Das traditionelle Roggenbrot nimmt in Estland einen wichtigen Stellenwert ein. Viel mehr als nur ein Lebensmittel und beliebtes Souvenir ist es Teil der estnischen Geschichte sowie Gegenstand zahlreicher Mythen, Legenden und Sprichwörter.

Schwarzbrot mit Suppe © Johannes-Hoimoja

Esten und Deutsche haben vieles gemeinsam: Die EU-Mitgliedschaft, die Geschichte der Hanse, den Ursprung zahlreicher Wörter – und die Liebe zum Brot. Für beide Nationen ist das Brot eines der wichtigsten Nahrungsmittel überhaupt, das auf der Liste der Dinge, die bei Auslandsaufenthalten vermisst werden, ganz weit oben rangiert. In Estland ist Brot Synonym für das traditionelle Roggenbrot und steht sinnbildlich für Heimat, Liebe und Vaterland. Leib, das estnische Wort für Schwarzbrot, hat sich zum Sammelbegriff für sämtliche Speisen auf dem Tisch etabliert. So wünscht man sich in Estland „Jätku leiba“ – möge das Brot ausreichen. Und eine Mahlzeit ohne Brot ist in Estland keine ernstzunehmende Mahlzeit.
 
Seit über 1000 Jahren wird im nordischen Estland Roggen angebaut, bis heute ist das Getreide ein wichtiger Bestandteil der dortigen Landwirtschaft. Das Brot selbst ist dabei zentraler Bestandteil der estnischen Kultur, entsprechend viele Sprichwörter, Mythen und Bräuche ranken sich um die knusprige Leckerei. Fällt ein Stück Brot auf den Boden, muss es umgehend aufgehoben und geküsst werden, um eine Hungersnot zu vermeiden.  Auch darf Brot nicht mit der Kruste nach unten gelegt werden, sonst kommt der Hunger ins Haus. Wer hingegen die letzte Scheibe eines Brotlaibs bis Weihnachten aufhebt, kann sich auf eine gute Ernte freuen. Mädchen soll der Genuss von runden Brotenden sogar eine üppige Oberweite bescheren. Früher wie auch zunehmend heute haben die Menschen ihr Brot selbst gebacken, um sichergehen zu können, dass die Zutaten frisch, regional und von hoher Qualität sind. Es werden lediglich Wasser, Roggenmehl, Salz, Zucker und Sauerteig benötigt, Samen, Nüsse oder Früchte können nach Belieben hinzugefügt werden. Die wichtigsten Zutaten sind jedoch Liebe und Geduld – die Zubereitung des Brots dauert über 12 Stunden. Dennoch backen viele Esten täglich frisches Brot. Was es so besonders macht? Es ist kräftig, dicht und dunkel – wie eine tiefe Winternacht in Estland.

Peeter Pihel beim Brotbacken. © Renee Altrov

Die Tradition des Brotbackens war nie ganz abgerissen, drohte jedoch während der Sowjetzeit in Vergessenheit zu geraten. Heute sieht das ganz anders aus. Immer mehr Menschen in Estland entdecken die nationale Leckerei wieder, besorgen sich alte Rezepte und beginnen ihr eigenes „must leib“ zu Hause zu backen. In vielen Restaurants des Landes ist es mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, vor Ort gebackenes Roggenbrot als Amuse-Gueule mit Butter zu reichen oder ganze Gerichte rund um das Brot zu kreieren. Das Brot ist so lecker, dass man dazu neigt, sich bereits vor dem Hauptgang daran satt zu essen – also Vorsicht! Wenn Sie im Laufe der Vorspeise „Blut geleckt“ haben, fragen Sie besser, ob Sie nach dem Essen eines der Brote kaufen und mitnehmen können. In vielen Restaurants ist das möglich.

Brot backen. © Renee Altrov

Das Brot ist für die Esten sogar von so großer Bedeutung, dass jedes Jahr Mitte September der Tag des Brots gefeiert wird. Von der Ernte des Getreides über die Zubereitung bis hin zu einer Verkostung können die Gäste alles rund um das Laib des Glücks lernen. In diesem Jahr wird der „Tag des Brots“ im Rahmen eines Herbstmarktes im Estonian Open Air Museum am 15. September begangen.
 
