Wohlstandsverwöhnt und angstgepeinigt
Von Gisbert Kuhn

Im nächsten Jahr sollen in Deutschland wieder amerikanische, mit Atomsprengköpfen bestückte, Mittelstreckenraketen stationiert werden. Das hat unlängst die NATO beschlossen. Als Antwort auf die sich häufenden Drohungen von Russlands Diktator Wladimir Putin, wegen der westlichen Militärhilfe für die überfallene Ukraine notfalls vor dem Einsatz von Nuklearwaffen nicht zurückzuschrecken. Und die deutsche Gesellschaft? Und die Medien? Nichts. Kein Aufschrei. Kein öffentlicher Disput. Einfach Ruhe. Man fährt oder fliegt in die Ferien, ärgert sich allenfalls über ein paar Grüppchen, die sich (erstaunlicherweise vom Sicherheitspersonal unbemerkt) um der Klimarettung willen an Flughafen-Startbahnen geklebt und somit die erhofften Urlaubsfreuden um einige Stunden gekürzt haben.
Die Älteren im Land (wenigstens viele von Ihnen) schütteln erstaunt bis fassungslos den Kopf. Wie war es denn damals? Ende der 60-er und bis Mitte der 70-er Jahre? Seinerzeit erbebte die Republik schier unter den Protesten und Demonstrationen friedensbewegter und von Kriegsangst gebeutelter Bürger aus fast allen politischen Lagern mit „Ärzten für den Frieden“ und „Pfarrer gegen den Krieg“. Im Bonner Hofgarten, vor dem Hauptgebäude der Universität, versammelte sich eine halbe Million Menschen, darunter Spitzenpolitiker wie Willy Brandt und Erhard Eppler, sowie Literatur-Nobelpreisträger wie Heinrich Böll. „Ami go home“ war die geflügelte Parole bei den ungezählten Aufmärschen vor US-Militäreinrichtungen in der ganzen einstigen Bundesrepublik (dass wenige Jahre später, als die USA in der Folge der seinerzeitigen Entspannungspolitik, ihre Präsenz in Deutschland wirklich drastisch verkleinerten, wurde aus dem einstigen Kampfruf plötzlich ein fast flehentliches „Ami bleib hier“, weil mit dem Weggang der GI´s in vielen Kommunen und Landstrichen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor wegbrach).
Aus diesem beinahe schon Volksaufstand (das sollte tunlichst auch nicht vergessen werden und möglichst Teil des schulischen Geschichts-Unterrichts sein) erwuchsen in der Folge Bewegungen und Vorgänge, die – wie die Terroristen um die Baader/Meinhof-Bande – die Republik teilweise in Schockstarre versetzten, oder die Bildung der Sonnenblumen-Partei „Die Grünen“, die (zunächst belächelt) in der Folge tatsächlich das Umweltbewusstsein der Menschen veränderte. Und zwar im Wesentlichen durchaus zum Positiven. Keine Frage, das heutige Deutschland ist ein anderes als das damalige. Natürlich auch (und nicht zuletzt) wegen der dramatischen politischen Ereignisse Ende der 80-er und zu Beginn der 90-er Jahre, in deren Gefolge das sowjetsozialistische System zusammenbrach und sich Deutschland wieder vereinigen durfte.
Und heute? Seltsames Schweigen zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz. Und das, obwohl doch auf unserem Kontinent, ja ringsum auf dem Globus insgesamt, die Zahl der bewaffneten Konflikte und politischen Instabilitäten ungleich höher ist als zuzeiten des Kalten Krieges. In jenen Jahren standen sich die Blöcke in Ost und West bis an die Zähne bewaffnet gegenüber, hielten sich allerdings durch dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ gegenseitig im Zaum. Inzwischen können in Tat und Wahrheit eigentlich nur noch Tagträumer nicht erkennen, wie sehr die Hoffnungen (ja, mehr noch, Gewissheiten) von Abermillionen am Ende des vorigen Jahrhunderts verflogen sind, das neue Jahrtausend werde ein glücklicheres und friedvolleres werden. Schließlich – waren denn nicht aus Feinden Freunde geworden? Hatten nicht zahlreiche Nationen und Staaten die Fesseln kommunistischer Unfreiheit abgestreift? Ist nicht mithilfe diplomatisch und völkerrechtlich kunstvoll formulierter Verträge die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen garantiert worden. Wurden nicht Armeen und Militärausgaben signuifikant verkleinert, was die Bundeswehr nahezu wertlos machte? Haben sich nicht Regierende und Regierte freudig der Illusion hingegeben, man könne jetzt genussvoll die – vor allem sozialen – Köstlichkeiten der Friedensdividende verspeisen?
