Katastrophe, Angst und Werden einer Nation
Von Wolfgang Bergsdorf
Die mitfühlenden Beobachter des Putin´schen Angriffskrieges im Westen und auch im Osten der von täglichen Bomben und Raketen gepeinigten Ukraine haben sich nur schwer vorstellen können, dass Russland seine Aggression noch steigern könnte. Noch leugnet der Kreml die Urheberschaft für die Zerstörung des Karchowska-Staudamms und will sie als Kriegsverbrechen der Ukraine verstanden wissen. Dies hat der russische Botschafter im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York suggeriert. Die Ukraine hatte eine Sondersitzung dieses Gremiums beantragt, um vor der Weltöffentlichkeit Moskau für diese unfassbare Katastrophe verantwortlich zu machen. Die Konstruktion des UN-Sicherheitsrates mit dem Vetorecht sowohl Russlands als auch Chinas sorgte freilich auch diesmal dafür, dass es zu keiner Verurteilung kam.
Dennoch spricht vieles für die Annahme, dass Russland den Staudamm zerstört hat. Seine Truppen besetzten schon bald nach Kriegsbeginn den Staudamm und auch das Wasserkraftwerk in der Nähe der Stadt Nowa Karchowska. In den ukrainischen Medien werden die Namen der Militäringenieure und ihrer Einheit genannt, die dort schon vor Monaten die Minen platziert haben, die am 6. Juni zur Explosion gebracht wurden. Durch den Bruch des Staudammes wurde die größte menschengemachte Katastrophe der jüngsten Jahrzehnte in Europa ausgelöst.
Unkontrollierte und unkontrollierbare Wassermassen überfluteten etliche Dörfer und auch Teile der Bezirkshauptstadt Cherson. Bei den Evakuierungsarbeiten in Cherson mussten die Helfer sogar russischen Beschuss aushalten . Dort, wo sich später Hunderte von Rettern und Geretteten versammelt hatten, lenkten die Russen ihre Marschflugkörper hin. Links und rechts des Flusses sind 80 Dörfer und Städte mit 40.000 Menschen von den Überflutungen betroffen.
Eine gute Nachricht an diesem desaströsen Nachrichtentag war immerhin die, dass das größte Atomkraftwerk Europas – Saporisch ja – nicht gefährdet sei, obwohl der obere Teil des Stausees dem AKW als Kühlwasserreservoir dient. Dies teilte die Wiener Atombehörde mit, deren Beobachter vor Ort sind. Inzwischen wird allerdings mitgeteilt, dass der Stausee auch im oberen Teil schnell an Wasser verliert, und die Kühlung des AKWs deshalb nicht mehr voll gewährleistet sei. Die überfluteten Flächen erreiche mittlerweile eine Ausdehnung von 600 Quadratkilometern.
Zu den desaströsen Nachrichten gehört die Zerstörung eines der komplexesten Wasserversorgungssysteme Europas. Darunter müssen nicht nur die von der Flutwelle unmittelbar Betroffenen leiden. Hunderttausende werden viele Monate lang ohne Trinkwasser und ohne Strom in Notunterkünften zurechtkommen müssen. Auch die Landwirtschaft wird stark beeinträchtigt. Riesige Ackerflächen werden ohne Bebauung und ohne Bewässerung bald zu Wüsten. Der Ausfall in der Nahrungsmittelproduktion der Süd-Ukraine dürfte weltweite Folgen haben, indem die Lebensmittel vor allem für afrikanische Länder verknappt werden. Die ukrainische Kornkammer wird durch die Flut um mehrere Jahre in ihrer Produktivität zurückgeworfen.
Natürlich hat der Bruch des Staudammes auch erhebliche militärische Folgen. Die seit Wochen erwartete ukrainische Gegenoffensive dürfte erschwert werden, auch wenn dies der Regierungssprecher in Kiew bestreitet. Die riesigen Wasserflächen lassen Angriffsoperationen mit schwerem Gerät nur bedingt zu. Das ist vielleicht auch das militärische Kalkül Russlands: die gigantische Überschwemmung erlaubt es den russischen Invasoren, ihr militärisches Personal umzugruppieren und vor allem zu konzentrieren. Einen Vorteil für Russland sieht zum Beispiel der russische Besatzungschef im südukrainischen Gebiet Cherson, Wladimir Saldo. Im russischen Staatsfernsehen sagte er: „Aus militärischer Sicht hat sich die operativ- taktische Situation zugunsten der Streitkräfte der Russischen Föderation entwickelt“. Denn die Wasserfluten hätten die ukrainische Gegenoffensive „ertränk“t.
Der bisherige Verlauf des Krieges hat deutlich gemacht, wie wenig die russischen Soldaten motiviert sind. Der Angreifer hat es immer schwerer als der Verteidiger. Überraschung, Überzahl und unfassbarer Rücksichtslosigkeit auf Menschen und Natur können den Mangel an Motivation allerdings kaum ausgleichen. Und noch etwas spricht für die Urheberschaft Russlands an dieser ökologischen Katastrophe: In ihren Besatzungszonen haben die Russen schon vor Monaten Menschen aus dem Gebieten evakuiert, die jetzt überschwemmt sind.
