von Günter Müchler

Günter Müchler ©privat

Endlich ist Wahlkampf. Mit einem Paukenschlag hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die Phase richtungsloser Plänkeleien beendet, die nach dem Auseinanderbrechen der Ampel-Koalition und dem konstruktiven Misstrauensvotum eingetreten war. Die Entrüstung ist groß, die Kritiker überschlagen sich, was bloß zeigt, dass Merz einen Nerv getroffen hat. Und wirklich bricht der Vorstoß des CDU-Chefs mit einem wattierten Politikverständnis, das den Deutschen über die Jahre zur zweiten Natur geworden ist und Problemlösungen nicht nur in der Migrationsfrage behindert, sondern auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Nur nichts riskieren, nirgendwo anstoßen, selbst wenn die Lage ernst ist und mehr als das.

Dieses mittlere Politikverständnis, das Anstrengungen aus dem Weg geht, hat Ursachen. Ruhige Zeiten und das süße Gift staatlicher Rundumversorgung haben Behäbigkeit und Kleinmut gefördert. Wozu Risiken eingehen? Nun sind die ruhigen Zeiten vorbei. Wenigstens darüber herrscht Einigkeit. Keine Friedensdividenden nirgends, stattdessen müssen- Verzugszinsen gezahlt werden. Die „multiple Krise“, die von der Bedrohung des Weltklimas über die Bedrohung der Sicherheit bis zur Bedrohung so elementarer Bedürfnisse wie Wohnen und Heizen reicht, verlangt nach neuen Pfaden, die steinig sind und Mut voraussetzen. „In Gefahr und größter Not, bringt der Mittelweg den Tod“ hieß ein Film von Alexander Kluge und Edgar Reitz aus dem Jahr1974.

Die Dinge so zu sehen, ist nicht radikal. Merz ist kein Trump und niemand, nicht einmal er selbst, wird sich einbilden, mit einem „Zustrombegrenzungsgesetz“ sei das Problem der Massenimmigration zu beenden wie mit einem lucky punch. Der Gesetzentwurf war keine Betriebsanleitung, über Teile kann man streiten. Was gilt, ist die Botschaft: Politikwechsel. Immer nur sagen, es geht nicht, immer nur mit Rezepten kommen, die ihre Untauglichkeit tausendmal bewiesen haben, ist mehr als Unterlassung. Es hat das Land heruntergewirtschaftet, es ist geistlos und gefährlich, es gießt Öl ins Feuer. Das ist die Botschaft, die Merz aussenden wollte. Und damit sie nicht verhalle wie das normale Wortgeklingel, musste eine Provokation her. Merz und die Führung der Union wurden vom Trittbrettfahren der AfD nicht überrascht. Es war kein Unfall, vielmehr Bestandteil einer gewollten Provokation.

Niemand weiß, wie das Manöver ausgeht. Gewinner und Verlierer stehen erst am Abend des 23. Februar fest. Gewonnen haben auf jeden Fall die Wähler. Sie wissen nun Bescheid und haben die Wahl. Wollen sie den Politikwechsel, den Politikwechsel auf dem Boden der Demokratie, müssen sie Merz wählen. Denn der traut ihn sich zu. Scheuen sie dagegen das Risiko und ziehen sie den Mittelweg vor, wählen sie zwar nicht den Tod, wie der Filmtitel suggeriert. Sie wählen die Agonie.

Nach dem Knall hat sich die öffentliche Debatte nicht damit aufgehalten, die Merz-Vorschläge nach pro und contra abzuwägen. Wie immer geht und ging es zuallererst um die Verpackung. Tabubruch, Höllentor, in kleinerer Münze hatte man es nicht. Die Kräfte, deren Business die öffentliche Erregung ist, haben sich nicht lange bitten lassen. Viele tausend marschierten durch Innenstädte und versammelten sich auf Plätzen. Den Organisatoren, zu denen unter anderem Fridays for future, , verwandte NGO‘s, aber auch Gewerkschaften und freie Gruppen gehörten, war die Erleichterung darüber anzumerken, dass nun endlich ein Anlass vorhanden war, das zu tun, was man schon lange im Sinn hatte, nämlich Konservative und AfD in einen Topf zu stecken. Trennschärfe ist immer nur das, was man von anderen verlangt.

Voller Dankbarkeit ist man bei der SPD. Welcher Genosse hätte noch vor zwei Wochen einen einzigen Heller für das gebetsmühlenartige „Scholzen“ gegeben, die Wende sei möglich wie 2021? Jetzt wittern sie die Gelegenheit. Der Fraktionsvorsitzende Mützenich narkotisiert mit Horrorbildern aus der Apokalypse. Das „Höllentor“ habe Friedrich Merz geöffnet. Hätte jemand so etwas über Putin gesagt, der Friedenspolitiker Mützenich wäre ihm in die Parade gefahren und hätte Mäßigung gefordert.