Ja, es gab – nicht bloß in Deutschland – eine kurze Zeit durchaus Anlass, sich wie in einer Wohlfühl-Oase zu bewegen. Indessen, eine vorausdenkende, sich an den realpolitischen Vorgängen (wie etwa die unverhüllte, auf Weltmachtanspruch gerichtete chinesische Politik) orientierte Außen- und Sicherheitspolitik – wozu? Auch (und vielleicht sogar besonders), in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien nahm dieser Punkt allenfalls einen kleinen Raum ein. Und dann kam, am 24. Februar 2022, das böse Erwachen. Wladimir Putin ließ die russische Armee das eigenständig gewordene, nach Demokratie und westlichen Freiheitswerten strebende, Bruderland Ukraine überfallen. Eine „militärische Spezial-Operation“ nannte er die Aktion zynisch – in der Erwartung, in wenigen Tagen das Land zu überrannt und den „Freiheitsspuk“ ein Ende bereitet zu haben. Es kam anders. Aber dieser eiskalte Bruch Putins, nicht nur des Völkerrechts, sondern mit praktisch sämtlichen international anerkannten politischen Werten, hat die Welt verändert.
Und die Reaktionen bei uns und in der Welt ringsum? Wo sind, zum Beispiel, die – ansonsten doch üblichen – Massendemos und Protestmärsche der sich „Friedenspartei“ nennenden organisierten und nicht organisierten Linken gegen die Schandtaten Putins und seiner Gefolgsleute? Davon ist genauso wenig zu sehen wie etwa Auflehnung gegen die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtdemonstrationen des „Reichs der Mitte“ – China? Stattdessen ein fast schon beängstigendes Anwachsen von Kräften am äußeren bis äußersten Rand des politischen Spektrums. Nicht nur in Deutschland. Auch in Skandinavien, in den Niederlanden, in Frankreich und Italien und, und, und…
Sicher, Nationalismus, Intoleranz politisch oder religiös motiviert, Antisemitismus und Rassismus sind nicht erst Erscheinungsbilder unserer Tage. Es hat sie immer gegeben, fast überall und zu einem in der Regel geringen Prozentsatz. Aber dass hierzulande – in Deutschland! – nach dem verheerenden Krieg und (schlimmer noch) der massenmörderischen Maschinerie des „Dritten Reichs“ erneut eine Partei wie die AfD einen wirklichen Einfluss erringen würde, das ist wirklich atemberaubend. Dass eine Partei, in der ein Björn Höcke ungeschminktes Nazi-Deutsch von sich gibt, in wenigen Wochen vielleicht sogar schon an die Spitze der thüringischen Landesregierung gewählt werden könnte, ist haarsträubend. Und dies nicht etwa mithilfe eines Putschs oder Staatsstreichs. Sondern ganz ordnungsgemäß als Ergebnis demokratischer Landtagswahlen. Der Vergleich mag vielleicht (noch) zu hoch gegriffen sein. Trotzdem – auch Hitler war nicht durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen. Sondern über demokratische Reichstagswahlen.
Dass sich die AfD längst ganz offen als deutsches Sprachrohr Putins und dessen Kriegspropaganda betätigt, sei hier nur am Rande erwähnt… Viel bedeutsamer ist, nach den Gründen zu fragen, warum die politischen Rechtsaußen innerhalb kürzester Zeit einen derartigen Zulauf erhalten haben. Und da muss man ganz schnell die etablierten, demokratischen Parteien auf die Anklagebank setzen. Alle – die einen mehr, die anderen weniger. Seit Jahren, eigentlich schon nach dem von Realisten vorausgesagten Abebben der so genannten „Willkommenskultur“ 2015/16 und besonders nach den Vorkommnissen in der Silvesternacht 2015 in Köln mit massenweise sexuellen Übergriffen durch – mehrheitlich – Migranten, konnte jeder auch nur einigermaßen aufmerksame Beobachter erkennen, wie sehr das Thema Zuwanderung die Menschen im Land beschäftig, bedrückt und auch verängstigt. Um genau zu sein – die tatsächliche oder vielleicht auch nur so empfundene „unkontrollierte“ Zuwanderung. Entsprechend dieser zunehmend angespannten Stimmung gewann natürlich auch jede kriminelle Tat zum Beispiel eines syrischen, afghanischen oder mittelafrikanischen Asylbewerbers ein immer schwereres Gewicht in der häuslichen Diskussion und der gesellschaftlichen Debatte.
Nur dort, wo diese – und seien sie im Einzelnen auch unbegründet gewesen – Ängste und Sorgen hätten aufgenommen, ernstgenommen, durch energisches Gegensteuern vielleicht zerstreut werden müssen, herrschte Schweigen. Dabei gab es (und gibt es noch immer) wahrhaftig Gründe genug, um politisch oder verwaltungstechnisch tätig zu werden. Bei der Bundesregierung, in den Ländern und auch in den Kommunen. Es waren halt wirklich nicht nur Ärzte und hochqualifizierte Gelehrte, die laut Aussage einer prominenten Grünen-Politikerin, aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Afrika nach Deutschland strebten. Es waren natürlich genauso viele Gauner, Sozialbetrüger und andere Ganoven darunter, wie sie in jeder Gesellschaft zu finden sind. Aber nein, so raunte man in den „Alt“-Parteien, man dürfe doch derartige Dinge nicht „hochspielen“, weil dann vielleicht „alle unter Verdacht genommen und den rechten Radikalen in die Hände gespielt werden könnten“. Tatsächlich gibt es kaum etwas unsinnigeres als diese These. Als ob man in allen Kölnern, Münchenern oder gar Deutschen Mörder sehen würde, wenn einer aus diesen Städten jemanden umgebracht hat.
