Wo das Weiterso ein Albtraum ist
von Günter Müchler

Man kann den Kutschern hoch auf dem schwarz-roten Koalitionswagen nicht vorwerfen, dass sie sich keine Mühe geben. Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Marcus Söder tun das Mögliche, ihr gemeinsames Reiseprojekt in Gang zu bringen. Auf dem Bock wird nicht gestritten, was allein schon bemerkenswert ist. Aber so sehr die Kutscher sich auch anstrengen, so geduldig sie die Rosse mit Hoffnung füttern, der Karren nimmt keine Fahrt auf. Die Rosse bocken, sie wollen vorwärts nicht jagen, und lustig schmettert kein Horn.
Zuerst muss die SPD-Spitze ihre Basis überzeugen. Der Mitgliederentscheid ist beileibe kein Instrument, das den Zuwachs an Weisheit garantiert, und manch einer der Funktionäre wird ihn insgeheim verfluchen. Aber man hat ihn nun einmal. Er wurde geschaffen, um der ältesten Partei Deutschlands ein modisches Outfit zu verpassen (andere sagen, um die Fehlstelle einer mutlosen Führung besetzen). Und so etwas schafft man nicht einfach ab. Dass die Genossen, die noch bis zum 28. April Zeit haben, über den Koalitionsvertrag zu urteilen, mehrheitlich den Daumen senken, gilt als unwahrscheinlich. Ein Selbstläufer ist die Sache jedoch nicht.
Da tut sich die Union leichter. Die CSU pflegt es mit der Demokratie generell nicht zu übertreiben. Hier genügt ein Vorstandsbeschluss und der liegt bereits vor. Die große Schwesterpartei will den Vertrag einem Kleinen Parteitag vorlegen. Auch das ist mehr oder weniger Formsache. Sicher wird es Kritik geben, und man wird darauf achten, von wem sie kommt. Anbrennen wird nichts. Dennoch ist Friedrich Merz kein unbeschwertes Osterfest beschieden. Er weiß, dass sein Start nicht der Beste war. Wenn der Bundestag ihn demnächst zum Bundeskanzler wählen sollte, was nur ein Kometeneinschlag verhindern kann, werden die Parteifreunde – froh, dass die drei Jahre der Verbannung in die Wüste vorüber sind – applaudieren, allerdings nur mit gestopften Trompeten.
Unwohl fühlt man sich auf beiden Sitzreihen des Koalitionskarrens. Die Gründe sind unterschiedlich. Was die Genossen angeht: Sie konnten das letzte Mal richtig jubeln unter Gerhard Schröder. Danach ging es für sie, auch weil sie sich ihres Jubels bald schämten, immer nur bergab. Ein halbes Jahrhundert lang war die SPD nahezu ebenbürtige Konkurrentin der Union. Inzwischen ist sie froh, im Bund noch die dritte Kraft, in einigen Bundesländern rangiert sie unter ferner liefen. Ohne Ende mit dem Kompromiss leben, immer nur Abstriche machen von der reinen Lehre – wohin soll das führen, fragen sich viele Sozialdemokraten und liebäugeln mit der Opposition. Es ist Ermattung, die die schlechte Laune der SPD erklärt.
Für CDU und CSU gilt das nicht. Als geborene Regierungsparteien, wie sie sich verstehen, sind sie nach dem Ampel-Aus wieder in ihrem Element. Sie müssten obenauf sein und sind es doch nicht. Schon die Prozentzahlen bei der Bundestagswahl haben viele Anhänger enttäuscht Es folgte die abrupte Richtungsänderung in der Schuldenpolitik. Sie war ein Schock, auch deshalb, weil Merz und seine Mitstreiter den Schwenk kommunikativ miserabel abfederten.
Ein neuer Tiefschlag ist die Weigerung von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, ein Regierungsamt einzunehmen. Statt Minister zu werden, will Linnemann lieber Sekretär bleiben. Er stand bei vielen Christdemokraten als starken Mann im Kabinett auf dem Wunschzettel. Auf ihm ruhten die Hoffnungen derer, die einen echten Politikwechsel wollen. Nun rätseln sie, was hinter Linnemanns Entscheidung steckt. Nur der Frust über ein abgemagertes und daher unattraktives Wirtschaftsressort? Oder hält sich Linnemann, das Scheitern des Koalitionsversuchs im Blick, in der Reserve? Was immer die wirklichen Motive sind. LInnemanns Abseitsbleiben ist das Gegenteil eines Aufbruchssignals. Es gibt dem Albtraum vom Weiterso Nahrung.
