Günter Müchler

Von Günter Müchler

Nach dem Einstieg in den Ausstieg (2002), nach der Kündigung des Ausstiegseinstiegs (2010), dem Wiedereinstieg in den Ausstieg (2011) und der Verschiebung des Ausstiegs (2022) hat die Kernenergie in Deutschland nun, am 15. April 2023, null Uhr, im Alter von 65 Jahren und nach kurvenreichem Leben das Zeitliche gesegnet. Für Jürgen Trittin, einen der Gründer der Grünen, hat sich der lebenslange Kampf gelohnt. Die Atomenergie, sagt er, habe keine Zukunft mehr. Womit er sich wohl täuscht. Zwar sind die letzten drei deutschen Reaktoren jetzt vom Netz. Aber während hierzulande abgeschaltet wurde, wird ringsherum zugeschaltet. In weiten Teilen Europas findet eine Renaissance der Kernenergie statt. Kopfschütteln herrscht über die Deutschen, die wieder einmal einen Sonderweg gehen.

Der Wiederaufstieg der aus Kernspaltung generierten Stromenergie begann beinahe unbemerkt. Bereits 2021 nahm die Produktion von Atomstrom in Europa um 7 Prozent zu. Das war vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Putins Angriffskrieg veränderte das energiepolitische Szenario grundlegend. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (mit der unrühmlichen Ausnahme Ungarns) beantworteten die „Zeitenwende“ mit dem Boykott russischer Erdgas- und Öllieferungen. Die daraufhin einsetzende, von enormen Preissteigerungen begleitete Energieverknappung sorgte dafür, dass in den Hauptstädten jetzt mit Vollgas auf die Nutzung der verbleibenden Ressourcen gesetzt wird, nicht zuletzt auf die Nutzung der Kernenergie. Die Zeichen stehen auf Zuwachs. Weltweit sind zurzeit 57 Kernkraftwerke im Bau. Die Internationale Energie-Agentur (IEA) prognostiziert die Steigerung der installierten Leistung von 415 Gigawatt (2022) auf 515 Gigawatt im Jahr 2030.

Auch Berlin reagierte auf den Ukrainekrieg. Aus Angst vor den politischen Folgen eines Winters mit kalten Heizungen scheffelte die Ampelregierung Milliarden in die Verbilligung von Strom und Gas für die Verbraucher. In einem für Deutschland völlig ungewöhnlichen  Eiltempo wurden Terminals für die Anlandung von Flüssiggas errichtet und die Gasspeicher gefüllt. Sogar die Grünen trauten sich was. Mit ihrer Zustimmung durften die letzten noch arbeitenden Atommeiler Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland ihren Betrieb über das eigentlich zum Jahresende vorgesehene Abschalten hinaus fortsetzen – für ganze dreieinhalb Monate.

Inzwischen ist der Winter vorüber. Weil er wärmer war als befürchtet, kam es zu keinem Blackout. Kein Kälteaufstand trieb die Wähler auf die Barrikaden. Erleichtert schaltete die kurzzeitig verunsicherte Koalition wieder auf ideologischen Normalbetrieb. Trotz zaghafter Proteste der FDP erfolgte keine nochmalige Verlängerung für die drei Rest-AKW‘s. Sie hatten zuletzt noch 6 Prozent des Strombedarfs gedeckt. Atomkraft ex est, Atomstrom war einmal.  Die vorübergehend irritierten Grünen sind wieder mit sich im Reinen. Ein wichtiges Kapitel deutscher Industrie- und Energiepolitik ist abgeschlossen.

Es hatte unmittelbar nach dem Krieg ziemlich aufregend begonnen. Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass die 1957 gegründete Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) ein Meilenstein beim Aufbau des Vereinten Europa war. In Vergessenheit geraten ist auch, dass der Begriff „friedliche Nutzung der Kernenergie“ einmal synonym für Fortschritt gebraucht wurde. Für die deutsche Sozialdemokratie besaß er den Charakter einer Heilsbotschaft. In der Einleitung ihres Godesberger Programms (1959) sah die SPD die Menschheit an der Eingangspforte eines Paradieses auf Erden. Geradezu hymnisch predigte das Programm, „dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen“ könne, wenn er „seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke“ einsetze.

Wie es weiterging, ist bekannt. Die Atom-Euphorie hielt noch eine Weile an. 40 Atommeiler wurden gebaut. Über das Deutsche Atomforum wurde die Entwicklung politisch gefördert, auch von der  1969 in Bonn an die Macht gekommene sozialliberale Regierung. Bis Mitte der siebziger Jahre dann der Umschwung einsetzte. Am Anfang trug die Skepsis konservative Züge. Der Club of Rome prophezeite das „Ende des Wachstums“. Im badischen Wyhl gingen die Weinbauern auf die Straße. Schon vorher hatten „Lebensschützer“ vor radioaktiven Schäden gewarnt. Der völkische „Weltbund zum Schutze des Lebens“ sorgte sich um die „Erbgesundheit“ des deutschen Volkes.

Ganz anders ging die 1980 gegründete öko-pazifistische Partei der Grünen an die Sache heran. Die Grünen verstanden es, die Bedenken der Naturschützer und die ungelöste Frage der atomaren Endlagerung mit dem Kampf gegen die „unfriedliche“ Nutzung der Kernenergie, vulgo: dem Kampf gegen die Nato-Nachrüstung zu verbinden. 1986 fand die Katastrophe von Tschernobyl statt und befeuerte das im Ausland mit Befremden aufgenommene Phänomen der „german angst“. Aus der einst durch naive Fortschrittsgläubigkeit utopisch überfrachteten Energiequelle Atom wurde ein Schreckgespenst. Die Parole „Atomkraft. Nein danke!“ eroberte den Zeitgeist. Folgerichtig beschloss die Regierung Schröder 2002 den Ausstieg.