Es ist etwas in Schieflage geraten in der früher einmal so stabil geglaubten Bundesrepublik. Und zwar ganz offensichtlich so schief, dass sogar die politische Mitte zu zerbröseln droht. Jetzt rächt sich das jahrelange Schweigen und die Untätigkeit der vergangenen Jahre. Die Flüchtlingsflut 2015 sei für die AfD wie ein Geschenk Gottes gekommen, hatte Alexander Gauland, der Altvater der Rechtsaußen, damals gejubelt. Denn ohne diese wäre die sich selbst als „Alternative“ bezeichnende Partei wahrscheinlich wirklich in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Dabei kann jeder, der sehen will, sehen, dass die „Alternative“ in Wirklichkeit absolut keine Alternative oder gar Problemlösung anzubieten hat. Egal, auf welchem Gebiet. Aber sie hat den Etablierten trotzdem eines voraus: Sie schaut den Leuten (im Sinne von Martin Luther) aufs Maul und spricht deren Sorgen an. Mit anderen Worten, die Menschen fühlen sich ernstgenommen und entwickeln Sympathien, auch wenn sie selbst alles andere als neue Nazis sind. Ein simpler Schachzug, begleitet von teilweise hoch professioneller Selbst-Präsentation in den neuen Medien. Und die anderen schauen in die Röhre.
Und noch etwas ist gewaltig in Schieflage geraten hierzulande: Der vor dem Hintergrund von Auschwitz geleistete sozusagen Gründungsschwur des neuen, demokratischen Nachkriegsdeutschlands „Nie wieder“. Wer hätte es für möglich gehalten, dass ausgerechnet hier der Antisemitismus eines Tages wieder fröhliche Urständ feiern und schon fast zu einer Normalität werden könnte? Wer hätte es auch nur ansatzweise für denkbar gehalten, dass deutsche Studenten (und vereinzelt sogar Lehrende) gegen den einzigen demokratischen Staat in Nahen Osten inmitten von lauter korrupten Autokratien zu Felde ziehen würden? Seite an Seite mit Sympathisanten jener Terroristen, die am 7. Oktober 2023 ein unbeschreibliches, von zahlreichen Zivilisten im Gaza-Streifen erkennbar bejubeltes Massaker an israelischen Bürgern verübten? Geschehen vor und in deutschen Universitäten! An jenen Stellen also, die auch 1933 an vorderster Front gegen deutsche Juden tätig waren! Ist solches Verhalten noch mit Dummheit, Geschichtslosigkeit oder Denkfaulheit zu verniedlichen?
Waldimir Putin hat in seiner Jugend die ganze Schule des berüchtigten sowjetischen Geheimdienstes KGB durchlaufen. Er kennt die Methoden der Machterringung ebenso wie deren Ausübung. Und er war lange genug in der DDR, um deutsche Mentalitäten einschätzen zu können. Selbst wenn er sie „nur“ in der DDR kennengelernt hatte. Auch die Menschen dort sind schließlich Deutsche und gewiss nicht weniger von Kriegsangst gepeinigt wie die Landsleute im Westen. Warum also sollten auch im geeinten Deutschland Drohungen mit dem Einsatz schrecklicher Waffen nicht noch einmal funktionieren? „Lieber rot als tot“ skandierten Ende der 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts tausende Demo-Teilnehmer bei den Protestaktionen gegen die „Nachrüstung“.
Diese Losung bedeutet, übersetzt, doch nichts anderes als die Bereitschaft, sich lieber einem Aggressor zu unterwerfen als zu verteidigen. Besonders dann, wenn mittlerweile im Lande Generationen herangewachsen sind, die – von scheinbar unbegrenzt wachsendem Wohlstand verwöhnt – diesen für ebenso selbstverständlich halten wie die freiheitlichen Errungenschaften und Werte der Demokratie. Gewöhnt an und verwöhnt von Wohlstand und sozialen Wohltaten aus den staatlichen Füllhörnern und gleichzeitig angstgepeinigt von Putin´schen Kriegsdrohungen sowie den unbestreitbaren Problemen der Migrations-Bewältigung sowie irrationale Suche nach Schutz ausgerechnet bei mehr als fragwürdigen politischen Kräften – wahrhaftig kein zu besonderer Fröhlichkeit Anlass bietender Ausblick auf die vor uns liegende Zeit.
Warum bloß wird vor diesem Hintergrund nicht der kluge Satz des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt aus den Archiven geholt: „Angst ist ein schlechter Ratgeber“?!
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.
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