Von Gisbert Kuhn

Willi Reiche ©seppspiegl

Manchen Menschen wird des Öfteren der Verdacht angehängt, bei ihnen piepse es wohl. Das ist meistens nicht sehr wohlgemeint. Wenn dagegen Willi Reiche nachgesagt wird, bei ihm klappere es, dann ist das schlicht und einfach so. Und von Anfang April bis zum 28. Mai wird es auch im kleinen Voreifel-Städtchen Rheinbach klappern. Denn Willi Reiche ist Kinetikkünstler und stellt im Rheinbacher Glaspavillon an der dortigen Glasfachschule seine neuesten Kreationen aus – eine aus 12 Objekten bestehende, sozusagen das Leben und dessen Stationen, Vorlieben und Umstände umfassende Reihe unter der Rubrik „Von der Wiege bis zur Bahre“. Natürlich eingebettet in die  motorische Bewegung von Schwungrädern, Gestängen und Wellen.

Was für die meisten Zeitgenossen schlichtweg Schrott oder – bestenfalls – museumsreifer Industrierest ist, das ist für Willi Reiche der Stoff, aus dem seine Kunstwerke entstehen. Kinetik, das ist im trockenen Technikdeutsch  der Teilbereich der Physik, der die Lehre von den Bewegungen unter dem Einfluss innerer oder äußerer Kräfte umfasst. Kinetik ist mittlerweile aber auch jene Richtung der modernen Kunst, die mit beweglichen Objekten  oder Spiegelungen von  Licht variable Erscheinungen erzeugt. „Urvater“ dieses Zweigs menschlicher Gestaltungs-Fantasie war der Schweizer Jean Tinguely (1925 – 1991) mit seinen lärmenden, völlig nutzlosen, aber vielleicht gerade deshalb die Betrachter so faszinierenden Maschinen. Die Stadt Basel hat ihm ein eigenes Museum geschaffen.

Willi Reiche mit dem Baldachin des Senium ©seppspiegl

Willi Reiche macht auch gar kein Hehl daraus, an diesem Mann sein eigenes künstlerisches Maß angelegt zu haben. Aber anders als der berühmte Schweizer zieht Reiche eine eher poetische Herangehensweise dem Lärmenden, mitunter sogar Brutalen vor. In einem Punkt, freilich, sind sich die beiden Schrott-Verschönerer einig – dass nämlich gerade in der Nutzlosigkeit die eigentliche Schönheit dieser Kunst liege.  Reiche hat für den jetzt in Rheinbach ausgestellten Zyklus „Von der Wiege bis zur Bahre“ nicht zufällig die Stückzahl „12“ ausgewählt. Die Zahl ist historisch von einer Bedeutung, die sowohl Religionen als auch  Mythologien übergreift. Schon in der Antike schrieb man ihr Besonderheit und Vollkommenheit zu.

Tatsächlich unterscheidet sich der im Rheinbacher Glaspavillon zu betrachtende Komplex damit fundamental von Reiches bisherigen Kunstmaschinen. Diese hatten , jede für sich, eine eigene Geschichte und eine eigene Bezeichnung. Anders der Show in Rheinbach. Hier sind 22 Komplexe menschlichen Daseins zu einem Gesamtszenarium zusammengefasst. Eben „von der Wiege bis zur Bahre“. Einige Objekte beziehen sich konkret auf ein Datum oder eine Begebenheit. Zum Beispiel auf die Geburt oder den Tod. Andere auf ein bestimmtes Stadium dazwischen, die auf eine berufliche Tätigkeit (etwa Handwerk oder Medizin) oder Vorliebe hindeuten wie z. B. Mobilität.

