Von Günter Müchler

Günter Müchler

Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System“. Keiner muss sich schämen, wenn er bei diesem Worttausendfüßler nur Bahnhof versteht. Geläufiger ist das Akronym Taurus. Es bezeichnet ein Waffensystem, das die Ukraine unbedingt haben will, dessen gepriesene Zerstörungskraft aber bisher nur innerhalb der Berliner Ampelkoalition ausprobiert wurde. Taurus ist lateinisch. Übersetzt heißt es Stier, und auch Menschen ohne humanistische Bildung wissen, dass man ihn bei den Hörnern nehmen muss, wenn Unheil vermieden werden soll. Dieses ist jedoch längst eingetreten. Taurus steht stellvertretend für die vielen Halbherzigkeiten, welche die Drei-Farben-Koalition in die Lage gebracht haben, in der sie sich befindet.

Berlin im März: Die nahe Zukunft lastet auf der Regierung wie ein Kettenhemd. In einem Vierteljahr steht die Europawahl an. Außerdem wird in zahlreichen Kommunen gewählt. In einem halben Jahr geht der Hindernisparcours weiter mit drei Landtags-Urnengängen in Ostdeutschland, die voraussichtlich über das weitere Schicksal der an der Spree Regierenden bestimmen werden. Und kein Mittel weit und breit, um die ungute Großwetterlage zu drehen. Die Freigabe von Cannabis dürfte der „gamechanger“ nicht sein – also die politische Entscheidung, die das Wahlvolk in Jubel versetzt.

Es passiert derzeit nicht viel in Berlin. Offenbar haben Scholz, Habeck und Linder beschlossen, sich einzugraben, jeder für sich. Die Suche nach Lösungen, soweit sie Kompromisse erfordert, ist ausgesetzt. Vordringlich kümmern sich die Parteien um die Schaufensterdekoration. Gezeigt wird nicht, was man gemeinsam erreicht hat. Gezeigt werden die Unterschiede. Lindner propagiert das Sparen und wirbt für einen Sozialstopp. Habeck will den Klimaschutz voranbringen. Womit? Mit Schulden. Was Scholz will, ist wie immer unklar.

Den Glauben daran, er – der ehemalige Finanzminister – stehe wie eine Eiche für die Schuldenbremse, hat er selbst zerstört, indem er dem Bundeshaushalt einen Bastard an die Seite stellen wollte, nämlich den nie versiegenden Brunnen der Sonderhaushalte. Die Idee war nur scheinbar pfiffig. Das Bundesverfassungsgericht machte einen Strich durch die Rechnung. Seitdem hat der Kanzler ein Problem: Er muss Prioritäten setzen. Besser: Er müsste es. Aber genau das ist seine schwache Seite.

Zugegeben: Der klinische Befund der Ampel ist so, dass Ärzte und Apotheker von muskulösen Anstrengungen abraten. Auch darf man nicht außer Acht lassen, dass das Glück ruhiger Zeiten dieser Regierung von Anfang an nicht beschieden war. Aber die mantrahafte Entschuldigung mit den bewegungsarmen Merkel-Jahren und den zahlreichen Baustellen hört irgendwann auf zu überzeugen. Nein, Halbherzigkeit, Dein Name ist Scholz. Nirgendwo lässt sich das Ungenügen des Kanzlers besser ablesen als am Beispiel der Ukrainepolitik.

Als Scholz vor zwei Jahren die Zeitenwende ausrief, applaudierte sogar die Opposition. Scholz nannte Täter und Opfer des Überfalls mit Namen. Die Einrichtung eines 100-Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr war nach den vielen Jahren der Vernachlässigung ein notwendiger Weckruf. In der Folge gelang es dem Kanzler allerdings immer wieder, sich selbst in die Parade zu fahren. Deutschland war in den vergangenen zwei Jahren in puncto Geld und Gerät Motor der Ukraine-Unterstützer. Aber statt sich dafür feiern zu lassen, brachte es Scholz durch sein Zögern und seine Unbestimmtheit fertig, unser Land als Bremsklotz dazustehen zu lassen.

Schlechte Kommunikation? Die Fehler liegen tiefer. Soll man sagen: Die Ukraine muss den Krieg gewinnen? Oder sagt man besser: Sie darf ihn nicht verlieren? Was wie ein Streit um Worte aussieht, spiegelt Scholz‘ Angst, Putin zu reizen. Dabei lassen sich Aggressoren durch Nachgiebigkeit am wenigsten an die Kette legen. „München“, das Zurückweichen vor Hitler von Chamberlain und Daladier, von Briten und Franzosen 1938, sollte eine Lehre sein.

Aber was macht Scholz? Statt Putin im Unklaren darüber zu lassen, womit er zu rechnen hat, teilt er ihm öffentlich mit, was er nicht fürchten muss. Erst war es der Leopard-Panzer, den die Ukraine nicht bekommen sollte. Putin, so dachte man im Kanzleramt, könnte die Stirn runzeln. Jetzt geht es um den Taurus. Und wieder erhält er von Scholz eine beruhigende Nachricht. Der Stier wird nicht auf Russlands Bunker losgelassen. Hugh, ich habe gesprochen.

