von Günter Müchler

Verkehrt in die Einbahnstraße fahren sollte man vermeiden, kann aber vorkommen. Wer jedoch den denselben Fehler zweimal macht, der darf sich nicht wundern, wenn man ihn einen Geisterfahrer nennt. Die Rede ist vom linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie. Etliche Exponenten dieser Gliederung haben, angeführt vom ehemaligen Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, eine Erklärung verbreitet, welche die Partei auffordert, zur alten „Friedenspolitik“ zurückzukehren, und die unverhohlen auf den Parteivorsitzenden Lars Klingbeil zielt. Als Beitrag zum Wiederaufstieg aus der Talsohle, auf der sich die SPD befindet, taugt das Papier ganz und gar nicht. Es verweist die Partei auf den politischen und moralischen Holzweg.

Der Vorstoß kommt nicht überraschend. Schon lange staute sich in den linken Konventikeln der Frust. Es begann mit der Zeitenwende-Rede des Parteifreunds Olaf Scholz, damals Bundeskanzler. Die Ankündigung eines 100-Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr düpierte die Linken, die nur mit den Zähnen knirschen konnten. Ein zweites Mal überrumpelte Scholz die Genossen mit dem regierungsamtlichen Ja zur Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Deutschland. Eine Diskussion darüber ließ er nicht zu – er wusste warum. Schließlich kam der Wahlkampf, und in Wahlkämpfen ist Kritik an den eigenen Leuten bei Höchststrafe verboten. Wieder fand die Linke für ihren Zorn kein Ventil.

Dabei passte ihr die ganze Linie nicht mehr. Bei Forderungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius wie der, die Bundeswehr müsse „kriegstüchtig“ werden, sträubten sich den Partisanen des Friedensflügels regelmäßig die Haare. Dass Pistorius der mit Abstand der populärste unter den Spitzenpolitikern ist, schon gar unter denen der SPD, machte für sie die Sache nur noch schlimmer. Mit der Faust in der Tasche sah man zu, wie Klingbeil, ein entschlossener Unterstützer der Ukraine, das Interregnum nach der verlorenen Wahl dafür nutzte, seine Führungsrolle als Parteivorsitzender und Vizekanzler festzurammen. Das war zu viel. Warnschuss Nummer eins, obwohl auf Klingbeil abgefeuert, kostete Friedrich Merz die erforderliche Mehrheit im ersten Wahlgang. Der zweite Warnschuss ist das „Manifest“. Der ordentliche Bundesparteitag der SPD steht vor der Tür. Klingbeil braucht auf dem Kongress eine Bestätigung, die keine Fragen offen lässt.

Die prominentesten Unterzeichner des „Manifest“ sind neben Mützenich Norbert Walter-Borjans, der als kurzzeitiger Co-Parteichef nur ein Durchlauferhitzer war, sowie der Abgeordnete Ralf Stegner. Die drei vereint, dass sie weder als Hoffnungsträger durchgehen können noch in der Vergangenheit als Siegertypen aufgefallen sind. Vor allem Stegner genießt den Ruf eines „Putin-Verstehers“. Als unmittelbar vor dem ominösen 24. Februar 2022 von russischen Truppenaufmärschen an der ukrainischen Grenze berichtet wurde, warf Stegner den Medien „verbales Säbelrassen“ vor. Später wandte er sich gegen europäische Rüstungsanstrengungen mit dem Argument, sie zerstörten die europäische Friedensordnung – als hätte Putins Krieg davon etwas übriggelassen.

Ganz im Sinne Stegners prangert das „Manifest“ eine angebliche „militärische Alarmrhetorik“ an und verlangt vom Westen Vorfahrt für Dialog und Verhandlungen. Die Haltung Deutschlands und seiner Partner nach dem von Russland begonnenen Krieg findet mit keinem Wort Verständnis, im Gegenteil: „In Deutschland und den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen“. Der Duktus des Papiers ist bis zur Verwechslung Analysen ähnlich, wie man sie vom BSW und der AfD kennt. Außenpolitisch liest sich das „Manifest“ wie die Eröffnung von Koalitionsverhandlungen mit der AfD.

