Politik: Ein Schritt zu viel

Ein umstrittenes Gesetz verschafft der Opposition in Polen einen fulminanten Wahlkampfauftakt. Ob dies reicht, um die PiS zu besiegen, bleibt unklar.

Jarosław Kaczyński © Kancelaria Prezesa Rady Ministrów/Wikipedia

Seit 2015 regiert in Polen die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński. Ihr Kernanliegen ist ein selbstbestimmtes und souveränes Polen, welches von schädlichen äußeren Einflüssen befreit wird. Darunter fällt für die PiS auch die Europäische Union. So wandte sich die Partei gegen die europäische Rechtsordnung und legte sich im Streit um die Vorrangigkeit europäischen Rechts sowie um die Reform des polnischen Justizsystems mit den EU-Institutionen an. Dies führte jedoch schließlich zur Einfrierung von EU-Mitteln in Milliardenhöhe sowie zu verschiedenen Strafzahlungen für das Land.

Dabei ist die Zustimmung zur EU in der polnischen Bevölkerung so stark wie in kaum einem anderen Mitgliedsstaat. Ihre anti-europäische Einstellung lebt die PiS deswegen gerne in anti-deutschen Ressentiments aus. Das europäische Rechtsstaatsverfahren gegen Polen, heißt es, sei ohnehin nur ein von Deutschland geführter Angriff auf Polen. Während diese Aussagen nur bestimmte Gruppen ansprechen, gelang es der PiS, mit der Einführung eines Kindergelds von 500 Zloty (circa 110 Euro) weit über das pro-nationalistische Publikum hinaus zu punkten und trug so dazu bei, den Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten zu vergrößern.

Derartige sozialpolitische Instrumente hatte die Vorgängerregierung unter Donald Tusk von der Bürgerplattform PO den Polinnen und Polen immer verwehrt. Stets gemäß dem Motto „Zunächst muss die Wirtschaft wachsen“, flankiert von einem schlanken Staat. Trotzdem bleibt die PO im beginnenden Wahlkampf abermals der größte Gegenspieler zu Kaczyńskis PiS. Beide Parteien, PiS und PO, gingen aus der Solidarność-Bewegung der 1980er Jahre hervor. Während die PiS den Kampf der Solidarność eher national-konservativ als die Befreiung von Fremdherrschaft und Sozialismus interpretiert, setzt die PO den Akzent auf eine liberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Trotz dieser gemeinsamen Wurzeln ­– oder gerade wegen derselben – sind beide Parteien verfeindet und nicht koalitionsfähig.

Der Wahlkampf wird eine Mobilisierungsschlacht werden. Während die sozialpolitischen Wohltaten der PiS von einer Inflation von bis zu 20 Prozent aufgefressen wurden, vertrat sie den anti-deutschen Kurs immer stärker. In Deutschland wird sich mancher die Augen reiben, wenn es im östlichen Nachbarland heißt, die wahre Gefahr gehe nicht von Putins imperialistischem Russland, sondern von Deutschland aus. Pünktlich zum Tag der Deutschen Einheit wurde in Berlin die Note zur Forderung von Wiedergutmachung und Reparationen für die Schäden im Zweiten Weltkrieg in geradezu astronomischer Höhe überreicht. Mit diesen Tönen trifft die PiS zwar den harten Kern ihrer Wählerinnen und Wähler, doch die Mobilisierung von breiteren Bevölkerungsschichten bleibt aus. Um hier gegenzusteuern, wurden im Mai publikumswirksam die Erhöhung des Kindergeldes auf 800 Zloty (circa 178 Euro) sowie die Abschaffung der Autobahngebühren versprochen.

Die Opposition hat bisher Probleme, ihre Themen zu setzen.

Die Opposition hingegen hat bisher Probleme, ihre Themen zu setzen. Statt sich auf alternative Politikansätze und einfache Botschaften zu konzentrieren, beschäftigt sie sich vor allem mit der machttaktischen Frage, in welcher Formation sie zur Wahl antreten solle. Donald Tusk hätte gerne eine Einheitsliste der Opposition angeführt. Dazu waren die Sozialdemokraten der Nowa Lewica jedoch nicht bereit. Zur Nowa Lewica zählt die alte SLD, die erst 2019 wieder in den Sejm, das polnische Parlament, eingezogen war. Im Jahr 2021 vereinigte sie sich mit der Bürgerrechtsbewegung Wiosna (zu deutsch „Der Frühling“) von Robert Biedron zur „Neuen Linken“. Dies gab ihr neue Kraft, verjüngte ihre Wählerschaft und verschaffte ihr gute Ausgangschancen, wieder ins Parlament einzuziehen und als Koalitionspartner gegen die PiS gebraucht zu werden. Als dritte Kraft der Opposition tritt der „Dritte Weg“ an, eine ungewöhnliche Verbindung der liberalen Polska 2050 von Szymon Hołownia mit der altehrwürdigen Bauernpartei PSL.

