Merz muss liefern
von Günter Müchler

Es gibt ein paar Regeln in der Politik, die auch die regelfeindliche Ära Trump überdauern werden. Eine davon lautet, dass eine neue Regierung gut beraten ist, wenn sie die „Grausamkeiten“, die sie im Schilde führt, gleich am Anfang verübt, am besten auf einen Schlag. Die Empfehlung stammt vom zynischen, aber zweifellos staatsklugen Renaissance-Denker Macchiavelli. Ob sich die designierte schwarz-rote Koalitionsregierung daran halten wird, bleibt abzuwarten. Tut sie es nicht, hängt sie sich schon am Start ein Bleigewicht an die Füße.
Viel ist von den Facharbeitsgruppen und ihren umfangreichen Papieren nicht nach außen gedrungen. Die Verschwiegenheit der Unterhändler war bisher zufriedenstellend, ein Punkt für die Verlobten. Große Entwürfe wird man in dem Papierwust allerdings vergeblich suchen. Fachpolitiker verhalten sich nach Erfahrung ungefähr so wie gesellschaftliche Interessengruppen. Ihre Stärke liegt im Wünschen. Das Odium des Verzichtens überlassen sie gern anderen.
Die Spitzenverhandler werden es richten müssen. Das Klima in ihrem Kreis wird als vergleichsweise gut geschildert. Die Parteivorsitzenden Merz und Klingbeil duzen sich schon. Aber dass (nur) der Ton die Musik bestimmt, ist eine Annahme, auf die man sich bei Koalitionsverhandlungen nicht verlassen sollte. Ausschlaggebend ist das Vorhandensein stabiler Grundüberzeugungen. Und hier fehlen die Belege. Einig ist man sich über die Geldbeschaffung. Kreditsummen stehen im Raum, die schwindelig machen. Vom Sparen hörte man dagegen bisher wenig.
Beim Sparen geht es in Zeiten wie diesen nicht bloß um das Stopfen von Haushaltslöchern. Es geht um ein Signal, um eine faktenbewehrte Ansage: Wir müssen den Gürtel enger schnallen, müssen umsteuern, müssen weg von alten Bewertungsmustern, um neue Prioritäten setzen zu können. Das durch Inflation entwertete Wort vom Politikwechsel erhält in diesem Zusammenhang einen anspruchsvollen Sinn: Wer einen Politikwechsel verspricht, muss die Beharrungskräfte attackieren und der Macht der Gewohnheit den Kampf ansagen.
Gefordert ist ein Anti-Scholz. Olaf Scholz hatte in den letzten Wochen des Wahlkampfes versucht, mit einer fatalen rhetorischen Figur sein und das Schicksal der SPD zu wenden. Die Ausgaben für die Ukrainehilfe dürften nicht von deutschen Rentnern bezahlt werden. Mit diesem Ceterum censeo wand er sich durch sämtliche Talkrunden. Ein kruder Populismus, der allerdings nicht verfing. Vielmehr wickelte sich Scholz mit seinem Mantra selbst ab. Indem er dem Publikum weismachte, man könne sich den Pelz waschen, ohne nass zu werden, entwertete er die von ihm ausgerufene Zeitenwende zu einem virtuellen Bling-Bling und legte obendrein ein verdrehtes Amtsverständnis an den Tag. Denn was ist Politik anderes als das Unterscheiden von erstrangig und zweitrangig, das Auswählen zwischen zwei Möglichkeiten?
Die Bundesregierung in spe darf nicht in denselben Fehler verfallen. Sie muss erkennen, dass Regierungskunst gerade nicht darin besteht, das Leben im Schlafwagen zu verlängern. Kluge Führung muss vielmehr davon überzeugen, dass zeitweiliges Umsteigen in die Holzklasse langfristig nur Vorteile bringt. Die Einigung auf monströse Sondervermögen erfüllt diesen Anspruch nicht. Spätestens ab neun Nullen driftet eine Zahlenangabe ab in den Orbit, wo alles schwerelos ist und nichts wehtut. 500 Milliarden? Wer da von Schmerzen spricht, kann nur die Schmerzen anderer meinen, die der nachfolgenden Generationen.
Mit dem wattierten Politikstil, den wir uns in Deutschland spätestens seit Merkel angewöhnt haben, werden wir den Herausforderungen einer Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät, nicht standhalten. Im Übrigen reflektiert dieser Politikstil ein ziemlich tristes Menschenbild. Mündigen Bürgern sind Zumutungen zumutbar. Wenn die Einschränkungen, die an sie herangetragen werden, plausibel sind, kommen sie damit zurecht. Zumutungen können sogar Kräfte freisetzen. Man denke an Churchill und die Engländer 1940.
