Polizei an ihrer Grenze

von Günter Müchler
Der Polizistenberuf war nie ein Wohlfühljob. Polizisten müssen Verkehrsunfälle mit Toten und Verletzten aufnehmen. Sie müssen am Wochenende, wenn andere grillen, ausrastende Fußballhooligans im Zaum halten. Bei politischen Kundgebungen erwartet man ihnen, dass sie Demonstranten und Gegendemonstranten daran hindern, sich gegenseitig totzuschlagen. Vieles von dem, was sie tun, ist genauso wenig vergnügungssteuerpflichtig wie die alltägliche Konfrontation mit Straftätern, bei der sie oft genug Kopf und Kragen riskieren. Trotzdem sind Polizisten immer wieder pauschalen Verunglimpfungen ausgesetzt, auch durch Politiker. Das schmerzt.
Eine Kostprobe des „Bullen-Bashings“ lieferte kürzlich die Bundesvorsitzende der Grünen Jugend, Jette Niezard. Stolz präsentierte sich die Blondine im Netz mit einem Sweatshirt, auf dem die Großbuchstaben ACAB prangten. Kenner wissen, wofür das Akronym steht: „All cops are bastards“ („Alle Polizisten sind Bastarde“).
Für ihr Selfie wurde Nietzard umgehend von führenden Grünen wie dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann scharf getadelt. Forderungen nach Parteiausschluss wurden laut. Doch fehlte es auch nicht an Zuspruch für die 26jährige Chefin der grünen Nachwuchsorganisation, die schon mehrfach durch provozierende Äußerungen aufgefallen ist. Der saarländische Landesverband solidarisierte sich mit der bedrängten Bundesvorsitzenden.
Mit berufsbedingten Beleidigungen haben Polizisten Erfahrung. Ob bei Palästina-Demos oder bei Randale der Antifa: In der Regel blicken sie in hasserfüllte Gesichter und können von Glück sagen, wenn man sie nur „Bastards“ schimpft und nicht harte Gegenstände fliegen. Dabei genießt die Polizei bei der großen Mehrheit der Bevölkerung Respekt und Sympathie. Ihre Hilfe wird gern in Anspruch genommen. Für eine Minderheit ist sie jedoch gesichert feindlich. Im Linksaußen-Milieu steht die Polizei für eine Ordnung, die überwunden werden soll. Nur ausnahmsweise finden die uniformierten Beamten in den Augen der Extremisten Gnade: dann, wenn sie gegen rechts vorgehen.
Die Dämonisierung der Polizei hat links Tradition. In der Zeit der Studentenrevolte und noch eine Weile danach gehörte der Kampf gegen den „Bullenstaat“ zum Comment. Was die heutigen Grünen gern verdrängen: Ihre Altvorderen akzeptierten das staatliche Gewaltmonopol nur zähneknischend oder gar nicht. Mit Polizisten zu raufen – wobei manchmal auch Molotowcocktails flogen – war so etwas wie Ehrensache und stand rangmäßig auf einer Stufe mit dem Protest gegen die Atomindustrie. Noch krasser war das Weltbild der „Rote-Armee-Fraktion“. Im Polit-Slang der Terroristen vom Schlage Gudrun Ensslins existierten Polizisten nur als „Pigs“, als Schweine.
Wer glaubt, das alles sei tiefe Vergangenheit, und längst habe die Linke ihren Frieden mit der Polizei gemacht, irrt. Es ist noch gar nicht so lange her, Juni 2020, da träumte in der links-grünen „Tageszeitung“ unter der Überschrift: „All cops are berufsunfähig“ eine Autorin namens Hengameh Yaghoobifarah über eine Zeit ohne Polizei. Wo solle man hin mit all den abgeschafften Polizisten? fragte die Kolumnistin. Ihre Antwort: „Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten“. Nach viel Kritik von außen debattierte die Redaktion der „Tageszeitung“, ob die Gleichsetzung von Polizei und Abfall eine Grenze überschritten habe. Die Meinungen gingen auseinander.
