Politik: Unerwartete Folgen

Die Russland-Sanktionen betreffen auch die Länder im Kaukasus und in Zentralasien. Deren Volkswirtschaften erleben einen erheblichen Wachstumsschub.

Alexander Droeger auf Pixabay.com

Wirtschaftsprognosen sind zweifelsohne eine schwierige Aufgabe. Das gilt insbesondere, wenn es um die Vorhersage einer möglichen Rezession geht. Es kommt immer wieder vor, dass ein tatsächlicher Wirtschaftsabschwung nicht vorhergesehen wird – oder dass eine prophezeihte Rezession ausbleibt. Wie der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises Paul Samuelson einst scherzhaft sagte: „Der Aktienmarkt hat neun der letzten fünf Rezessionen richtig vorausgesagt.“

Ähnliches lässt sich in Bezug auf die Wirtschaftsprognosen für die Länder Zentralasiens und des Südkaukasus nach der russischen Invasion in der Ukraine festhalten. Noch im März und April 2022 hätte nahezu jeder Wirtschaftswissenschaftler behauptet, dass die wirtschaftlichen Aussichten für diese Länder, die sehr eng mit Russland vernetzt sind und deren Wirtschaftskreislauf fast synchron verläuft, angesichts der (erwarteten) Krise in Russland düster sind.

Die wirtschaftlichen Beziehungen umfassen in allen Fällen Handel, Investitionen, Geld-Rücküberweisungen und Devisenmärkte. Die Rücküberweisungen aus Russland machten in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von Tadschikistan und 25 Prozent des BIP von Kirgistan aus. Der Außenhandel mit Russland stand für rund 30 Prozent des armenischen und 25 Prozent des kirgisischen Gesamthandels. Andere Länder der beiden Regionen, die enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten, sind Kasachstan, Usbekistan, Georgien und Aserbaidschan. Diese wirtschaftlichen Verbindungen haben einen praktisch synchronisierten Wirtschaftszyklus für die Gesamtregion geschaffen, was sich in den Nebenwirkungen des Wirtschaftsschocks von 2014 zeigte, als die „erste Runde“ der Sanktionen gegen Russland und der Ölpreisschock einsetzten. In fast allen dieser Länder kam es zu einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums und zu Druck auf die Devisenmärkte.

Darum gingen die meisten Beobachter seit dem 24. Februar 2022 erneut davon aus, die wirtschaftliche Unsicherheit werde nicht nur für Russland, sondern für die gesamte Region zunehmen. In dem Versuch, die Risiken für die armenische Wirtschaft zu umreißen, haben mein Kollege und ich damals einen Artikel veröffentlicht, in dem die möglichen Entwicklungen mit unterschiedlichen Szenarien dargestellt wurden. Sie alle zeigten ein insgesamt ziemlich düsteres Bild: Rückgang der Geldtransfers, der Exporte, der Investitionen und des BIP. Zwar betonten wir, einige positive Entwicklungen seien durchaus möglich, allerdings waren diese schwieriger zu prognostizieren und wurden insgesamt als eher unwesentliche Faktoren angesehen.

Wie kann es sein, dass die Vorhersagen so weit daneben lagen?

Mit dieser Sicht der Dinge waren wir nicht allein. Internationale Organisationen wie beispielsweise der Internationale Währungsfonds erwarteten ebenfalls eine deutliche Abschwächung des Wirtschaftswachstums in Zentralasien und im Südkaukasus. Wie sich dann aber herausstellte, erlebten einige dieser Staaten Wachstumsraten, die nicht nur im spezifisch lokalen, sondern auch im globalen Kontext beachtlich waren. Wie kann es sein, dass die Vorhersagen so weit daneben lagen? Welche Falschannahmen wurden gemacht?

Ein Fehler waren die falschen Einschätzungen zur russischen Wirtschaft. So wurde eine tiefe Rezession vorhergesagt (je nach Quelle acht bis 15 Prozent Rückgang des BIP), doch Russlands Wirtschaft schrumpfte lediglich um 2,1 Prozent.