Acht Jahre später zog die schwarz-gelbe Koalition unter Angela Merkel nach. Zuerst hatten Konservative und Liberale Schröders Entscheidung gekippt. Dann kippten sie selbst um: Nach nur viereinhalb Monaten annullierten sie ihren Richtungsschwenk durch eine neuerliche Kehrtwende, diesmal in Richtung auf das endgültige Aus. In Japan war das Kraftwerk Fukushima havariert. Obgleich das Unglück auf einen Tsunami zurückging, mit Nukleartechnik nichts zu tun hatte und im Nachgang kein einziger Mensch an Strahlenschäden starb, wurde in Berlin das Ereignis als Beweis für die unbeherrschbaren Risiken der Atomstromproduktion verkauft. Angela Merkel hatte wohl gehofft, mit ihrer Blitzwende die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg für die CDU beeinflussen zu können. Eine Fehlrechnung: Die Union verlor, die Grünen gewannen und installierten in Stuttgart den bundesweit ersten grünen Ministerpräsidenten.

Ob die Kernenergie in Deutschland jemals wieder eine Chance bekommt, ist mehr als fraglich. Selbst die Betreiber signalisieren Desinteresse, ein Umstand, mit dem die Grünen hausieren gehen. Aber die Genugtuung der Grünen ist pharisäerisch. Die Vattenfall, EnBW und andere halten die Kernenergie keineswegs für antiquiert. Sie kapitulieren vielmehr vor vierzig Jahren Angst-Politik, die das Vorhalten einer einst erfolgreichen Industrietechnik betriebswirtschaftlich unsinnig gemacht hat.

Durchgesetzt haben sich die Grünen und innerhalb der Grünen die Älteren, die um jeden Preis am Gründungsmythos der Partei festhalten. Die Logik der von Scholz verkündeten „Zeitenwende“, dass gegen politische Erpressung nur die Nutzung aller Möglichkeiten hilft, über die man autonom verfügt (Habeck: „Jede Kilowattstunde zählt“), prallt wirkungslos an ihnen ab. Auch das Beispiel der Nachbarn: In Europa ist Deutschland der einzige Aussteiger.

In Frankreich, das 70 Prozent des Stromverbrauchs durch Kernenergie abdeckt, ist ein neuer Atommeiler in Bau. Acht weitere sind geplant; sie sollen Ältere ersetzen. Auf Kernenergie setzen Großbritannien und Tschechien. In den Niederlanden, wo 2021 der Ausstieg verkündet worden war, sollen zwei neue Reaktoren in Angriff genommen werden. Italien und Polen, die bislang atomkraftfreie Zonen waren, ist der Einstieg beschlossen. In Finnland geht demnächst der sechste Reaktor ans Netz – mit Zustimmung der finnischen Grünen.

Sind alle Nachbarn verblendet? Ist die ganze Welt auf dem Holzweg? Der mit moralischer Überheblichkeit gewürzte deutsche Alleingang ist eine Wette mit dem Teufel. Schon jetzt ist die Sicherheit der Energieversorgung mehr Hoffnung als Tatsache. Fachleute bezweifeln, dass der bei den Planzielen der Bundesregierung enorm steigende Bedarf an elektrischer Energie allein durch die Erneuerbaren gedeckt werden kann. Von den Begleiterscheinungen ganz abgesehen: Schon jetzt hat die Bedeckung durch Windräder zur größten vom Menschen verursachten Landschaftsveränderung geführt. Wird der Zubau nach Habecks Vorstellungen um ein Vielfaches beschleunigt, werden ganze Regionen voll verspargelt sein und das Antlitz Deutschlands nicht mehr vom sprichwörtlichen deutschen Wald geprägt sein, sondern von metallenen Lulatschen. Kein Ruhmesblatt für eine Partei, die lauthals für den Naturschutz eintritt.

Die mit großer Geste versenkte Kernenergie hat, im Übrigen, einen hohen Preis. Ursprünglich sollte die Kernenergie als Brückentechnologie fungieren, bis auf die fossilen Energieträger ohne Schaden verzichtet werden könne. Dieser Ansatz stand schon unter Merkel nur auf dem Papier. Inzwischen ist er vom Tisch. Habeck bettelt überall um Gas, sogar bei notorisch frauen- und queer-feindlichen Scheichs. Schlimmer noch: Stein- und Braunkohle, die nach grüner Lehre im innersten Kreis der danteschen Hölle angesiedelt sind, müssen immer mehr produzieren. Dass Deutschland damit seine Klimapolitik, die es anderen immer wieder oberlehrerhaft zur Nachahmung vorhält, konterkariert, kann in Europa niemand verstehen.

Vergangenes Jahr hatte die EU-Kommission der Kernenergie Ökologietauglichkeit attestiert, weil bei der Produktion kein Treibhausgas emittiert wird. Den „europäischen Musterschüler“ Deutschland ficht das nicht an. Auf dem Höhepunkt der Energiekrise beerdigt Deutschland die Kernenergie und lässt die Schaufelbagger weiter Kohle schaufeln. Dieser Widerspruch wird die Bundesregierung noch lange belasten wie Pech an den Stiefeln. Warum sollen sich Bürger fürs das Klima queer-legen, wenn es die Oberen so mit der Glaubwürdigkeit halten? 

  Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

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