Klugerweise haben Merz und die Union nicht versucht, den Aufschlag der SPD-Linken parteitaktisch auszubeuten. Sie vertrauen auf Klingbeil und darauf, dass der Regierungskurs in Sachen Ukraine unverändert fortgesetzt wird. Klingbeil steht vor keinem leichten Parteitag. Zwar droht ihm nicht das Schicksal Helmut Schmidts, den seine Partei auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte im Stich ließ. Stand jetzt dürfte sich die große Mehrheit der Parteitagsdelegierten hüten, Kopf und Kragen zu riskieren, indem sie Klingbeil und der Koalition in die Parade fährt. Eine unlimitierte Lebensversicherung ist das freilich nicht. Der Sirenengesang der „Friedenspolitik“ ist in der SPD anschlussfähig, weit über linke Zirkel hinaus.

Ihr labiler Zustand macht die SPD zu einem Lazarett, in dem alles Mögliche als Therapie feilgeboten wird, auch Krankheiten. So sind die Verfasser des „Manifests“ davon überzeugt, dass der Partei das Debakel der letzten Bundestagswahl bei etwas mehr „Friedenspolitik“ erspart geblieben wäre. Man muss schon sehr fest im Glauben sein, um dieser These etwas abzugewinnen.

Der Zeitpunkt, an dem der Abschwung der SPD begann, lässt sich gut festmachen. 1980 holte die Partei unter dem Bundeskanzler Helmut Schmidt 42,9 Prozent der Wählerstimmen. Zwei Jahre später musste Schmidt das Kanzleramt räumen, nachdem ihm seine Partei im Streit um die Nachrüstung mit Mittelstreckenwaffen die Gefolgschaft verweigert hatte und die FDP das Weite suchte. Es dauerte 20 Jahre, bis die SPD wieder an die Regierung kam. Gerhard Schröder brachte es 2002 noch einmal auf 38,5 Prozent. Aber weil die Genossen alsbald durch Eigenscham den Erfolg der Agenda-Politik entwerteten, fand sich die SPD unversehens in der Opposition wieder, einem Aufenthaltsort, der nach dem kanonisierten Wort Franz Münteferings bekanntlich „Mist“ ist. Danach setzte sich der Niedergang fort. Olaf Scholz reichten 2021 unter sehr speziellen Umständen 25,4 Prozent zum Sieg. Es war ein Glücktreffer, wie sich dreieinhalb Jahre später herausstellte. Bei der Bundestagswahl 2025 stürzte die SPD ab auf 16,4 Prozent, historischer Tiefstand.

Die Ursachen sind vielfältig, die Entwicklung reicht weit zurück. Ein schwerer Fehler war, dass man unter dem Einfluß Egon Bahrs der von Willy Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik in den achtziger Jahren die dynamische Seite nahm und sie zu einer Status-quo-Bewahrungspolitik vertrocknen ließ. Freiheitliche Bewegungen im Ostblock wie die polnische Solidarnosc wurden als Störelemente wahrgenommen. Die Bürgerrechtler in der DDR blieben der SPD fremd. Stattdessen kam man den Machthabern in Ostberlin auf breiter Front entgegen, stellte den Wiedervereinigungsanspruch der Grundgesetz-Präambel ebenso infrage wie die gesamtdeutsche Staatsbürgerschaft. Alles, was an das Ziel der Einheit gemahnte, sollte als friedensfeindlicher Ballast aus dem Weg geräumt werden. Die Grünen machten dabei mit. Sie verlangten die Abschaffung des 17. Juni als Feiertag.