Die Grünen-Politikerin Jette Nietzhard hat sich nicht entschuldigt. Die Rüge der Parteioberen lassen sie kalt. Möglicherweise sei das ACAB auf ihrem Pulli noch besonders geschickt gewesen, hat sie eingeräumt und einen Satz hinzugefügt, den sie wohl für den Höhepunkt zumutbarer Selbstkritik hält. „Nicht jeder einzelne Polizist ist ein Schwein“. Worauf es laut Nietzard ankommt, ist das „System“ hinter der Polizei. Das müsse entlarvt werden. Zitat: „Ich würde mir wünschen, dass die Grünen die Polizei und gerade die strukturellen Dinge, die damit einhergehen, auch gerade nach dem Tod von Lorenz beispielsweise mehr thematisieren.“ Lorenz A., ein 21jähriger Schwarzer, war in der Nacht zu Ostern in Oldenburg bei einer Polizeiaktion von mehreren Schüssen tödlich getroffen worden, nachdem er, weil ihm der Zutritt zu einer Diskothek verwehrt worden war, Reizgas versprüht und mit einem Messer gedroht hatte.
Das „System“ und die „strukturellen Dinge“, die Nietzard mit ihrem beschrifteten Pulli entlarven wollte, sind Leitworte aus dem gängigen Vokabular linker Aktivisten, die sich brüsten, Kämpfer gegen Rassismus und Kapitalismus zu sein. In ihrer manichäischen Denkart ist die Polizei die Dienstmagd eines ungerechten und inhumanen „Systems“, und „strukturell“ sind Eigenschaften, die wie die Erbsünde an jedem Polizisten kleben, zum Beispiel weißer Rassismus.
Der Musterfall, mit dem in linken Kreisen die These von der strukturell rassistischen Polizei untermauert wird, ist die Tötung des schwarzen Amerikaners George Floyd im Mai 2020 in Minneapolis (Bundesstaat Minnesota). Floyd musste sterben, weil der weiße Polizist Derek Chauvin bei der Festnahme fast zehn Minuten lang auf seinem Hals kniete. Die schauerliche Quälerei wurde in Videoaufnahmen verbreitet und sorgte zu Recht für große Empörung. Das Motto “Black lives matter“, unter dem die anschließenden Proteste standen, machte weltweit Karriere. So schlimm der Vorfall war, für Verschwörungstheorien eignet er sich nicht. Denn der Rechtsstaat funktionierte. Chauvin wurde zu einer Freiheitsstrafe von 22 Jahren verurteilt, die drei Kollegen, die ihn gewähren ließen (darunter ein Afroamerikaner), landeten ebenfalls hinter Schloss und Riegel. Gegen den Polizisten, der Lorenz A. in Oldenburg niederschoss, wird ermittelt.
Fälle von „Polizeigewalt“ kommen vor. Nicht jeder Uniformträger ist perfekt stressresistent. Manchem mag die charakterliche Eignung fehlen. Aber kein „System“ deckt die Täter. Aufgedeckte Übergriffe werden von hochsensiblen Medien nachdrücklich behandelt und von den Justizorganen gehörig verfolgt. Im Vergleich mit „Gewalt gegen Polizisten“ ist „Polizeigewalt“ eine statistische Nebensächlichkeit. 2023 wurden in Deutschland 46.200 Fälle mit 106.000 Opfern von Gewalt gegen Polizisten registriert. Die Gewaltkurve steigt seit Jahren. Meistens handelt es sich um Delikte wie Widerstand und tätliche Angriffe.
Dass Polizisten mit steigender Tendenz bedroht und attackiert werden, gehört in den größeren Zusammenhang einer allgemeinen Verrohung der Sitten, die hierzulande beobachtet wird. Auch Feuerwehrleute und Notärzte, Krankenschwestern und Lehrer begegnen, wenn sie Pech haben, einer Aggressivität, die sprachlos macht. Aber sie sind Zufallsopfer, von ihnen existiert kein ideologisches Feindbild, sie werden nicht in Kampfschriften und Slogans verfemt. Das unterscheidet sie von Polizisten, die Gewalterfahrungen machen.
„All cops are bastards“ ist ein Kollektivvorwurf, der eine ganze Berufsgruppe zu Feinden der menschlichen Gesellschaft erklärt. Er darf ungestraft erhoben werden, so wie seinerzeit die Behauptung, alle Soldaten seien Mörder, von Gerichten als Werturteil innerhalb der Grenzen der freien Meinungsäußerung angesehen wurde. Wie die Betroffenen damit fertig werden sollen, interessiert die Urheber keine Spur. Auf Irene Mihalic, Bundestagsabgeordnete der Grünen und selbst Polizistin, wirkte die Zurschaustellung ihrer Parteifreundin Nietzard wie ein Schlag in die Magengrube. „Ich sag es ganz ehrlich: Mich hat es als Polizistin auch persönlich tief getroffen, dass eine Politikerin meiner Partei und Vorsitzende der Grünen Jugend ein Sweatshirt mit dem Aufdruck ACAB zur Schau gestellt hat“, äußerte Mihalic im Interview mit dem „Spiegel“.