Umfragen zufolge sieht die Mehrheit der Bevölkerung ein, dass gewaltige Anstrengungen für die militärische Sicherheit nötig sind. Weniger eindeutig ist das Bild, fragt man nach der Wehrpflicht. Sie wurde 2011 ausgesetzt. Über die Wege, sie wieder in Kraft zu setzen, herrscht Uneinigkeit. Sollen nur junge Männer eingezogen werden oder auch junge Frauen? Man darf gespannt sein, ob der Furor, mit dem sonst für die Gleichberechtigung der Geschlechter gefochten wird, ausgerechnet an dieser Stelle einen Schwächeanfall erleidet. Skeptiker fragen, ob die Wehrpflichtarmee nicht generell ein Instrument von gestern sei und ob man angesichts von High-Tech-Kampfdrohnen nicht besser einer Berufsarmee vertraue. Dagegen bestehen Experten darauf, dass die Lücke von mindestens 100 000 Soldaten (bis der von der Nato erwartete Plafond von 200 000 Aktiven und 160 000 Reservisten erreicht ist) nicht allein über den Arbeitsmarkt geschlossen werden kann.
Das Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht darf auf der Agenda der künftigen Bundesregierung nicht fehlen. Verteidigung ist eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft. Wenn es stimmt, dass Europa von Rußland bedroht wird, und wenn richtigerweise damit gerechnet wird, dass die Schutzgarantie der USA bröckelt, dann ist der Ausbau der Bundeswehr als Teil zukünftig europäischer Streitkräfte das Gebot der Stunde.
Natürlich würden wehrpflichtige Frauen und Männer, wenn sie in der Kaserne sind, über Monate an anderer Stelle als Arbeitskräfte fehlen. Arbeitskräfte sind überall gesucht. Der Mangel an Personal steht schon jetzt dem wirtschaftlichen Aufschwung im Wege. Aber es gibt andere Stellschrauben. Stichworte sind Teilzeit und Frührente. Verglichen mit anderen europäischen Staaten wird in Deutschland zu wenig gearbeitet. Das ist schon lange bekannt. Trotzdem ist in den letzten Jahren nichts unternommen worden, den Trend umzukehren. Den Ton bestimmen nach wie vor Wohlfühlagenturen, die vorgaukeln, weniger Arbeit mache nicht nur glücklich, sondern steigere sogar die wirtschaftliche Produktivität. Gewerkschaften wie Verdi bringen das Kunststück fertig, in einem Atemzug den Stressfaktor Personalmangel zu beklagen und zusätzliche freie Tage für die Mitarbeiter zu verlangen. Genauso blind für die veränderte Lage sind die Sozialverbände, die unverdrossen ihre altbekannten Litaneien herunterleiern. Kirchenvertreter stimmen in den Chorus ein. Sie alle fühlen sich gut und merken nicht, dass ihre Gebetsmaschine längst eingerostet ist.
Eine Politik, die ernsthaft die Macht der Gewohnheiten angreifen will, braucht Mut. Sie müsste vor die Öffentlichkeit hintreten und zum Beispiel erklären, dass die Alterung der Gesellschaft ihren Preis hat und dass Nachhaltigkeit auch für die Sozialsysteme Pflicht ist. An diesem Mut fehlt es bisher beiden Partnern, Union und SPD. Für die Rentenversicherung ist die von der SPD verfochtene Haltelinie genauso Gift wie die Aufstockung der Mütterrente, ein Lieblingsprojekt der CSU.
Die mutmaßlichen Koalitionspartner riskieren viel. Sie sind drauf und dran, den Rat Macchiavellis in den Wind zu schlagen und den richtigen Zeitpunkt für die notwendigen „Grausamkeiten“ verstreichen zu lassen. In der SPD scheinen viele zu glauben, alles Heil liege im Rückzug auf alte verteilungspolitische Positionen. Aber als Vintage-Anbieterin wird die Sozialdemokratie nicht aus dem Tal der Tränen herauskommen. Die 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl waren kein Unfall, sie waren die Quittung für anhaltende Ideenlosigkeit. Noch mehr riskieren CDU und CSU. Friedrich Merz wird es wohl ins Kanzleramt schaffen. Vermutlich kann er sein Versprechen, die Regierungsbildung bis Ostern abzuschließen, einhalten. Deutschland wird endlich wieder eine Regierung haben, die handlungsfähig ist. Aber handlungsfähig wozu? Die bürgerlichen Wähler werden Merz mancherlei nachsehen, vielleicht sogar den Wortbruch bei der Schuldenbremse – Voraussetzung, mit dem frischen Geld wird nicht das Weiterso finanziert. Merz muss liefern, und zwar jetzt.
Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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