Wirft man einen Blick auf die Umfragen, so steht die PiS mit 36,4 Prozent, gemeinsam mit der neoliberalen und rechtspopulistischen Konfederatia mit 10,9 Prozent, dem Block der Opposition aus PO mit 28,1 Prozent, Nowa Lewica mit 9,8 Prozent und dem „Dritten Weg“ mit 13,7 Prozent gegenüber. Nach einer Projektion des Analyseportals Polityka Insight käme die Opposition damit genau auf 230 von 460 Sitzen im Parlament. Der bevorstehende Wahlkampf ist also ein offenes Rennen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt in der politischen Auseinandersetzung der Parteien in Polen keine wesentliche Rolle. In dieser Frage gibt es in Polen einen unverbrüchlichen Konsens der uneingeschränkten Solidarität und militärischen Unterstützung für die Ukraine gegen Russland. So nahmen die Polinnen und Polen in bewundernswerter Solidarität mehr als 1,5 Millionen ukrainische Flüchtlinge auf.

Nachdem die von vielen befürchtete Energieversorgungs-Krise im Winter 2022/23 nicht eingetreten ist, sah es bis Ende Mai zunächst so aus, als sei die PiS klar im Vorteil. Doch ihre sozialpolitischen Versprechungen hatten nicht den gewünschten Effekt. Außerdem überschritt sie mit dem Gesetz zur Einsetzung einer staatlichen Kommission, die den russischen Einfluss auf die innere Sicherheit Polens zwischen 2007 und 2022 untersuchen soll, nun eine rote Linie. Das Gesetz zielt unverhohlen auf den Vorsitzenden der PO, Donald Tusk.

Das Fahnenmeer aus polnischen und EU-Fahnen zeigt die Stärke und Kampfbereitschaft der demokratischen Oppositionskräfte.

Als Zielscheibe dieser Kommission könnte ihm die Sperrung von allen politischen Ämtern drohen. Denn in seiner zunächst verabschiedeten Form sieht das Gesetz vor, dass die Kommission gleichermaßen Kläger und Richter ist. Die Möglichkeit, Berufung einzulegen, ist dabei nicht vorgesehen. Mit einem Aufschrei der europäischen Partner gegen diesen Angriff auf die demokratischen Spielregeln rechnete die PiS sicherlich, doch dass auch der in ihren Augen weitaus wichtigere Partner USA protestierte, sorgte für Aufruhr. Noch am Abend der Unterzeichnung des Gesetzes kommentierte der US-amerikanische Botschafter in Warschau das Vorgehen und sah die Durchführung von freien und fairen Wahlen gefährdet. Schon wenig später ruderte Präsident Andrzej Duda in einer offiziellen Erklärung zurück und versucht seitdem, der sogenannten „Lex Tusk“ die Schärfe zu nehmen.

Doch die Katze ist aus dem Sack. Nicht nur der internationale Aufschrei war groß, auch in Polen wurde lautstark Alarm geschlagen. Von einem „nationalistischen Revolutionstribunal“ durch die „Lex Tusk“ war die Rede. Für den 4. Juni lud die vereinigte Opposition zu einem Protestmarsch in Warschau. Damit hat die PiS der Opposition in der Mobilisierungsschlacht des polnischen Wahlkampfs nun einen im ganzen Land und weit darüber hinaus sicht- und hörbaren Startschuss für den Wahlkampf ermöglicht: Das Fahnenmeer aus polnischen und EU-Fahnen zeigt die Stärke und Kampfbereitschaft der demokratischen Oppositionskräfte gegen die PiS.

Ein besonderes Glück für die Opposition war, dass die Demonstration am 4. Juni nicht nur von Donald Tusk und dem Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski eröffnet wurde, sondern auch von Lech Wałęsa, Kopf der Solidarność, Friedensnobelpreisträger sowie von 1990 bis 1995 Staatspräsident Polens. Damit dürfte der Protest weit über das eingeschworene Anti-PiS-Lager hinausstrahlen und viele Polinnen und Polen für die Opposition mobilisieren. Bis zum Wahltag im Oktober bleibt es indes noch ein langer Weg.

Dr. Max Brändle leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau. Zuvor war er Leiter des FES-Büros in Belgrad.

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