinden könnte. Kein Wunder daher, wenn Unternehmens-Personaler von Vorstellungsgesprächen berichten, in denen Schulabgänger gleich eingangs ernsthaft die Frage stellen, ob die Ausbildung nicht „in Teilzeit“ erfolgen könne.

Dazu eine Welle von Streiks, bei denen (Stichwort Lokführer oder Öffentlicher Nahverkehr) der Beobachter vielfach den Eindruck nicht los wird, dass es den jeweiligen “Häuptlingen” auf beiden Seiten gar nicht mehr um Kompromisse sowie gerechte Ausgleiche (und damit das Wohl des Ganzen) geht als vielmehr um persönliche Fehden. Und da ist, nicht zuletzt, die immer spürbarer werdende Neigung in der breiten Gesellschaft, für alle Vorgänge im Land immer mehr Verantwortung auf den Staat (“Die da oben”) abzuwälzen und gleichzeitig Leistungen einzufordern “Schließlich zahle ich ja Steuern!” Und: “Ein so reiches Land wie dieses, wird doch wohl…”  Was also ist hier los im Staate Deutschland? Problemverdrängung? Merken weite Teile der Zeitgenossen nicht, was um uns herum vor sich  geht? Ist das eine Art Tanz auf der „Titanic“, mit dem man das Leben genießen möchte, solange (egal, ob auf Pump und mit wachsenden Schulden) „der Staat“ die Renten zahlt und auch sonstige soziale Wohltaten ausschüttet? Anders gefragt: Was ist mit den immer noch so gern zitierten „deutschen Tugenden“ geschehen? Und zwar nicht bloß im Fußball. Sondern in der Gesellschaft insgesamt. Denn es ist nun einmal so und nicht zu ändern: Wir haben (nach dem bevorstehenden Ende der Kohle) keine Rohstoffe. Wir haben nur die Möglichkeit, möglichst viel Wissen und Bildung zu erwerben. Und unseren Bildungs-, Arbeits- und Gestaltungswillen. Sonst nichts.   

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

 

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