Von Günter Müchler

Günter Müchler

Es muss eine Festwoche gewesen sein für die Partisanen der Vielfalt. Italien, das Land der Machos, erhielt die erste Ministerpräsidentin. Großbritannien hat jetzt einen Premier, der Sohn indischer Einwanderer ist. Und in Frankfurt erhielt Kim de l’Horizon, laut Wikipedia eine „genderfluide nicht-binäre schweizerische Person“, den deutschen Buchpreis. Begeisterung über den dreifachen Diversity-Erfolg will indes nicht aufkommen.

Was die erwählte schweizerische Person mit dem grenzenlose Weite suggerierenden Alias-Namen angeht, mag die Zurückhaltung daran liegen, dass Literaturfreunde ungern zugeben, von dem Empfänger eines renommierten Preises bisher noch nie eine Zeile gelesen zu haben. Vielleicht auch ist die vor der Kamera ausgeführte Rasur des Haupthaars, die Solidarität mit protestierenden iranischen Frauen vorzeigen sollte, nicht richtig angekommen. Schade eigentlich. Denn in dem autofiktionalen Romanerstling „Blutbuch“ erweist sich Kim de l’Horizon als origineller Sprachschöpfer und schon von daher als preiswürdig. Die Wörter „Jemand“ und „Niemand“, genderseitig berüchtigt als hoch-toxisch weil maskulin affiziert, hat die schweizerische Person endgültig in den Orkus der vergehenden patriarchalischen Welt geschossen, indem er sie einprägsam durch „Jemensch“ und „Niemensch“ ersetzte. Darauf soll erst mal einer/e/s kommen!

Ganz schön sprachschöpferisch ist auch Georgina Meloni unterwegs. Keiner der ausnahmslos männlichen Vorgänger Melonis hat über den Funken Innovationskraft verfügt, der nötig ist, um angestaubte Ministerien in  „Für Made in Italy“, „Für Ernährungssouveränität“ oder „Für Familie und Geburten“ aufzuhübschen. Meloni kann. Frauenpower nennt man das. Von ihr haben einige einiges zu erwarten, zum Beispiel Silvio Berlusconi. Man wird sehen, wer hier in Zukunft mit wem bunga-bunga macht, die junge Blonde oder der mumifizierte Lustgreis.

Allerdings tun sich Feministinnen der ersten, zweiten und dritten Welle schwer mit der Aufsteigerin in Rom. Da hat man jahrzehntelang davon geträumt, dass irgendwann einmal eine Frau in das machistische Reservat Italien eindringt. Jetzt ist der Traum Wirklichkeit, und wieder ist es nicht gut. Meloni kommt von rechts, und wie. Ihre Partei heißt „Fratelli d’Italia“, „Brüder Italiens“. Schon das geht gendermainstreammäßig gar nicht. Schlimmer noch, die „Fratelli“ stehen irgendwo in der Nachfolge Benito Mussolinis, jenes kahlköpfigen „Duce“, der in seiner Jugend Juso war, um am Ende als Hitlers Kompagnon am Stiefel von seinen Landsleuten aufgehängt zu werden, mit dem Kopf nach unten.

Nein, eine echte „woke“ Erfolgsgeschichte ist Meloni höchsten dann, wenn man ihr einen geheimen dialektischen Sinn untermischt. Das gilt genauso für den britischen Staatsbürger mit Migrationshintergrund Rishi Sunak, den neuen Premier. Wohl war Sunak als Finanzminister anerkannt und insoweit ist er vielleicht wirklich keine schlechte Wahl für die Tories, die gerade dabei sind, ihre letzte Patrone zu verschießen. Dagegen haben die Anhänger der sehr einflussreichen postkolonialen Philosophie, die die ruhmreiche englische Geschichte auf Links drehen wollen, ein echtes Problem mit dem Einwanderersohn. Wie kann er, Abkömmling eines farbigen Volkes, auf dessen Knochen das britische Imperium gebaut wurde, vor Karl III. einen Diener machen – einem König, der doch unzweifelhaft ein alter weißer Mann und deshalb ein struktureller Rassist ist?  

Einen zweifelhaften Eindruck macht Sunak noch in einer weiteren Hinsicht. Sein Einzug in Downing Street 10 hat, was man nicht unterschlagen darf, die Kündigung der früheren Bewohnerin vorausgesetzt. Kundige munkeln, Liz Truss sei in Wahrheit das Opfer einer Gentrifizierung des Wohnungsbestands Westminster. War der Regierungssitz nicht schon von Boris Johnson innendrin derart aufgemotzt worden, dass man sich fragen musste, wie eine einfache Frau die Miete bezahlen soll? Bei Sunak, der als steinreich gilt, stellt sich diese Frage nicht. Dafür muss er mit dem Vorwurf leben, eine Frau auf die Straße gesetzt zu haben, eine Frau, die als erst dritte Premierministerin in der langen britischen Parlamentsgeschichte nun nicht mehr beweisen kann, dass die Verhältnisse eines Landes bei einer Frau besser aufgehoben sind.

Jemensch, der der Diversity-Bewegung angehört oder sie unterstützt, weiß, was „Intersektionalität“ bedeutet, nämlich die Kollision zweier Opfergruppen. Dieser schwerste anzunehmen Unfall, der die LGBTQIA+-Kommunität ereilen kann, liegt in der Causa Sunak/Truss vor. Frauen sind Opfer, Farbige auch. Wenn sie sich gegeneinander wenden, wenn sie in einen Binnenkrieg der Marginalisierten stürzen, kann nur einer davon profitieren: Der alte weiße Mann. Der heißt Boris Johnson und wartet darauf, dass seine Stunde schon noch einmal kommen wird. Irgendwann.

Oder sollten die Briten von den Tories endlich die Nase voll haben und Labour an die Macht holen? Für LGBTQIA+ wäre das ein Pyrrhus-Sieg, wenn überhaupt. Denn die Arbeiterpartei ist biederer als die Konservativen es sind, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei der Wahl eine „genderfluide, nicht-binäre britische Person“ ins Rennen schicken würden, geht auf null. Und eine Frau? Ausgeschlossen. Die Linke in Europa hat so etwas noch nie geschafft. Sie wirbt für Quotierung, wie man nur werben kann, was vermutlich nur ein Trick der linken Platzhirsche ist, es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen. Das mit der Frau an der Spitze, das sollen mal die Rechten machen. Thatcher, May, Truss  – alles Konservative. Merkel dito. Jetzt Meloni. Und Le Pen ante portas. Sollen sie mal, denkt sich im Berliner Kanzleramt Olaf Scholz. Er sei ein Feminist, hat der Sozialdemokrat nun schon ein paarmal versichert. Und dazu sein Cum-ex-ich-weiß-von-nichts-Lächeln aufgesetzt. 

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

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