Zeit zum Schämen
Von Gisbert Kuhn

Es wird oft davor gewarnt – und auch wir haben es in dieser Kolumne mehr als einmal getan -, allzu leichtfertig Vergleiche aktueller Vorgänge mit solchen aus der Nazi-Zeit des Dritten Reichs anzustellen. Tatsächlich besteht dann immer die Gefahr, den mit Begriffen wie Auschwitz, Treblinka oder Bergen-Belsen verbundenen millionenfachen Mord zu verharmlosen, weil auch die heutigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ganz andere sind als jene, die seinerzeit der nationalsozialistischen Machtübernahme vorangegangen waren. Aber es blinken im Hintergrund bereits deutliche Warnzeichen.
Wer zum Beispiel beim jüngsten Parteitag der rechtsextremen AfD die Rede der dort gekürten Kanzlerkandidaten Alice Weigel verfolgte, dem konnte Angst und Bange werden um die Zukunft unseres Landes. Und zwar sowohl des Inhalts, als auch der Boshaftigkeit des Vortrags als auch (vielleicht am Schlimmsten) wegen der Hingerissenheit und grenzenlosen Begeisterung der Delegierten. Von Nachdenklichkeit oder gar Bedenken keine Spur. Es ist gewiss ein Zufall, das beinahe auf den Tag genau vor 82 Jahren, am 18. Februar 1943, Hitlers Chefpropagandist Joseph Goebels im Berliner Sportpalast seine berühmte, ganz sicher jedoch berüchtigste Rede hielt, die in der Frage gipfelte: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“
Wie man weiß, war die Antwort ein tosendes Ja aus tausenden Kehlen. Und die Begeisterung in den Gesichtern der Anwesenden hatte schon so etwas wie religiöse Begeisterung. Genau wie jetzt bei den AfD-lern in Riesa. Nun kann man sagen, die rund 1 200 sorgfältig ausgewählten Jubler seinerzeit im Sportpalast hätten vielleicht nicht die Mehrheit des Volkes repräsentiert. Das gilt sicher auch für die Delegierten in der sächsischen Kreisstadt. Aber diese sind mittlerweile ganz gewiss repräsentativ für jene immer größer werdende Zahl von Bürgern, die den politischen Rechtsaußen blind wie die Lemminge hinterherlaufen.
Leider kann man für diese Entwicklung die traditionellen, demokratischen Parteien nicht von Verantwortung freisprechen. Ein Großteil des AfD-Erfolgs hat ja seinen Grund darin, dass die Populisten um Björn Höcke, Alice Weidel, Timo Chrupalla und den Altvater der Partei, Alexander Gauland, sich exakt der Themen annehmen, die zum Teil in der Bevölkerung wirklich Verärgerung und das Gefühl fehlender Gerechtigkeit haben entstehen lassen, von den Traditionsparteien aber nicht aufgegriffen wurden. Dazu zählte anfangs auch die unkontrollierte, ungeregelte Zuwanderung. Dazu zählten die vielen von Beginn an gewährten Sozialleistungen und – nicht zuletzt – die als ungerechtfertigt empfundene, vielfach sofortige Vergabe von Wohnraum an Asylbewerber und wirkliche Kriegsflüchtlinge, während andere schon über Monate darauf warteten..
Vieles davon wurde besonders von SPD und Grünen nachgerade als große sozialpolitische Leistung gefeiert. Die CDU-Opposition übte zwar hier und da einmal Kritik, machte diese und auch noch andere umstrittene Themen aber nie wirklich zum Gegenstand ernsthafter Auseinandersetzungen im Deutschen Bundestag, sondern fasste sie mit ganz spitzen Fingern an. Ein gefundenes Fressen, schön offen dargeboten für die AfD. Und so wuchs die Partei und wuchs und wuchs. Dass sie schon seit geraumer Zeit vom Verfassungsschutz in Teilen als rechtsextrem und verfassungsfeindlich gelistet wurde, interessierte die breite Öffentlichkeit (und damit leider auch die stets wegen ihrer angeblichen Stabilität so gelobte „Mitte“) kaum bis gar nicht.
Dass die Spitzen der Partei mittlerweile unverblümt als Ziel ausgeben, das „System“ – also die Demokratie – zu beseitigen, wen regt das in der Öffentlichkeit erkennbar auf? Dabei ist gerade die Demokratie doch das Kostbarste, was sich die Deutschen nach dem verheerenden Krieg geschaffen haben. Demokratie setzt jedoch Mitverantwortung der einzelnen Bürger voraus – bedingt den Willen, sie gegen Feinde aus welcher Richtung auch immer zu verteidigen. Über die Jahre und nachgewachsenen Generationen aber hat sich der Staat immer mehr zum allumfassenden Versorger aufgeschwungen, und die Bürger genießen das – jedenfalls solange das öffentliche Füllhorn noch ausschüttet.
