Die demokratischen Säulen geraten ins Wanken (I)
Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration, Pandemie – die Menschen fühlen sich zunehmend überfordert
Von Wolfgang Bergsdorf
Von Winston Churchill, Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1953, stammt die Feststellung: „Man hat von der Demokratie gesagt, sie sei die schlechteste Regierungsform überhaupt – mit Ausnahme aller anderen, mit denen man es von Zeit zu Zeit versucht hat.“ Der mehrfache Premierminister von Großbritannien, der ältesten Demokratie der Welt, wird seine Gründe für diese verhaltene Bewertung der politischen Ordnung gehabt haben, die er in einer Rede im Unterhaus im November 1947 vortrug. Immerhin wurde er nach einer äußerst erfolgreichen Regierungszeit, in der er wesentlich zur Niederlage des Nationalsozialismus beigetragen hatte, wenige Wochen nach Kriegsende von den Wählern abberufen und durch den farblosen Clement Attlee ersetzt. Und das mitten in der Potsdamer Konferenz, auf der die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges über die Nachkriegsordnung zu entscheiden hatten. Die britische Position wurde so durch die Abwahl Churchills gegenüber dem Diktator Stalin geschwächt.
Das amerikanische Beispiel
Wie fragil die Demokratie auch in der 3. Dekade des 21. Jahrhunderts ist, haben uns die Vorgänge rund um die amerikanische Präsidentschaftswahl verdeutlicht. Die Väter der amerikanischen Verfassung hatten vor fast 250 Jahren versucht, die neue Ordnung durch cheques and balances, durch Kontrollen und Ausgleichsmechanismen wie zum Beispiel Gewaltenteilung, gegen innere Putschversuche zu immunisieren. Dennoch bedurfte es jetzt eines Urteils des Obersten Bundesgerichtes, um Joe Biden als Gewinner der Präsidentschaftswahl zu bestätigen. Der Verlierer Donald Trump indessen hält in seinen Tweets an seinem vermeintlichen Sieg fest und präsentiert dem amerikanischen Publikum ein geradezu Shakespearhaftes Drama, in dessen letztem Akt der verbitterte, paranoide Herrscher Allen misstraut.
Viel problematischer jedoch als diese persönliche Verhaltensweise ist die Tatsache, dass etwa die Hälfte der Republikaner und ihrer Mandatsträger tatsächlich davon überzeugt sind, von den Demokraten um den Wahlsieg betrogen zu werden. Hier zeigt sich die toxische Wirkung des amtierenden Präsidenten, dessen Nachfolger er als erste und zugleich schwierigste Aufgabe zurücklässt, das Vertrauen der Amerikaner in die Institutionen ihrer Demokratie wieder zu festigen. Wie schwer diese Aufgabe ist, verdeutlicht das sogenannte Thomas-Theorem der Sozialpsychologie. Vor rund 100 Jahren haben die amerikanischen Soziologen William und Dorothy Williams die Summe ihrer Forschungen in dem Satz zusammengefasst: „Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich“. Mit anderen Worten: Was für wahr gehalten wird, bestimmt das menschliche Verhalten stärker als jede nachprüfbare Wahrheit.
Eine beispielhafte Erfolgsgeschichte
Diese Erkenntnis gilt natürlich nicht nur für die USA. Der Lehrsatz will menschliches Verhalten als Ergebnis von Kommunikation verstehen. Nach 1945 haben wir Deutschen keine größeren Unterschiede zwischen unseren Definitionen von Wirklichkeit und den harten Realitäten der unmittelbaren Nachkriegszeit wahrgenommen. Das hat es uns erleichtert, nach dem Scheitern der Weimarer Republik und der Katastrophe der Nazi- und Kriegszeit mit Hilfe der angelsächsischen Besatzungsmächte und Frankreichs einen zweiten Anlauf zu einer tragfähigen demokratischen Ordnung zu unternehmen. Seit 1949 hat die westdeutsche Bundesrepublik als Teil einer geteilten Nation eine beispiellose Erfolgsgeschichte zu verzeichnen – Einen raschen politischen und wirtschaftliche Aufstieg, eingebettet in eine transatlantische Verteidigungsgemeinschaft und in eine immer stärker zusammenwachsende Europäische Union. Und schließlich 1990 die Wiedervereinigung des Landes durch Beitritt der wiedergegründeten Länder auf dem Gebiet der DDR zur nun gemeinsam vom Grundgesetz bestimmtten Bundesrepublik Deutschland.
Das politische System, das den Deutschen fast siebzig Jahre lang gute, ja segensreiche Dienste geleistet hat, ihnen ein hohes Maß an politischer Stabilität bescherte und einen außerordentlichen Wohlstand – auch ein solches System muss natürlich auf Defizite und mögliche Verschleißerscheinungen untersucht werden. Es muss sich die Frage nach seiner Zukunftsfähigkeit gefallen lassen. Dabei hat es natürlich an kritischen Fragen an diese Demokratie nie gefehlt, weil sich jedermann seine eigenen Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit dieser Ordnung für seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche macht. Insofern ist es unvermeidlich, dass es zwischen den verschiedenen Demokratie-Idealen und dem demokratischen Alltag immer wieder zu Kollisionen kommt. Wenn diese allerdings an Intensität und Häufigkeit zunehmen, werden sie als Krise der Demokratie wahrgenommen.
Beunruhigende Erscheinungen
Allerdings gibt es in den vergangenen Jahren eine Reihe von beunruhigenden Symptomen, die nicht nur als Krisenphänomene Deutung verlangen, sondern auch die Frage nach der Zukunft der Demokratie dringlich machen. Da ist zunächst die sinkende Wahlbeteiligung, das quantitative Abschmelzen der Volksparteien und vor allem der Verlust an Vertrauen zu Parteien und Politikern. Hinzu kommt das neuartige, hoch emotionale Protest-Engagement auf der äußersten rechten und linken Seite des politischen Spektrums, das sich – einerseits -gegen „die Eliten“ wendet, andererseits jedoch mit autoritären Figuren sympathisiert.
Viele Menschen haben das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten. In der Spannung zwischen Globalisierung und Rückbesinnung auf die Stärken des Nationalstaates ist die Komplexität der Politik deutlich gewachsen. Digitalisierung und Migration, Pandemie und Klimakrise überfordern sehr häufig die Verarbeitungskapazität des Einzelnen. So entstehen in den Gesellschaften der europäischen Demokratien neue Sehnsüchte nach „starker“ Führung. Nicht nur Ungarn und Polen werden vom autoritären Virus bedrängt, der angeblich Orientierungskraft und einen sicheren Weg aus dem Krisenmodus anbietet. Es ist bezeichnend, dass der Kompromiss als wichtigstes Instrument der Demokratie in Verruf gerät. An mehr als nur einem Ort in Europa scheinen die Stabilitätssäulen der politischen Systeme ins Wanken zu geraten. Deshalb muss der Versuch unternommen werden, die inneren und äußeren Herausforderungen der Demokratie zu identifizieren, ihre Gefährdungspotenziale zu skizzieren und die Chancen auszuloten, die diese Form der politischen Herrschaft auch für die Zukunft anzubieten hat.
Fortsetzung folgt
Titelfoto: Eine zeitgenössische Illustration zum Zug auf das Hambacher Schloss am 27. Mai 1832.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist Politikwissenschaftler in Bonn
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