Von der Wiege bis zur Bahre, das Totenbett ©seppspiegl

Jede der 12 Phasen wird natürlich von einem oder mehreren dieser skurrilen Kunstgebilde aus Metall oder Holz oder Beidem „begleitet“. Sie umfassend zu beschreiben, ist nahezu unmöglich; man muss sie ganz einfach selber sehen, betrachten und daraus seine eigenen, individuellen Deutungen ziehen. Da ist, beispielsweise, im Kapitel „Mobilität“ jene seltsame, auf einer langen Stange mit zierlichem Dreifuß aufgebockte Kreatur, die irgendwie an einen Vogel Strauß erinnert, an der man jedoch bei genauerem Hinschauen einen alten Motorrad-Soziussitz, dessen Spitze auf einen ebenso betagten Motoradtank weist. Seine wahre Dynamit erhält das Ding aus den beiden verschieden farbigen Kälbermilch-Wärmern, die  – elektrisch angetrieben – vor und zurück pendeln.

Es soll hier tatsächlich nicht die Ausstellung in  ihren einzelnen Segmenten beschrieben werden. Bemerkenswert für die Zuschauer dürfte nicht zuletzt die Interaktion zwischen Betrachter und Betrachtetem sein. Alle 12 Werke sind nämlich mit speziellen Bewegungsmeldern versehen, die bei Annäherung für ein bestimmtes Zeitintervall aktiviert werden – sei es, dass ein ganzer Apparat plötzlich zu leben beginnt, sei es, dass sich Beleuchtungskörper bemerkbar machen. Und nicht zuletzt – die Tatsache, dass zur Herstellung all dieser (am Ende) Kunststücke ausschließlich „Grundstoffe“ verwendet wurden, soll auch daran erinnern, in welcher Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft wir uns noch immer bewegen.

“Kindheit” © Willi Reiche

Wer Willi Reiche in seinem Atelier und seiner Werkstatt in der linksrheinischen Verbandsgemeinde Wachtberg vor den Toren der alten Bundeshauptstadt Bonn besucht, meint sich zunächst in eine historischen Dorfschmiede verlaufen zu haben. Für diesen Eindruck sorgen allein schon die hölzernen Räder zum Antreiben von Transmissionsriemen an der Decke. Und auch die alten Pflugscharen und musealen Heuwender im Hof. Kann da jemand den Überblick behalten? Es ist wirklich verblüffend. Der 1954 in Fürth geborene (zwar studierte Kunstgeschichtler) aber trotzdem autodidaktisch groß gewordene Kunstmaschinist Reiche kennt jedes einzelne Stück, weiß um seine Geschichte und hat nicht selten frühzeitig zumindest schon die Grundidee im Kopf, welche Art von Veredelung man damit vornehmen könnte.

© Tania Beilfuss

Übrigens: Wer zum Einkaufzentrum Berkum möchte, kommt automatisch an dem Kreisverkehr mit der eisernen, fünf Meter hohen Drachenskulptur auf der Mittelinsel vorbei. Der Drachenbau wurde als Schulprojekt mit sieben Schülern der Wachtberger Hans-Dietrich-Genscher-Schule unter der Leitung von Willi Reiche realisiert. Der Drache ist das Wappentier der vor 50 Jahren aus mehreren Ortschaften zusammen gefügten Verbandsgemeinde. Interessanterweise heißt die Landschaft in und um Wachtberg „Drachenfelser Ländchen“, obwohl sich der Namensgeber Drachenfels auf der gegenüber befindlichen Rheinseite im Siebengebirge befindet. Jedenfalls beschlossen die Bürger zum Jubiläum des halben Jahrhunderts, sich die Fabelechse zum Wappentier zu wählen. Und nun steht sie da, geschmiedet von dem Team der Schüler und Willi Reiche.

Ausstellung „Von der Wiege bis zur Bahre“

  1. 03. – 28. 04. 2023

53 359 Rheinbach

Glaspavillon „Hans-Schmitz-Haus“

An der Glasfachschule 4

Öffnungszeiten: Nach vorheriger Vereinbarung kann die Ausstellung jeweils sonntags ab 11 h besucht werden.

e-mail: info@willi-reiche.de

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