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Dichte an Bäckereien im ganzen Land riesig ist. In Tallinn sind beispielsweise die Røst-Bäckerei mit skandinavischen Einflüssen, die Bäckerei und Metzgerei Kotzebue, die vor allem für ihr Sauerteiggebäck berühmt ist  oder die Bäckerei Karjase Saibesonders empfehlenswert. In Tartu stellt die Familienbäckerei Saiasahwerneben Brot auch köstliches Gebäck her, während im Cafe Leivakas in Pärnu außer Brot auch Pizza aus dem Ofen kommt. Ein absolutes Muss ist ein Abstecher in die Heimat des berühmten Muhu Leibs auf der gleichnamigen Insel.
 
Wer sich nicht mit einem Laib als Souvenir begnügen möchte, kann die hohe Kunst des estnischen Brotbackens selbst erlernen. Interessante Führungen und Workshops werden im ganzen Land angeboten. Spannende Einblicke bietet beispielsweise ein Besuch der letzten noch funktionierenden Wassermühle in Estland. Ist die Mühle erst einmal in Gang gesetzt, können die Teilnehmer unter fachkundiger Anleitung Brot backen wie anno dazumal, und ihr noch warmes Werk anschließend mitnehmen. Auch in der Backstube Nõva im gleichnamigen Ort sowie am Ufer des Peipussees können Brotliebhaber im Rahmen von Workshops in die estnische Backkunst eintauchen.

Rezept: Schwarzbrot aus Estland
Zutaten für den Sauerteig:

240 g Roggenvollkornmehl
240 ml Wasser
30 g Roggenanstellgut

Zutaten für den Vorteig 1:
360 g Roggenvollkornmehl
390 ml heißes Wasser
12 g Salz

Zutaten für den Vorteig 2:
60 g Kürbiskerne
80 g Sonnenblumenkerne
10 g Salz
150 ml heißes Wasser

Zutaten für den Hauptteig:
260 g Weizenvollkornmehl
15 g Hefe
3 Teelöffel Röstmalz
4 EL Zuckerrübensirup
3 Teelöffel Kümmelsamen

Zum Bestreichen:
8 g Kartoffelstärke
15 g Butter

Zubereitung:
Roggenmehl, Wasser und Anstellgut vom Roggensauer mischen und für 17 Stunden zu einem schönen Sauerteig reifen lassen. Roggenvollkornmehl mit heißem Wasser und Salz mischen und 17 Stunden stehen lassen. Kürbis- und Sonnenblumenkerne mit heißem Wasser übergießen oder noch besser kurz aufkochen lassen. Salz hinzugeben und ebenfalls 17 Stunden durchziehen lassen

Alle drei Töpfe zusammenschütten und alle anderen Hauptteigzutaten zugegeben. Mit einem Handrührgerät und Knethaken etwa acht Minuten gründlich mischen. Den Teig in der Schüssel 30 Minuten gehen lassen. Zwei Backformen (22x11x6 cm) oder eine große Backform mit Butter einfetten. Den Teig mit einem Gummischaber in die Formen geben. Mit etwas Wasser glattstreichen und gegebenenfalls ein Muster einarbeiten. Dann in den Formen 70 bis 80 Minuten gehen lassen.

Den Backofen vorheizen auf 250°C. Auf den Boden des Backofens eine Pfanne stellen. Auf das Backblech ein Backpapier geben und mit einem Sieb die Kartoffelstärke darauf verteilen. Sobald sich die Kartoffelstärke leicht braun verfärbt, ist sie fertig. Das Backpapier jetzt wieder aus dem heißen Ofen nehmen. Die Brote in den Formen kurz mit Wasser bestreichen und in den heißen Ofen geben und sofort ein Glas Wasser in die heiße Pfanne gießen. Das Brot etwa eine Stunde backen. Die ersten zehn Minuten mit viel Dampf bei 230°C. Dann den Dampf durch Öffnen der Backofentür ablassen. Nach weiteren zehn Minuten die Temperatur auf 190°C reduzieren.

Jetzt die sogenannte Glanzstreiche anmischen. Dazu die geröstete Kartoffelstärke mit kaltem Wasser anrühren und dann kurz aufkochen lassen. Das Brot ist fertig, wenn es eine Innentemperatur von mindestens 98°C hat. Jetzt mit der Glanzstreiche kurz einpinseln und auf einem Gitterrost abkühlen lassen.

Am besten einen Tag warten, bevor das Brot angeschnitten wird.

 

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