Appeasement im Hinterhalt
von Dieter Weirich

Während Russland seine Sommeroffensive gegen die Ukraine mit grausamen Kriegsverbrechen auch gegen die Zivilbevölkerung eskaliert, werden die Rufe nach mehr Abschreckung lauter. NATO-Generalsekretär Mark Rutte will die Luft-und Raketenabwehr um 400 Prozent erhöhen, was in Deutschland ein Anstieg von 45 Milliarden Euro für Verteidigungsausgaben bedeuten würde.
Putins brutaler Angriffskrieg in der Ukraine ist für viele Betrachter nur ein Zwischenschritt. Der scheidende Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, glaubt an eine Expansions-Strategie des Diktators im Kreml, der die Kapitulation Kiews anstrebe. Im nächsten Schritt werde er mit Subversion in den baltischen Staaten die Beistandsverpflichtung der NATO, den Artikel 5 des Vertrages, testen.
Nächste Woche, am 24.und 25.Juni, kommt US-Präsident Donald Trump zum NATO-Gipfel nach Den Haag. Er wird dort – so der frühere ghostwriter des NATO-Generalsekretärs, Michael Rühle – bis „an die Grenze der Selbstverleugnung hofiert“. Nichts wird in der Choreographie dem Zufall überlassen. Viel Einigkeits-Demonstration, wenig Diskussion, so will man dem launischen Egomanen im Weißen Haus gefallen. Fünf Prozent Anteil für die Militärausgaben sind das im Konsens angepeilte Ziel
Während Bundeskanzler Merz den Russen vorwirft, in der Ukraine ein schlimmes Blutbad anzurichten, fallen prominente Genossen und Abgeordnete der regierenden Koalition ihrem eigenen, auf Wehrtüchtigkeit bedachten Verteidigungsminister Boris Pistorius in den Rücken. In einem „Offenen Brief“ wenden sich Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich, sein Kollege Ralf Stegner, der sich erst kürzlich auf eigene Faust mit Funktionären des Kreml getroffen hatte und Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel gegen den Aufrüstungskurs. Appeasement aus dem Hinterhalt, das man als Angriff auf SPD-Chef Klingbeil verstehen muss.
Das wird den Kriegsherrn im Kreml freuen. Die Renegaten berufen sich auf die Tradition der SPD als Friedenspartei , die auch mit der unschönen Erinnerung an machtopportunistische Genossen, die Einladungen an die freiheitliche polnische Gewerkschaft Solidarnoscz einst verboten hatten, verbunden ist.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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