Doch jetzt sollte sich jeder (wenigstens im übertragenen Sinne des Wortes) warm anziehen. Es wird kalt im Land zwischen Alpen, Nord- und Ostsee. Und nicht nur dort. In Europa hatte der Trend zu autoritären Regimen schon vor dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA eingesetzt. Und droht, sich unvermindert fortzusetzen. Das zumindest in den 90-Jahren des vorigen Jahrhunderts stabile und politisch attraktive organisierte Europa namens EU ließ hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Dann riss Wladimir Putin mit einem Handstreich alles nieder, was zuvor kunstvoll geschmiedet werden war, um wenigstens auf dem Alten Kontinent den Frieden zu sichern. Derselbe Putin, vor dem übrigens die AfD-Oberen brav ihren Diener machen, während Alice Weidel davon schwafelt, die Deutschen seien die Sklaven der USA…
Es ist wirklich Zeit zum Schämen. Scham zu empfinden, dass so wenige Bürger sich der Gefahr bewusst sind, in welche Richtung und Zukunft diese Partei das Land führen will. Na ja, heißt es immer abwiegelnd, wenn Sie wieder einmal mit Volkes Unterstützung einen Wahlerfolg erzielen konnten. Es ist doch eine demokratisch gewählte Partei. Also lasst Sie doch mal ran, sollen sie doch zeigen, was sie können. Nein, das darf nicht geschehen. Als 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, da sagten auch der Zeitungszar Hugenberg und der Politiker von Papen abwiegelnd, man werde Hitler schon „einrahmen“ und zähmen“. Was geschah, weiß jeder politisch und historisch wenigstens einigermaßen beschlagene Deutsche. Oder sollte es wenigstens wissen. Wer die Miene von Alice Weigel bei ihrer Rede in Riesa verfolgte, kann ungute Gefühle nicht vermeiden. Leidenschaft ist im politischen Geschäft normal. Aber in diesem Gesicht spiegelte sich anderes ab, nachdem sie sich erst einmal in Rage geredet hatte. Die Mimik ließ sich mitreißen von ihren Gefühlen, sie war geradezu trunken vom tobenden Beifall im Saal. Allein, wie sie das Wort „Re-mi-gra-ti-on“ im Zusammenhang mit der von der AfD angekündigten Massenabschiebungen von Ausländern geradezu lustvoll ausspieh, sprach jedem zivilisierten Umgang miteinander Hohn. Doch das Volk tobte.
Denn die Übersetzung des in der Vergangenheit auch von der AfD gemiedenen Begriffs heißt schlicht und einfach „Ausländer raus“. Indes weiß doch jeder, der sich etwa in den Krankenstationen der Kliniken oder von Pflegeheimen auskennt, dass das gesamte deutsche Gesundheitssystem sofort zusammenbräche, wenn die AfD jemals ihre Rückführungs-Drohungen wahrzumachen versuchte. Eigentlich sollte auch das mittlerweile Allgemeinwissen sein. Sollte. Stattdessen laufen weiter ungebremst politisch verirrte Deutsche den rechten Rattenfängern hinterher. Es ist, noch einmal, wirklich zum Schämen. Wenn es dann wieder schiefgehen sollte, kennt man in Deutschland jedenfalls ein bewährtes Argument: „Davon habe ich nichts gewusst…“
Es ist tatsächlich Zeit, Scham zu empfinden, dass so wenige Bürger sich der Gefahr bewusst sind, in welche Richtung und Zukunft diese Partei das Land führen will. Na ja, heißt es immer abwiegelnd, wenn Sie wieder einmal mit Volkes Unterstützung einen Wahlerfolg erzielen konnten. Es ist doch eine demokratisch gewählte Partei. Also lasst Sie doch mal ran, sollen sie doch zeigen, was sie können. Nein, das darf nicht geschehen. Als 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, da sagten auch der Zeitungszar Hugenberg und der Politiker von Papen, man werde Hitler schon „einrahmen“ und zähmen“. Was danach geschah, weiß jeder politisch und historisch wenigstens einigermaßen beschlagene Deutsche. Oder sollte es jedenfalls wissen.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..
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