1987 verabschiedeten SPD und SED unter der reichlich akademischen Überschrift „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ wurde 1987 eine gemeinsame Erklärung. Sie wurde von der bereits in die Agonie eingetretenen DDR-Führung als Erfolg verbucht. Unbeeindruckt von den sich abzeichnenden weltpolitischen Veränderungen hielt die SPD noch im Wendejahr 1989 unverbrüchlich am „Friedensdialog“ mit den Einheitssozialisten fest. Unterbezirke schlossen Partnerschaften mit SED-Gliederungen, als die Mauer schon gefallen war. Die Quittung für die Geisterfahrerei wurde im März 1990 ausgestellt. Bei der ersten (und einzigen) freien Volkskammerwahl fiel der erhoffte und angeblich von der Vorsehung versprochene Sieg der SPD (immerhin lag die Wiege der Sozialdemokratie im Osten) ins Wasser. Stattdessen kassierte man eine krasse Schlappe.

Auch danach wurde mit den Illusionen der „Friedenspolitik“ nicht aufgeräumt. Gewiss waren an der sträflichen Verharmlosung Putins in den Zehnerjahren nicht nur Sozialdemokraten beteiligt. Aber was auf der einen Seite eher aus Bequemlichkeit geschah, entsprang bei führenden SPD-Politikern wie dem damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier der zum Glauben geronnenen Überzeugung, dass man Aggressoren besser nicht mit Stärke entgegentrete, sondern auf Vernunft und die Kraft des Wortes vertraue. Steinmeier hat sich für seine Realitätsblindheit später entschuldigt.

Die Diskussion darüber, wie die SPD aus der Krise herauskommen kann, steckt erst in den Anfängen. Der Schock, der auf das Debakel folgte, ist noch nicht verdaut. Lars Klingbeil setzt erkennbar auf Pragmatismus. Erfolgreiches Regierungshandeln soll der SPD helfen, den Abstand zum verlorenen Status der Volkspartei Schritt für Schritt zu verringern. Andere, wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer, vermissen ideelle Anstöße. „Sind wir mit unseren Ideen noch auf der Höhe der Zeit? Haben wir noch eine Idee, wohin sich dieses Land entwickeln sollte?“ Wieder andere sehen die Rettung in der Rückbesinnung auf das Thema soziale Gerechtigkeit. Bloß, auf welche Weise? Die Worte „Schröder“ oder „Hartz“ in den Mund zu nehmen, traut sich niemand. Außer Kurs gesetzt ist auch die umgekehrte Herangehensweise, die Methode Heil. Schweitzer ist nicht der einzige, der meint, das Bürgergeld habe der SPD mehr geschadet als genutzt, weil es am Ende ausgesehen habe „wie die Chiffre für einen Sozialstaat, der die Falschen belohnt und die Fleißigen bestraft“.

Was die „Friedenspolitik“ angeht, ist sie bestimmt nicht die Fackel, die der Sozialdemokratie in ihrer Ratlosigkeit ein Licht aufsetzen kann. Sie ist ein alter Hut, und niemand, der bei Trost ist, würde der SPD raten, ihn sich wieder aufzusetzen. Putin ist es mit der Vernichtung der souveränen Ukraine so ernst, dass er im vierten Jahr einen blutigen Krieg führt, einen Krieg, der Russland selbst bis zum Äußersten belastet. Die Hoffnung, ihn mit Diplomatie und guten Worten von seinem Ziel abzubringen, ist durch nichts gedeckt.

Friedenspartei“ zu werden, könnte der SPD noch nicht einmal zu dem Wohlgefühl verhelfen, auf der Seite der Guten zu stehen, etwas, wofür Pazifisten immer bereit sind, den Verstand auszuschalten. Vielmehr würde die SPD, folgte sie den Ratschlägen des „Manifests“, den um die nackte Existenz ringenden Ukrainern in den Rücken fallen und genauso den Polen, den Balten, den Moldawiern und den skandinavischen Völkern, die für sich das Schlimmste befürchten, sollte sich das von Russland beanspruchte Recht des Stärkeren durchsetzen. In Europa würde sich die SPD isolieren, als Bundesgenossen blieben ihr Victor Orban und Kräfte vom Schlage der AfD. Für eine Partei, die zu Recht auf ihre humanistische Tradition stolz ist, wäre das kaum das richtige Milieu.

Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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