Der 9. November – ein sehr deutsches Schicksalsdatum

Von Wolfgang Bergsdorf

Am 9.Nove,ber 1989 fiel die Mauer ©seppspiegl

Der 9. November ist ein magisches Datum in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Am 9. November 1918 wurde in Berlin von dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen. Fünf Jahre später, am 9. November 1923, erlebte München den Hitler-Ludendorff-Putsch. Es war das erste Mal, dass die nationalsozialistische Bewegung international wahrgenommen wurde. Wir wissen nicht, ob die beiden Putschisten damals als Vorbild den Staatsstreich vom 18. Brumaire im Sinn hatten, bei dem sich am 9. November 1799 Napoleon in Frankreich an die Spitze des cäsaristischen Systems gestellt hatte. Am 9. November 1938 erlebte das nationalsozialistische Deutschland überall im Lande antijüdische Pogrome, die die Nazis verharmlosend „Kristallnacht“ benannten. Und dann endlich – am 9. November 1989 – der glückhafte Moment, als in Berlin die Mauer fiel, die die Stadt seit 1961 gespalten hatte. Mit dem Fall dieser Barriere begann sich der Eiserne Vorhang in ganz Europa zu heben und die bis dahin dahinter eingesperrten Völkern waren frei.

Fast alle inzwischen tot

Die Protagonisten dieser Aufbruchszeit sind mittlerweile fast alle verstorben: Auf deutscher Seite gilt das für Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt. In Amerika für Ronald Reagan und George Bush Sr., in Frankreich für François Mitterrand und in Russland für den letzten sowjetischen Präsidenten, Michail Gorbatschow, der in diesem Sommer gestorben ist und der Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine noch öffentlich missbilligte. Der Kreml-Diktator, Wladimir Putin, hat ihm deshalb ein Staatsbegräbnis verweigert, weil die Glasnost- und Perestroika-Politik Gorbatschows zur Implosion der Sowjetunion führte, die Putin für die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts hält. Das verlorene Imperium wieder herzustellen, ist das allem politischen Handeln Putins zugrunde liegende Motiv.

Gerade vor dem Hintergrund der Aggression des aktuellen russischen Machthabers haben wir Deutschen allen Grund, uns voller Dankbarkeit und Respekt an Michael Gorbatschow zu erinnern, der vor 33 Jahren Helmut Kohl und Willy Brandt mehr getraut hat als Erich Honecker und Egon Krenz – immerhin Moskaus letzte „Statthalter“ in der DDR. Damals, am Folgetag des 9. November, ging es um die Frage, ob die Rote Armee in der DDR in ihren Kasernen bleiben oder sich mit Panzern gegen die für ihre Freiheit machtvoll demonstrierende DDR-Bevölkerung schützen werde. Gorbatschow nahm lieber den Verlust an Macht in Kauf, als seine Politik der Öffnung und Zusammenarbeit aufzugeben.

Vertrauen statt Misstrauen

Bundeskanzler Helmut Kohl und Praesident Michail Sergejewitsch Gorbatschow am 9.11.1990 in Bonn ©seppspiegl

Er gab damit den ersten Impuls zur Beendigung des Kalten Krieges gegeben und ermöglichte erste Schritte zur Abrüstung. Vor diesem Hintergrund konnte gefährliches Misstrauen abgebaut, freundschaftliches Vertrauen aufgebaut und der Weg zur deutschen Wiedervereinigung geebnet werden. Die Feststellung ist nicht übertrieben, dass Gorbatschow ein Glücksfall für Deutschland, aber auch für Europa und die Welt war. Heute kann man erkennen, wie eng das „Zeitfenster“ 1989 bis 1991 war, das die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas erlaubte. Schließlich wurde dies alles nur möglich, weil Gorbatschow Politik nicht als brutales Durchsetzen eigener Interessen verstand. Vielmehr erlernte er Politik als die Kunst des Möglichen und vor allem des Kompromisses, mit der auch konkurrierende und gegnerische Interessen wenigstens teilweise berücksichtigt werden müssen.

