Joachim B. Schmidt: Am Tisch sitzt ein Soldat
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Joachim B. Schmidt: Am Tisch sitzt ein Soldat
Der nach Island ausgewanderte Schweizer Autor Joachim B. Schmidt veröffentlichte den Roman über einen Heimkehrer 2014. Der Bauernsohn Jón studiert in Hamburg um 1967 Medizin, eine Möglichkeit der beklemmenden Enge der Insel zu entfliehen. Da ruft ihn ein Brief seiner wortkargen Tante Rosa ans Sterbebett seiner Mutter. Auf dem abgeschiedenen elterlichen Hof im Hinterland der Mývatnssveit vereinnahmen ihn die Geister seiner Kindheit, denn dort trifft er auf seinen Bruder, der einen Hirnschaden hat.
Der Roman reiht sich am ehesten ins Genre Familiengeschichte ein. Ein rätselhafter Hinweis der sterbenden Mutter führt zur Entdeckung zweier Toter, die im Garten begraben liegen. Wer sind die? Haben sie etwas mit dem Flugzeug der Nazis zu tun? Jóns Großvater hat den abgestürzten deutschen Soldaten 1942 eigenhändig aus dem brennenden Wrack befreit und diesen dann anschließend am Küchentisch mit selbstgebranntem Schnaps abgefüllt, bevor er ihn den Amerikanern ausgeliefert hat. Das Wrack liegt immer noch im Garten. Bald verschwand damals Jons Vater, angeblich sei er bei einem Sturm im Fluss ertrunken. Seine Leiche wurde nie gefunden. Nun geht Jon, der vermutet seit Jahrzehnten belogen worden zu sein, dem Familiengeheimnis auf die Spur. Die Mauer des Schweigens bröckelt. Die Konfrontation mit seiner eigenen Kindheit, dem anhänglichen Bruder und alten Weggefährten rühren unterdrückte Erinnerungen, Schuldgefühle und enttäuschte Erwartungen auf.
Das Buch vermittelt eine eigenartig stille Stimmung, die Spannung hält sich in Grenzen und das Ende wirkt etwas abrupt an Haaren herbeigezogen, aber im Kopf entsteht ein plastisches Bild von der isländischen Gesellschaft und Umgebung. Breiten Raum nimmt die Schilderung isländischer Natur und Atmosphäre ein, die in ihrer Wildheit und Unberechenbarkeit die Stimmungen des Protagonisten widerspiegelt.
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane ›Tell‹ und ›Kalmann‹ waren Bestseller; mit ›Kalmann‹ erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. ›Tell‹ war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste und erhielt den Bündner Literaturpreis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.
Diogenes Verlag AG
Taschenbuch
320 Seiten
erschienen am 23. August 2023
978-3-257-24689-6
€ (D) 14.00 / sFr 19.00* / € (A) 14.40
* unverb. Preisempfehlung
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