Von Günter Müchler

Günter Müchler

Die verbreitete Ansicht, Goethe sei, anders als etwa Schiller, ein unpolitischer Schriftsteller gewesen, ist verkehrt. Goethes Werk ist reich an politischen Grundeinsichten, über die nachzudenken sich selbst dann lohnt, wenn der Dichter sie dem Teufel in den Mund legt. Es ist Mephistopheles, der in Faust I dem Schüler Bedenkenswertes vorträgt:

„Es erben sich Gesetz und Rechte

Wie eine ew´ge Krankheit fort;

Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte

Und rücken sacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“.

Goethe formuliert hier eine Anforderung, die der Politik als unerlässliches Minimum gelten sollte. Nämlich immer wieder das, was man einmal für richtig angesehen und in Gesetze gegossen hat, auf den Prüfstand zu stellen. Leider wird die Regel selten beachtet – sei es aus Trotz, Trägheit oder ideologischer Verbohrtheit. Ein Lehrbeispiel ist die Asylpolitik.

In der Nahsicht ist die Asylpolitik ein großes Thema erst seit Mitte des vorigen Jahrzehnts. In Wirklichkeit wird über Maß und Methoden der Einwanderung schon sehr viel länger gestritten. In den achtziger und neunziger Jahren vertraten CDU und CSU die Auffassung, Deutschland sei grundsätzlich kein Einwanderungsland. Dagegen propagierten Sozialdemokraten und vor allem die Grünen den Zuzug von Ausländern als etwas prinzipiell Gutes.

Während die Union ihren Standpunkt längst revidiert und eingesehen hat, dass Deutschland ohne Einwanderung die Arbeitskräfte ausgehen, sind speziell die Grünen nach wie vor nicht bereit, ihre herkömmlichen Positionen in dieser Frage zu überdenken. Von moralisch aufgeladenen Normen trennt man sich halt schwerer als von Nützlichkeitserwägungen. Und zweifellos war bei den Grünen – wie allgemein auf Seiten der Linken – das Thema Migration von Anfang an mit dem Panzer des humanistisch Unantastbaren ummantelt. Dementsprechend wurden Risiken und Nebenwirkungen einer ungesteuerten Einwanderung konsequent ausgeblendet.

Wo unschöne Begleiterscheinungen der Massenintegration nicht weggeklügelt werden konnten, erklärte man sie stereotyp mit Fehlern und Versäumnissen der Politik: Zu wenig Empathie, zu viel Abschottung. Als unfehlbares Heilmittel wurden rechtliche Änderungen wie der erleichterte Zugang zum deutschen Pass oder die Doppelstaatsbürgerschaft empfohlen. Gerade unternimmt die Ampel einen weiteren Versuch in dieser Richtung. Dabei zeigt das Nachbarland Frankreich, dass der Pass völlig belanglos ist  bei der Frage, ob man zum Terroristen wird oder nicht. Folgenreich ist die bewusst betriebene Verwässerung des Asylrechts. In Einrichtungen wie Pro Asyl oder bestimmten Kirchenkreisen will man gar nicht wissen, ob jemand, der als Migrant nach Deutschland kommt, in seiner Heimat politisch oder in anderer Weise verfolgt ist. Hat er die Grenze überschritten, gilt er nach einer Diktion, die sich bis hinein in die Fernsehnachrichten eingeschlichen hat, als „Geflüchteter“ oder „Schutzsuchender“ – das heißt als jemand, der per se ein Anrecht auf Fürsorge hat. Für Linke ist jeder Mensch aus dem sogenannten „Globalen Süden“ irgendwie auch ein Opfer – ein Opfer von Armut, Klimaschäden oder anderer Lasten, die in der Verantwortung der ehemaligen Kolonialmächte, also des Westens, entstanden sind. Dass solcherart das Asylrecht entwertet wird, wird übersehen oder in Kauf genommen.

Die Grenzöffnung 2015 unter Angela Merkel führte zu einer Zuspitzung des Asylstreits. Zunächst überwog das positive Echo. Die Kanzlerin stand plötzlich als Mutter Theresa der Flüchtlinge da. Die Grenzbevölkerung empfing die Ankömmlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan freundlich und überhäufte sie mit Zeichen christlicher Nächstenliebe. Aber bald drehte sich der Wind. Von der Politik allein gelassen, verstanden viele Menschen Merkels „Wir schaffen das“ nun als ein verklausuliertes „Ihr schafft das schon“. Erschwerend kam hinzu, dass die Kanzlerin durch Äußerungen wie „Wir haben es nicht in der Hand, wie viele zu uns kommen“, den Eindruck des Kontrollverlustes verstärkte. Die verstörte Frage, was denn ein Staat wert sei, der seine Grenzen nicht schützen kann, lag auf der Hand.