Der damalige sowjetische Staatschef kam schließlich aus einem totalitären System und hat sich diese zukunftsgewandte Grundeinstellung erst erarbeiten müssen. Dieser Lernprozess war zweifellos schmerzlich für ihn, aber er führte dazu geführt, dass Vertrauen zu anderen Personen und Institutionen eine neue Kategorie der sowjetischen Politik wurde. Hier drängt sich geradezu der Vergleich zu seinem Nachfolger Putin auf, der fast überall und in Allem das genaue Gegenteil der Persönlichkeitsstruktur Gorbatschows verkörpert. Er vertraut niemandem, er ist ruchlos und zynisch, hält sich an keinerlei Abkommen, Verträge und Regeln. Für ihn als eingefleischtem KGB-Geheimdienstmann ist physische Gewalt seit seinem Amtsantritt ein oft gewähltes Mittel der Politik.

Fragile Demokratie und Zeitenwende

 Der Kreml-Chef scheut sich nicht, persönliche Gegner im In- und Ausland durch seine Geheimdienste ermorden und politische Gegner von einer willfährigen Justiz ins Gefängnis und Straflager einsperren zu lassen. Und er schreckt nicht davor zurück, das Völkerrecht dann zu brechen, wenn dessen Regeln seinen Ambitionen widersprechen. So entschied er sich für den Krieg gegen Georgien 2008 und die Ukraine 2022, nachdem er bereits 2014 die Krim annektiert und im Donbass separatistische Kämpfe ausgelöst hatte. Er will die regelbasierte Weltordnung umwerfen, um die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 stellte die europäischen Länder in allen Bereichen der Politik vor völlig neue Herausforderungen. Der Beginn dieses Krieges markiert eine Zeitenwende, bei der jedermann spürt, wie fragil die Demokratie ist und wie stark sie von autoritären Systemen herausgefordert wird.

Nicht zuletzt vor diesem düsteren Hintergrund erinnert man sich geradezu mit Wehmut an den 9. November vor 33 Jahren, der Helmut Kohl nach Warschau geführt hatte. Am späten Morgen startete seinerzeit Bundeskanzler Kohls Hubschrauber am Kanzlerbungalow in Bonn und brachte ihn und seine Delegation zum Flughafen Köln/Bonn zur Boeing 707 „August Euler“ der Luftwaffe zum Flug in die polnische Hauptstadt. Kurz nach dem Start der Maschine begrüßte Helmut Kohl die mit ihm Reisenden und bat sie um Hilfe bei der schwierigen Aufgabe, die nun halb-demokratische Regierung Polens für freundschaftliche Beziehungen mit unserem Land zu gewinnen.

Die erste nicht kommunistische Regierung

Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpraesident Tadeusz Mazowiecki ©seppspiegl

Man muss sich hier in Erinnerung rufen, dass Polens Staatspräsident damals immer noch General Jaruzelski war, der 1981 den Kriegszustand ausgerufen hatte, um mit der Solidarnosc-Bewegung fertig zu werden. Mittlerweile hatten die Polen die ersten noch halbfreien Wahlen durchgeführt, die erstmals seit 1945 eine nicht kommunistische Regierung zum Ergebnis hatten. Die Maschine des Bundeskanzlers landete um 15:00 Uhr in Warschau, um 16:00 Uhr bezogen wir unsere Zimmer in einem neuen von den Schweden gebauten Hotel. Um 17:00 Uhr traf der Bundeskanzler mit seinem engeren Stab den schon damals international berühmten Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa.

Am Abend gab der neue Ministerpräsident Polens, Tadeusz Mazowiecki, für die deutsche Delegation ein feierliches Diner im Palais des Ministerrates. Ich saß damals am Tisch des kommunistischen Sportministers Alexander Kwasniewski, der sechs Jahre später als Parteiloser Nachfolger des ersten nichtkommunistischen Präsidenten Polens, des Nobelpreisträgers Lech Walesa, wurde. Während des Hauptgangs wurde der Bundeskanzler darüber unterrichtet, dass in Berlin die Mauer geöffnet worden war und der Deutsche Bundestag in Bonn in seiner Abendsitzung die Nationalhymne gesungen habe. So etwas war in der Geschichte des Bonner Parlaments noch nie geschehen. Nach dem Abendessen zog sich der Bundeskanzler mit seinen Beratern in seine Suite zurück, um die Konsequenzen dieser sensationellen Nachricht zu debattieren.

