Von Günter Müchler

Günter Müchler

Es hatte so schlecht nicht ausgesehen für den 8. Oktober: Die bayerische CSU leicht über vierzig, die SPD weiter im Liliput-Bereich, die Grünen abgestraft, die Freien Wähler unverändert, die AfD – leider – mit moderaten Zugewinnen. So unkten die Auguren noch vor einer Woche. Schon stellte man sich einen Markus Söder vor, der nach dem Zahltag großmütig die Bereitschaft erklärte, nun der schwächelnden Schwesterpartei CDU unter die Arme zu greifen. Vielleicht als Kanzlerkandidat. Warum nicht? Dann kam, au weia, aus heiterem weiß-blauen Himmel das Unwetter namens Aiwanger. Und Söder hat plötzlich eine Affäre am Bein, die schwer zu steuern ist, wie man zugeben muss.

Die Christlich-Sozialen werden Aiwangers Freie Wähler nämlich aller Voraussicht nach auch nach den Wahlen brauchen. Kann man es da riskieren, ihren Chef jetzt in die Wüste zu schicken? Keiner weiß, wie sich das das auszahlen würde. Nicht auszuschließen, dass bajuwarischer Eigensinn den populären Aiwanger dann sogar mit einem Märtyrer-Bonus belohnen würde. Umgekehrt könnte ein Gnadenakt für Aiwanger Söder als Führungsschwäche ausgelegt werden oder als blanker Opportunismus. Fragen über Fragen also und dann noch die: Sind taktische Vor- und Nachteilsrechnungen überhaupt erlaubt bei einem Stoff, aus dem diese Affäre ist?

Freunde des Niederbayern kalkulieren mit zwei Hoffnungspunkten: Der erste heißt Jugendsünde, der zweite Erschöpfung. Die Enthüllung kam, wie man das kennt, passgenau. Sechs Wochen vor dem Wahltermin ist noch Bewegung im Spiel. Andererseits, und darauf setzen die, die es mit Aiwanger gut meinen, ist es nicht so, dass die Menschen im Land gerade jetzt nach neuen Aufregern lechzten. Das florierende Gewerbe der Opferproduktion hat schließlich gerade in jüngster Zeit dafür gesorgt, dass die Skandale nicht ausgehen. Die Kapazitäten öffentlicher Erregbarkeit scheinen ausgereizt. Derzeit im Angebot ist, freilich bei fallenden Kursen, die Causa Till Lindemann. In feministischen Netzwerken und nicht nur dort galt der Vor-Sänger derer Band Rammstein schon als überführter notorischer Vergewaltiger und K.o.-Tropfen-Verabreicher. Jetzt stellt sich heraus: Wahrscheinlich ist nichts dran an den Anschuldigungen, Beweise haben sich nicht gefunden. Den Scharfrichtern der Me-Too-Bewegung bleibt nicht viel mehr als die dünne Behauptung, „strukturell“ sei und bleibe das Showbusiness natürlich toxisch-sexistisch. Womit alles und nichts gesagt ist.

Ob der Lippenaufdruck, den sich der oberste spanische Fußballfunktionär, Luis Rubiales, nach dem WM-Sieg bei einer der glorreichen Fußballfrauen herausnahm, für ihn zum Todeskuss wird, steht noch nicht fest. Die öffentliche Aufwallung ließ freilich jedes Maß vermissen. Aus New York meldete sich UN-Generalsekretär Guterres tief besorgt zu Wort. Den deutschen Fernsehnachrichten war das Kuss-Thema tagelang wichtiger als der Krieg in der Ukraine. Der Welt-Unhold Putin wurde quasi an die Wand gespielt von einen Herrn Rubiales, der allem Anschein nach ein ziemlicher Hallodri ist, jedoch keiner, der Putin den soeben verblichenen Wagner-Chef Prigoschin ersetzen könnte.

Es wird eine Menge Bohei gemacht. Sich immerzu aufregen, ohne Pause Holz sammeln, damit der moralischen Scheiterhaufen nicht verlöscht, ist eine Anstrengung und gefährlich dazu. Zu viel hochgejazzte Empörung macht unempfindlich für das wirkliche Empörende. Nicht auszuschließen, dass Hubert Aiwanger vom Overkill profitiert. Es wäre ein Ärgernis. Denn um das, was damals in den Achtziger vom Bruder Herbert (oder war es doch der Hubert) Aiwanger in die Schreibmaschine getippt wurde, als Fliegenschiss zu bewerten, müsste man schon Alexander Gauland heißen. Und wer von einer Jugendsünde spricht, macht es sich zu einfach. Der Begriff wird laut Lexikon mit Jugend, Leichtsinn, Torheit und Impulsivität assoziiert. Davon stimmt im vorliegenden Fall nur Jugend.

Hätte ein Siebzehnjähriger in betrunkenem Zustand eine Strophe des Horst-Wessel-Lieds gegrölt oder die Hand zum Hitlergruß gehoben, man würde es zum Kotzen finden, aber dem Milchbart in Lederhosen die Absolution nicht verweigern. Die Causa Aiwanger liegt jedoch anders. Das war kein Ausrutscher, da war nichts impulsiv. Da setzte sich jemand hin, verfasste ein Flugblatt und machte sich Gedanken, wie man es unter die Leute bringt. An dieser Stelle kommt man nicht umhin, aus dem Flugblatt zu zitieren. Ein „Bundeswettbewerb“ sollte da ausgelobt werden. Bewerber sollte sich „melden sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“. Den Gewinnern wurden Preise versprochen: „1. Preis. Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“. Oder 3.: „Ein kostenloser Genickschuss“. Oder 4.: „Einjähriger Aufenthalt in Dachau (Kost und Logis frei)“.

Was soll man dazu sagen? Da ist ein Plan, der Text ist elaboriert, die Bilder sind von ausgesuchter Perfidie.  So etwas schreibt man nicht mal eben. So etwas schreibt nur jemand, der das lustvolle Herumfingern im antisemitischen Güllefass geübt hat. Hubert Aiwanger hat sich entschuldigt (eigentlich kann man doch nur um Entschuldigung bitten und sich nicht selbst ent-schuldigen!) und behauptet zugleich, Zielscheibe einer Hexenjagd zu sein. Geschenkt. Geschenkt ist auch der Verweis auf die Unschuldsvermutung. Selbst wenn der Bruder mehr als nur der Strohmann sein sollte – Hubert Aiwanger war in die Aktion eingebunden. Er hatte Flugblätter in der Aktentasche. Wozu, wenn nicht zum Verteilen?

Weil Aiwanger, jedenfalls im Moment, aber nicht zurücktreten will muss Söder handeln. Aussitzen lässt sich die Affäre nicht. Sie ist auch kein Anwendungsfall für „Clementia“, die – wie man weiß – als Nachsicht das Vorrecht des Cäsars ist. Söder muss wissen, es wird kein Tag vergehen, ohne dass neue Vorwürfe ausgegraben werden – egal, ob zutreffend oder erfunden. Und mit jedem Tag wird Söder sich die Frage stellen müssen, ob er weiter einen Stellvertreter an der Seite haben will, der mit den sieben Ekelwörtern „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ in Verbindung gebracht wird.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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