Auch andere Einlassungen ließen jedes Maß vermissen. Die politischen Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche urteilten sogleich, Merz habe den Rubikon politischer Wohlanständigkeit überschritten. Die Vorsitzende des ZK der Katholiken, die Dame Irme Stetter-Karp, warf Merz vor, die „Grenzen der politischen Kultur“ zu verletzen. Das war starker Tobak und dennoch erwartbar von einer Funktionärin, die vorgibt, für die „Lai*innen“ (so die Verbands-Diktion) des katholischen Lagers zu sprechen, aber bisher nicht viel mehr erreicht hat, als das Auseinanderklaffen von Christentum und Kirchentum zu verstärken.

Bei Angela Merkel fragt man sich inzwischen, was schwerer wiegt: Ihr Mangel an Einsicht oder an Loyalität. Es muss schon eine Menge mehr passieren als passiert ist, um einen Dolchstoß in den Rücken der eigenen Partei zu rechtfertigen, drei Wochen vor dem Wahltag. Angela Merkel mit Reformatoren-Bäffchen: Die Demokratie steht an der Abbruchkante!. Hier stehe ich und kann nicht anders! Das Bild, das die Ex-Kanzlerin vermitteln will, ist arg verwackelt.

Dass die Demokratie in Gefahr ist, muss man nicht glauben. Aber wer schon durch diese Brille schaut, sollte nicht so tun, als sei die Gefahr erst dadurch entstanden, dass die AfD einem Entschließungsantrag der CDU/CSU zugestimmt hat. Wenn überhaupt, dann geht die Gefahr von der statistischen Stärke der AfD aus. Und dafür hat die Bundeskanzlerin a. D. Angela Merkel mehr getan als jeder andere. 2013, zwei Jahre vor Merkels Grenzöffnungs-Entscheidung, entfielen auf die AfD 4,7 Prozent der Stimmen. In der Regierungszeit Merkels und der von Olaf Scholz konnte die Rechtsaußen-Partei ihr Stimmengewicht vervierfachen. Eigentlich müsste Merkel angesichts dieser Faktenlage vor sich selbst grauen. Nur gehört Gewissenserforschung nicht zu ihren Kernkompetenzen.

Eine interessante Anmerkung hat dieser Tage die ehemalige Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang gemacht. Sie schrieb auf der Plattform X: “Man kann nicht in Regierungsverantwortung sein, während sich die AfD verdoppelt, und dann so tun, als ob dafür alleine die Opposition verantwortlich wäre“. Langs Notat war an Scholz und Habeck gerichtet, also keineswegs an eine falsche Adresse. Nur dass Scholz und Habeck in puncto Selbstgerechtigkeit gegenüber Merkel Waisenknaben sind.

Wie groß Merkels Einfluss auf Teile der Partei, der sie ihre Karriere verdankt, noch ist, lässt sich schwer abschätzen. Bei der Abstimmung über das Wahlprogramm, die von Merz gesetzten Migrationsziele inbegriffen, gab es null Gegenstimmen. Aber Merkel ist hartnäckig. Offenbar will sie keine Ruhe geben, bevor sie dem von ihr ungeliebten Nachfolger in letzter Sekunde einen Strich durch die Wahlrechnung gemacht hat wie weiland Marcus Söder Armin Laschet. In einem Gespräch mit der „Zeit“ sagte sie, sie könne nicht schweigen, weil das Mitstimmen durch die AfD eine Frage grundsätzlicher Bedeutung sei, sagte sie. Was zu glauben schwer fällt. Von grundsätzlicher Bedeutung ist in erster Linie die Zahlenstärke der AfD. Und zu der hat Merkel maßgeblich beigetragen. Hätte die AfD heute noch 4,7 Prozent wie 2013, müsste niemand Pirouetten um die Rechtspartei drehen. Mit anderen Worten, das Problem ist sie, und Merz muss sich damit herumschlagen. Indem Merkel den Sachverhalt auf den Kopf stellt, stellt sie sich selbst vom Platz.

Übrigens wird das Problem auf der Tagesordnung bleiben. Wie immer das Wahlergebnis im Einzelnen ausfallen wird: Dass die Union die absolute Mehrheit erzielt, ist so unwahrscheinlich wie eine plötzliche Implosion der AfD. Mehrheiten zu finden, wird auch in der nächsten Legislaturperiode ein Stück für Parlamentsakrobaten sein, und wer nicht ganz darauf verzichtet, Anträge zu stellen, wird es hinnehmen müssen, dass sich die AfD uneingeladen an der Party teilnimmt. Finis Germaniae? Olaf Scholz hat die Sache mal ganz locker genommen. In einem Interview mit der „Thüringer Allgemeinen“ vom August 2023 formulierte er seinen Standpunkt so: Wenn die AfD Anträgen anderer Parteien zustimme, sei das noch lange keine Zusammenarbeit. Hier werde „etwas künstlich auf der kommunalen Ebene problematisiert, das weder im Bundestag noch in den 16 Landtagen zum Problem würde. Niemand sollte sich davon abhängig machen, wie die AfD abstimmt“.

Heureka!

Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

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