Statt Abbruch Unterbrechung

Kohl wollte verständlicherweise an den Ort des Geschehens, dorthin wo die Mauer fiel, also nach Berlin. Aber gleichzeitig wollte er nicht seine polnischen Gastgeber enttäuschen. Die polnische Seite hatte schon signalisiert, dass sie für den Abbruch des Besuches unter diesen sensationellen Umständen Verständnis haben würde. Kohl entschied sich gegen den Abbruch, aber für eine Unterbrechung des Besuches. Er flog am nächsten Morgen mit der Boeing 707 der Luftwaffe über die Ostsee nach Hamburg und wurde von dort mit dem Dienstflugzeug des amerikanischen Botschafters nach Berlin gebracht. Damals galten noch die Regeln des Viermächtestatus für den Flugverkehr nach und von Berlin.

In der geteilten Stadt angekommen, sprach er zunächst auf einer Veranstaltung des Senats mit Rednern wie Willy Brandt und dem Regierenden Bürgermeister Momper, in dem dieser für das Geschehen des Vorabends die Vokabel Wiedersehen fand und nicht Wiedervereinigung. Kohl erntete für seinen Redebeitrag, der sich optimistisch mit den neuen Möglichkeiten beschäftigte, nur Spott und Hohn. Anschließend gab es an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eine Kundgebung der CDU, deren Redner – unter ihnen wiederum auch Kohl – die neue Lage in angemessener und optimistischer Weise würdigten. Danach war jedem Politik-Interessierten klar: Heute startet der Prozess mit dem Ziel der deutschen Einheit.

Versöhnungsmesse in Kreisau

Bundeskanzler Helmut Kohl und Premierminister Tadeusz Mazowiecki nahmen in Kreisau an einen Gottesdienst teil ©seppspiegl

Wie der polnischen Regierung versprochen, flog Kohl am Abend des 10. November über Hamburg zurück nach Warschau. Dort herrschte Nebel, sodass der vorgesehene Hubschrauber-Flug am nächsten Morgen ausfiel und die Delegation des Bundeskanzlers noch in der Nacht mit Bussen in das verfallene Schloss und Gut des Widerstandskämpfers Graf Moltke im niederschlesischen Kreisau gebracht wurde. Dort wurde Kohl von den noch ansässigen Deutschen als ihr Bundeskanzler begrüßt und wohnte zusammen mit dem Premierminister Tadeusz Mazowiecki einer von dem Oppelner Bischof Alfons Nossol zelebrierten Messe bei.

Soweit der Tag des Mauerfalls und seine spannende Vorgeschichte.

Die schleichende Implosion der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa hatte das Thema der deutschen Einheit keineswegs über Nacht, wohl aber von Monat zu Monat unabweisbarer auf die Tagesordnung der deutschen wie der internationalen Politik gebracht. Dem Sturz des Honecker-Regimes und der Öffnung des Brandenburger Tores waren entscheidende Schritte vorausgegangen. Die wichtigste Voraussetzung war die zunächst wenig bemerkte offizielle Verwerfung der Breschnew-Doktrin durch Gorbatschow, die den neuen amerikanischen Botschafter in Deutschland, Vernon Walters, bei seinem Amtsantritt im April 1989 zu der heute noch erstaunlichen Voraussage veranlasste, dass es noch während seiner Amtsdauer zur Wiedervereinigung Deutschlands kommen werde. Damals hielt kein Deutscher die Wiedervereinigung seines Landes für möglich innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes, wie es die Amtsdauer eines Botschafters ist. Dass die Prognose von Vernon Walters in Erfüllung gegangen ist, war eine Meisterleistung des genauen Beobachtens, des gründlichen Nachdenkens und der vorausschauenden Diplomatie eines Mannes, der als Soldat, Geheimdienstler und schließlich als Diplomat die europäischen Verhältnisse diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges sehr gut einschätzen konnte. Er starb 2002 in Florida und wurde auf dem amerikanischen Heldenfriedhof in Arlington bei Washington D.C. beigesetzt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

- ANZEIGE -