In Bezug auf den Kaukasus und Zentralasien betraf der schwerwiegende Fehler eine Unterschätzung der Kanäle, über die die russische Wirtschaft Auswirkungen auf die anderer Länder hat. Russland wurde innerhalb kürzester Zeit zum am meisten von Sanktionen betroffenen Staat. Angesichts der relativ kleinen Größe der Volkswirtschaften im Kaukasus und in Zentralasien ergaben sich dadurch drei wichtige neue makroökonomische Gegebenheiten für diese Länder:

Die erste bezieht sich auf die Um- beziehungsweise Weiterleitung russischer Importe und anderer regionaler Warenlieferungen. Nach den Exportverboten westlicher Länder nach Russland gingen die russischen Importe tatsächlich zunächst um rund 40 Prozent zurück, sie erholten sich aber schnell und lagen bereits im November 2022 wieder auf Vorkriegsniveau. Diese schnelle Erholung war auf die Import-Verlagerung hin zu anderen Ländern wie China, aber auch auf weitergeleitete Importe via Drittstaaten wie die Türkei, Kasachstan, Kirgistan, Armenien und Georgien zurückzuführen. In Bezug auf Letzteres fließen Konsumgüter wie Smartphones, Waschmaschinen und Kühlschränke, Gefriertruhen, Pkw und Fahrzeugteile nach wie vor nach Russland, wenn auch mit gewissen Preisaufschlägen, die auf den alternativen Routen erhoben werden – und somit auch mit zusätzlichen Einnahmen für Unternehmen, die als Zwischenhändler fungieren.

Die Nettogeldtransfers aus Russland nach Armenien, Georgien und Aserbaidschan haben sich 2022 mehr als verfünffacht.

Der zweite Punkt betrifft den Zustrom von Humankapital. Da die Sanktionen die Möglichkeiten einschränken, von Russland aus international Geschäfte zu machen (beispielsweise in den wichtigen IT- und Finanzsektoren), sahen sich gut qualifizierte russische Arbeitskräfte veranlasst, dem Land vorerst den Rücken zu kehren. Diese Fachkräfte leben nun zumindest zum Teil in Staaten wie Armenien, Georgien, Kasachstan und Usbekistan. Jedes einzelne der genannten Länder hat zwischen 50 000 und 150 000 Menschen aus Russland aufgenommen. Dies sorgt freilich auch für Druck auf die lokalen Wohnungsmärkte, wo die Mieten und Hauspreise in die Höhe schießen, sowie auf die Preise in der lokalen Dienstleistungsbranche.

Das dritte Thema (und Problem) ist der plötzliche und relativ große Kapitalzufluss, der zum Teil mit der Abwanderung von Menschen und Unternehmen aus Russland einherging. Darüber hinaus suchte das russische Kapital einen „sicheren Hafen“ vor den Sanktionen, die sich auch gegen den russischen Bankensektor richten. Die Nettogeldtransfers aus Russland nach Armenien, Georgien und Aserbaidschan haben sich 2022 mehr als verfünffacht; Tadschikistan und Usbekistan verzeichneten eine Verdopplung. Dadurch gerieten die Devisenmärkte dieser Länder unter Druck, die jeweiligen Landeswährungen werteten auf. Die stärkste Aufwertung verzeichnete der armenische Dram (18,5 Prozent im Laufe des Jahres 2022), gefolgt vom georgischen Lari (13,3 Prozent).

Diese drei Kanäle der wirtschaftlichen Anbindung an Russland geben den kleinen Volkswirtschaften im Kaukasus und in Zentralasien einen erheblichen Wachstumsschub. Dabei bleibt das Verhältnis allerdings asymmetrisch. Ein Beispiel: Exporte von Armenien nach Russland sind um einen Wert von 1,6 MilliardenUS-Dollar angestiegen. Diese machen einerseits nur 0,5 Prozent aller russischer Importe im Vorkriegsjahr 2021 aus – stehen aber in Armenien für einen gut 50-prozentigen Anstieg der Exporte.

Dieses Wachstum hat jedoch auch seine negativen Seiten. Während die Länder der Region von den Geldzuflüssen aus Russland und dem Parallelhandel zur Umgehung der Sanktionen profitieren, werden auch sehr schnell neue Abhängigkeiten und potenzielle Probleme geschaffen.