Zweifellos ist Scholz im Recht, wenn er auf die hohe Reichweite des Taurus hinweist. Sie unterscheidet das Waffensystem von den französischen SCALP und den britischen Storm Shadow. Und Scholz hat abermals Recht, wenn er (Genau wie die wie die Nato-Partner) vermeiden möchte, tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden. Aber es hat mit Besonnenheit nichts zu tun, wenn er sich vom Gegner ständig in die Karten blicken lässt. Genau das Gegenteil tut der französische Präsident Macron. Er hält die Option von Bündnissoldaten auf ukrainischen Boden offen. Indem der Kanzler, statt Putin zu warnen, ständig rote Linien aufmalt, an die er sich selbst halten will, bestärkt er das Bild, das der russische Präsident von den „Weicheiern“ im Westen hat. Und er brüskiert die Ukrainer.

Scholz sieht sich nicht als Appeasement-Politiker. Was er übersieht, ist, dass man zum „Munchenois“, wie man in Frankreich sagt, auch werden kann, ohne es zu wollen. Die militärische Situation hat sich in den vergangenen Monaten zuungunsten der Ukraine verschoben. Darin sind sich die Fachleute einig. Es mangelt den Verteidigern an vielem.  Hauptsächlich mangelt es ihnen an der Fähigkeit, die Versorgungslinien des Feindes nachhaltig zu stören. Ohne diese Fähigkeit aber ist ein Verteidigungskrieg gegen einen an Masse überlegenen Gegner nicht zu gewinnen. Der Taurus ist gewiss keine Wunderwaffe. Aber mit seinen Möglichkeiten könnte die Ukraine zum Beispiel die Brücke zur Krim, über die sehr viel vom russischen Nachschub geht, unbrauchbar machen.

Der Kanzler habe ein Machtwort gesprochen, heißt es in seiner Umgebung. Man sollte besser nicht darauf vertrauen, dass der Druck auf Berlin nachlässt. Über das Ringtausch-Angebot des britischen Außenministers Cameron war man im Kanzleramt alles andere als amused. Und tatsächlich ist es ja auch für Deutschland ziemlich peinlich. Peinlich und zugleich ärgerlich ist für Scholz zudem, dass das Angebot im Auswärtigen Amt von Amtschefin Baerbock nicht sogleich vom Tisch gewischt wurde.

Die meisten Grünen sind für die Taurus-Lieferung, die meisten Liberalen auch. Und in der Kanzlerpartei finden längst nicht alle Genossen an der Idee Gefallen, die SPD könne sich über das Taurus-Nein im Wahlkampf als Friedenspartei verorten. Die Ablehnung des Unionsantrags im Bundestag bedeutet in diesem Zusammenhang wenig. Trotz der verzweifelten Mahnung des SPD-Generalsekretärs, die Diskussion über die stiernackige Drohne ein für alle Mal einzustellen: Es wird nicht gehen. Die Diskussion ist wie Klebstoff an den Schuhen des Kanzlers. Ihn abzustreifen, dazu reicht seine Autorität nicht mehr aus.

Dabei wäre gerade jetzt Autorität erforderlich. Es ist kein Schlechtreden, wenn man feststellt, dass vieles faul ist im Staate Dänemark. Die Streikwelle, die gerade über das Land peitscht, hat uns gerade noch gefehlt. Lokführer legen die Bahn lahm, Verdi stoppt den Luftverkehr. Krankenhausärzte streiken. Was die Bauern angeht, muss wohl erst die Ernte kommen, ehe sie aufhören, mit ihren subventionierten Dieseltraktoren Straßenkreuzungen zu blockieren. Streik ist in, so sehr, dass die um Atem ringenden Fridays for future es sinnreich fand, Verdi beim Bestreiken des Öffentlichen Nahverkehrs zu helfen. Dass der Streik in Tateinheit mit Weselskys Tollheiten der Verkehrswende einen Bärendienst erweist und damit dem Klima – wen kümmert’s.       

Das Streikrecht ist im Grundgesetz verankert. Und wenn die Gewerkschaften einen Ausgleich für die Inflation erstreiten wollen, sollten Politiker sich mit Kommentaren zurückhalten. Das ist guter Brauch. Aber wenn die Funktionäre der Lokführer-Gewerkschaft – und sie sind nicht die einzigen – die Reduzierung der Arbeitszeit auf ihre Transparente schreiben, ist Ende Gelände. Schon jetzt wird zu wenig gearbeitet in Deutschland. Der Arbeitskräftemangel lähmt Wirtschaft und Daseinsvorsorge. Darauf mit der Forderung nach der 35-Stunden-Woche zu reagieren, ist eine derartige Sünde gegen den Verstand, dass eine Regierung, die dazu schweigt, sich mitschuldig macht. Das Problem ist nur, dass viele in der Regierung, Grüne und SPD voran, lieber in der Ruhmeshalle der Förderer der „work-life-balance“ stehen möchten, als dem Volk die Wahrheit zu sagen. Halbherzigkeit auch hier. Im Herbst spricht man sich wieder.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

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