Weiterso ist die Chiffre für Kleinteiligkeit, Halbherzigkeit, Unentschiedenheit und ähnliche Attribute, die für den Stillstand der Ampel-Periode und der Merkel-Zeit stehen. An sich begründet der Koalitionsvertrag, zu dem Angela Merkel Friedrich Merz in einer sonderbaren Wortmeldung gratuliert hat, die Angst vor dem Weiterso nicht. Natürlich liest man das 140-Seiten-Papier nicht ohne Stirnrunzeln. Es dokumentiert ein Do-ut-des, wie sollte es anders sein? Manches kommt reichlich unkonkret daher, manches steht unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit steht. Aber der Vertrag hat auch Stellen, wo der Wille zum Wandel erkennbar ist. Das gilt vor allem für die Verteidigungspolitik. Durch das gewaltige Sondervermögen sind die materiellen Mittel vorhanden, damit die Bundeswehr in Zukunft nicht mehr „blank“ dasteht wie in der Gegenwart. Einig sind Union und SPD auch in der politischen Zielsetzung, die europäische Verteidigung in Richtung Autonomie zu entwickeln. Das ist einzig die richtige Schlussfolgerung aus Putins Imperialismus und Trumps Destruktivität.
Für bare Münze darf man auch die Absicht nehmen, der überbordenden Bürokratie ans Leder zu gehen. Man wird hier allerdings genau hinschauen müssen. Ein Programm zum Bürokratieabbau legte anfangs der siebziger Jahre schon der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher vor. Die meisten seiner Nachfolger taten es ihm gleich, immer im Ton härtester Entschlossenheit und immer folgenlos. Das muss diesmal anders werden. Man wird die künftige Regierung an ihren Taten messen, zum Beispiel an der Verschlankung der Verwaltung oder am Rückbau des wild-wuchernden Beauftragtenwesens. Bürokratieabbau ist ein Marathon. Er braucht langen Atem und Einsicht. Prüfungskaskaden und Blockaden sind ja in der Regel nicht das Werk schief gewickelter Beamter, die ihrer Lust frönen, Wasserköpfe zu erzeugen. Unnötiger Aufwand entsteht oft erst dadurch, dass man wirtschaftliche Abläufe nach den Maßstäben universaler Fürsorge formen will – siehe das Lieferkettengesetz, dessen deutsche Spezialfassung nun hoffentlich gestrichen wird.
In der Wirtschaftspolitik bietet der Koalitionsvertrag eine Reihe guter Ansätze. Steuerliche Erleichterungen für die Unternehmen und ein Industriestrompreis, der nicht wettbewerbsverzerrend ist, weisen in die richtige Richtung. Wichtig ist, dass die Wirtschaft endlich aus dem Igitt-Bann des Zeitgeistes befreit wird. Im grün gefärbten Justemilieu gilt es als vortrefflich, wenn man sich mit den Lebensgesetzen bedrohten Insekten auskennt. Die Gesetze, nach denen die Wirtschaft funktioniert, findet man dagegen weniger sexy. Dabei hängt von einer gut laufenden Wirtschaft nicht nur unser Wohlstand und der soziale Friede ab. Die Wirtschaft entscheidet auch, ob der Kampf gegen den Klimawandel gewonnen wird oder nicht. Die Transformation ist nämlich kein selbstlaufender Prozess. Sie kostet eine Menge Geld, und das Geld muss erst einmal verdient werden.
In der Summe ist der Koalitionsvertrag keine Offenbarung. Aber das konnte auch niemand erwarten. Feldern der Übereinstimmung stehen ausreichend Punkte gegenüber, die zu Streit und Profilierung einladen. Die Sozialdemokraten klammern sich an den Mindestlohn, die Christsozialen an den Ausbau der Mütterrente. In die Landschaft passt weder das eine noch das andere. Aber daran ist man gewöhnt. Koalitionen werden nun einmal nicht aus Liebe geschlossen. Das wird auch für diese gelten, für sie vielleicht noch mehr als für frühere. Letztlich kommt es auf den Vollzug an und darauf, dass die die Kutscher des schwarz-roten Wagens eines nicht aus dem Auge verlieren. Ein Weiterso kann sich das Land nicht leisten. Es ist der beispiellos hohe Einsatz, der diese Koalition so einzigartig macht. Das Wissen darum könnte ihr einigendes Band sein.
Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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