Zunächst muss eingeräumt werden, dass es als eher unwahrscheinlich gilt, dass der Westen seine Sanktionen auch auf Drittstaaten ausweitet, die Parallelhandel mit Russland betreiben. Nichtsdestotrotz exponieren sich diese Länder stärker gegenüber der russischen Wirtschaft, die aktuell selbst vor großen Herausforderungen und Umwälzungen steht.

Zweitens ist der angesprochene Preisdruck, der durch den Zustrom von russischem Humankapital in diese Länder entsteht, eine Herausforderung für die Einheimischen, insbesondere in Kombination mit einer hohen Inflation. Dadurch entsteht sozialer Druck: Die Ungleichheit nimmt aufgrund höherer Preise in bestimmten Bereichen (wie beim Wohnen oder bei Dienstleistungen) zu. Zusätzlich zu diesen steigenden Preisen stagnieren die Realeinkommen in anderen Sektoren wie der Landwirtschaft oder der Industrie.

Armenien hat den Export von sogenannten Dual-Use-Gütern verboten.

Letztendlich drohen sich die zunächst positiven Auswirkungen der Verbindungen zu Russland zu einem Phänomen zu wandeln, unter dem die eigene Wirtschaft leidet, anstatt von ihren produktiveren Sektoren zu profitieren (dieses Phänomen ist auch bekannt als „Holländische Krankheit“). Grob zusammengefasst geschieht Folgendes: Der Boom aufgrund der russischen Einflüsse führt zu einer Aufwertung der jeweiligen Landeswährung. Dadurch werden die heimischen Produkte im Ausland teurer – und nicht nur die bisherige Boom-Branche, sondern die gesamte Exportindustrie verliert dadurch mittelfristig Marktanteile.

Darüber hinaus beginnen die Arbeitskräfte in die boomenden Branchen wie den Dienstleistungssektor abzuwandern, was langfristig ebenfalls zu Problemen führen kann. Eine solche Dynamik lässt sich aktuell im armenischen IT-Sektor beobachten, der sich dank seiner talentierten Arbeitskräfte und seiner Wettbewerbsfähigkeit in Bezug auf die Preise in den vergangenen Jahren schnell entwickelt hat.

Die Regierungen der zentralasiatischen und südkaukasischen Länder versuchen, mit diesen Risiken umzugehen, aber einige stehen vor schwierigen Entscheidungen. Armenien hat zum Beispiel den Export von sogenannten Dual-Use-Gütern verboten, aber angesichts des gemeinsamen Wirtschaftsraums (der Eurasischen Wirtschaftsunion) mit Russland ist nicht zu erwarten, dass die Wiederausfuhr von Gütern wie Smartphones oder Autos tatsächlich eingestellt wird. Derweil hat der Inflationsdruck durch die zusätzliche Nachfrage die Zentralbank dazu veranlasst, die Geldpolitik zu straffen – und sich vor einer Lockerung zu hüten, selbst als die untere Grenze des Inflationsziels bereits unterschritten wurde.

Nicht leichter zu bewältigen sind die „holländischen“ Probleme. Die Aufwertung der armenischen Währung ist bereits eine Realität. Entsprechend der Theorie von der „Holländischen Krankheit“ werden nun die armenischen Produkte im Ausland teurer und somit weniger attraktiv. Daher versucht die Regierung, ihre „produktiven“ Exportbranchen wie eben den IT-Sektor und die verarbeitende Industrie zu unterstützen. Wie oben erläutert, sind derartige Maßnahmen finanziell – und gegebenenfalls auch gesellschaftlich – teuer.

Die Länder Zentralasiens und des Südkaukasus sowie die westlichen Staaten, die Sanktionen verhängen, müssen jetzt ihre Hausaufgaben machen. Erstere sollten gut zwischen kurzfristigen Vorteilen und langfristigen Kosten ihrer aktuellen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland abwägen. Sie müssen sich vor Risiken schützen, die der heimischen Wirtschaft auf Dauer schaden könnten. Zweitere sollten die Länder in Zentralasien und im Südkaukasus auf diesem Weg mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen.

Aus dem Englischen von Tim Steins

Narek Karapetyan ist Experte am ASUE Amberd Research Center. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzsektor, Schuldenmanagementpolitik und -analyse, Finanzmarktanalyse und -prognose, angewandte Ökonometrie sowie modellbasierte Analyse und Prognose.

 

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