Es gibt ein weiteres Argument, das für die russische Urheberschaft des Dammbruchs spricht. Es stammt aus dem historischen Arsenal russischen Propaganda. Sie spricht jetzt nicht mehr davon, dass der russische Angriffskrieg der Befreiung der Ukraine dienen solle. Noch nicht einmal die Russischsprechenden im Donbass haben Putins Truppen – wie dieser erhofft hatte – mit Brot, Salz und Blumen begrüßt. Jetzt hat die Putin´sche Propaganda den Schalter umgelegt. Weil der kleinere Bruder Russlands sich gegen die Vormundschaft des Größeren sperrt, muss die Infrastruktur der Ukraine ebenso vernichtet werden wie ihre ökonomische und kulturelle Basis. Eine solche Flutkatastrophe könnte die Meinung des großen Bruders andeuten, dass Russland nicht mehr mit einem militärischen Sieg über die Ukraine rechnet und deshalb nach einem Rückzug möglichst großen Schaden hinterlassen will, zu dessen Reparatur der kleine Bruder Jahrzehnte benötigt.
Über die psychologischen Folgen des Angriffskrieges ist schon ausführlich debattiert worden. Dabei kristallisierte sich die Ansicht heraus, dass die Ukraine, falls zu Beginn des Krieges ihre nationalen Gefühle noch wenig ausgeprägt gewesen sein sollten, nun dank der russischen Aggression ein sehr starkes Nationalbewusstsein entwickelt hat. Jede russische Rakete und jede Drohne auf die Ukraine verstärkt dieses nationale Zusammengehörigkeitsbewusstsein. Die Flutkatastrophe des Karchowska-Staudamms hat ohne Zweifel zusätzlich dafür gesorgt, dass alle russischen Einsprengsel in dem ukrainischen Nationalbewusstsein ausgemerzt wurden. Das, was Putin gegenüber dem Westen so beklagt, nämlich dessen grundsätzliche Russophobie, ist in der Ukraine in reinster Ausprägung zu beobachten. Alles, was aus Russland kommt und von dort stammt, wird mit Skepsis und Misstrauen betrachtet. Das gilt selbst für Puschkin und Tolstoi, den Ikonen der russischen Literatur.
Man wird dies in Deutschlands nicht verstehen und noch weniger billigen können, wenn man das Wechselbad der nationalen Gefühle nicht am eigenen Leib erlebt hat. Der Krieg hat die enge Verwandtschaft zwischen Russland und der Ukraine in Feindschaft verwandelt. Russophobie heißt Angst vor Russland. Putin hat sicherlich recht, wenn er weltweit eine Zunahme der Russophobie beklagt. Denn die Angst vor russischer Aggressivität hat sich auch Ländern wie Finnland und Schweden bemächtigt, die deshalb von der Schutzgarantie der NATO profitieren möchten.
Ebenso wie beim Nationalgefühl der Ukraine hat Putin auch bei der NATO-Umgebung das Gegenteil dessen erreicht, was er beabsichtigt hatte, als er den Krieg begann. Dass dieser Krieg weltweit eine Teuerungswelle auslöste und das Prestige Russlands pauschal beschädigte, ist für den kleptokratischen Alleinherrscher in Kreml anscheinend keinen Gedanken wert. Dass aber seine Teilnahme am Gipfel der aufstrebenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) in Südafrika durch den verbindlichen internationalen Haftbefehl des Haager Gerichtshofes wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine gefährdet ist, das dürfte ihn schon sehr stören.
Im öffentlichen Diskurs werden die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf das Klima unseres Planeten nur marginal erörtert. Wenn sich selbst ernannte Klimaretter auf der Straße festkleben, ist das jede Schlagzeile wert. Wenn allein durch den militärischen Konflikt in der Ukraine 120 Millionen Tonnen CO2-Emissionen in die Atmosphäre geblasen werden, dann gerät dies zur Nebensache. Es gibt in der Tat bisher noch sehr wenig Forschung zu den ökologischen Folgen von Kriegen. Ein niederländischer Wissenschaftler hat diese Lücke erkannt und mit seinem Team die Forschungsergebnisse bei den UN-Klima-Verhandlungen in Bonn vorgestellt: 19 Prozent der Abgase werden durch zusätzlichen Spritverbrauch der russischen und ukrainischen Armeen erzeugt, 15 Prozent durch Feuer, die als Folgen von Beschuss in Frontnähe ausbrechen.
Den größten Teil der Emissionen – nämlich 50 Prozent – errechneten die Forscher aus dem Wiederaufbau der zerstörten Bausubstanz, für die vor allem emissionsreicher Zement benötigt werde. Allerdings sind diese Zerstörungen bisher ohne die Flutschäden berechnet worden. Ihr Ausmaß kann bis jetzt nicht einmal geschätzt werden. In der Klimagesamtrechnung für den Ukraine-Krieg werden auch die zusätzlichen Emissionen berücksichtigt, welche die internationale Luftfahrt durch ihre Umwege über Asien aufgrund der Sanktionen gegen Russland auf sich nehmen muss.
Es ist gut, dass es heute solche genauen Berechnungen über die klimatischen Folgenschäden eines militärischen Konfliktes gibt. Wir ahnen schon seit 100 Jahren, dass Kriege dem Klima schaden. Jetzt wissen wir es genau, und wir ahnen gleichzeitig, dass sich Aggressoren vom Schlage eines Wladimir Putin von solchen Überlegungen nicht beeindrucken lassen.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt. Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.