Seit 2015 ist die Einwanderung das Aufreger-Thema Nummer eins. Keine andere Frage beschäftigt die Bevölkerung mehr, keine ist mit vergleichbaren Besorgnissen versehen. Zu großen Teilen geht dies auf das Konto der Politik. Die Akzeptanz von Migration (und der Erfolg der Integration) sind in hohem Maß abhängig von Zahlen. Ab einem bestimmten Punkt ist die soziale Bereitschaft erschöpft, die logistischen Möglichkeiten sind am Limit. Was schon vorher hätte klar sein müssen, wurde durch die Aufnahme von einer Million ukrainischer Flüchtlinge nach Putins Überfall endgültig offenbar.

Ämter und Schulen sind überlastet. Es mangelt an Wohnraum. Städte und Gemeinden fühlen sich als Leidtragende einer Politik, die konsequent das Ende nicht bedachte. Lange wollte man in Berlin nicht wahrhaben, dass Migrationsströme sich entlang normal-menschlicher Kalkulationen entwickeln. Wer auswandern will, geht dahin, wo der größtmögliche „benefit“ winkt oder wo schon Bekannte und Verwandte sind.  Ghettoisierung, gegen die akademische Migrations-Theoretiker erfolglos predigen, ist zwangsläufig.

Acht Jahre nach 2015 sind die innenpolitischen Fronten weitgehend unverändert. Anstöße, die widerrechtliche Einwanderung durch Grenzkontrollen zu verringern, die Ausweisung nicht als asylberechtigt Anerkannter zu beschleunigen oder Asylverfahren in außereuropäische Länder zu verlagern, werden von linken Parteien und von Nichtregierungs-Organisationen (NGO’s), die sich als Entrepreneure ungefilterter Einwanderung betätigen, regelmäßig und reflexhaft zurückgewiesen. Stattdessen wird jeder Versuch, Pull-Faktoren aus dem Feld zu ziehen und den Staat wieder instand zu setzen, die Verhältnisse zu lenken, als Vorlage für die rechtsextreme AfD niedergeschrien.

Dabei läuten überall in Europa die Alarmglocken. Besonders in jenen Ländern, die (anders als z.B. das sozialdemokratisch regierte Dänemark) sich jahrelang ein migrationspolitisches Laissez-faire geleistet haben, hält die Infrastruktur dem Druck nicht mehr stand. In vielen Ländern entlädt sich die Gereiztheit der Bevölkerungsmehrheit in einem Protestwahlverhalten, von dem die politischen Ränder profitieren. Die Klage darüber ist groß. Am größten ist sie bei denen, die diese Entwicklung mit verursacht haben. Längst hat sich, was einmal als Solidarität mit politisch Verfolgten gedacht war, von seinen Absichten gelöst. Aus humanistischer Wohltat ist, im Goethe´schen Sinne, Plage geworden. Weshalb? Weil man das unerlässliche Minimum politischer Vernunft starrköpfig verweigert hat, nämlich aus gesättigter Erfahrung zu lernen und neue Wege zu gehen, statt immer wieder in dieselben Fehler zu verfallen.

Aber vielleicht ändert sich das ja jetzt. Soeben haben sich die europäischen Institutionen auf ein verbessertes, illusionsfreieres Asylrecht geeinigt. Auch Frankreich ist auf Reformkurs. In Deutschland wurden die Grünen von antisemitischen Ausschreitungen aus dem migrantischen Milieu aufgeschreckt. Und weil gleichzeitig die eigenen Sympathiewerte sinken, bequemte man sich dazu, die Asylpolitik unter eine neue Überschrift zu stellen: Humanismus und Ordnung. Einsicht oder alter Wein, der in neuen Schläuchen verkauft werden soll? Viel hängt davon ab. Denn Deutschland braucht auch in Zukunft Migration, allerdings in geordneten Bahnen.  

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

 

  

 

 

     

 

 

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