Nietzard ist eine Politikerin von der Außenlinie. Niemand würde überrascht sein, sie demnächst in der Linkspartei anzutreffen. Ganz entspannt hat die Polizei auf die Provokation mit dem Pulli reagiert, nämlich mit einem eigenen Pulli und dem Aufdruck: „All cops are beautiful“. Bedenklich ist, dass das politische „Bullen-Bashing“ eine Berufsgruppe trifft, die aus vielerlei Gründen am Limit ist. Wie selbstverständlich wird die Polizei als Prellbock in Anspruch genommen für sämtliche Konflikte im Land, vor allem für solche mit Migrationshintergrund. Davon handelt ein Buch, das ein langjähriger Bundespolizist verfasst hat. Es ist gerade herausgekommen und hat den Titel „An der Grenze“ (Heyne-Verlag).
Jan Solweyn, so heisst der Autor, war jahrelang an zahlreichen Brennpunkten eingesetzt, an deutschen und europäischen Außengrenzen. Er hat grenzwertige Erfahrungen im Umgang mit der Alltagskriminalität gesammelt, musste sich „Rassist“ und „Hurensohn“ beschimpfen lassen und lernte, dass die Aufgabe, illegale Migration mit polizeilichen Mitteln unter Kontrolle zu halten, einem Kampf gegen Windmühlenflügel gleichkommt. Solweyn liefert keine Lösungen, er berichtet aus der Praxis: Von einer Türkin, die auch nach 30 Jahren in Deutschland angeblich kein Wort deutsch spricht, von Asylbewerbern, die ihre Ausweispapiere gefälscht oder „verloren“ haben und eingelernte Opfergeschichten erzählen, von einem Schwarzafrikaner, der über Italien illegal eingereist ist, fünfmal zurückbefördert wird und fünfmal wieder in Deutschland auftaucht und so weiter. Die Fälle summieren sich zu einer Beweissammlung für die Vergeblichkeit des polizeilichen Tuns.
Einen breiten Eintrag in dem Buch findet die sprichwörtliche Kölner Silvesternacht 2015/16. Damals bilanzierte die erste Pressemitteilung der Kölner Polizei: „Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich“. Erst nach und nach kam heraus, was sich wirklich zwischen Hauptbahnhof und Dom abgespielt hatte. Im Schutz der Menge wurde massenhaft geklaut sexuell belästigt. Tausend Anzeigen wurden erstattet, fünfzig Prozent wegen Sexualdelikten. Täter waren nordafrikanische junge Männer. Nur vierzig wurden überführt und verurteilt. Die Polizei hatte die Lage unterschätzt. Ein hoher Beamter wurde deshalb geschasst. Ein Jahr später sollte alles besser sein. Tatsächlich blieb diesmal am Dom alles ruhig, die Bevölkerung atmete auf. Die Polizei geriet trotzdem in die Kritik. Nicht weil sie zu wenig kontrolliert hatte oder die Falschen. Nach den Erfahrungen des Vorjahrs hatte sie sich besonders junge Männer vorgenommen, die nordafrikanisch aussahen. Damit beging sie in den Augen linker Kritiker „racial targetting“, das heißt die Todsünde des Rassismus.
Irgendwann quittierte Solweyn den Dienst. Sein Buch soll erklären, warum. In der Quintessenz ist es eine Anklage an die Adresse von Politik und Medien. Der Vorwurf: Naivität und Schönfärberei. Mag sein, dass Solweyn hier und da übertreibt. Das Buch ist dennoch wichtig und verdienstvoll. Es protokolliert die zweite Seite der Willkommenskultur, von der in der Politik lange Zeit nicht gesprochen wurde und die bis heute in der Medienberichterstattung unterbelichtet ist.
Inwieweit das Buch eine verbreitete Stimmung in der Polizei spiegelt, ist nicht klar zu erkennen. Wäre es so, wäre es schlimm. Von desillusionierten und entmutigten Polizisten hat das Gemeinwesen nichts. Sie tun einen Dienst, der schwer genug ist und man sollte ihnen geben, was sie brauchen, um effektiv zu sein und sich zu schützen. Vor diesem Hintergrund ist der Widerstand, den es aktuell in Teilen der SPD gegen die Ausstattung der Polizei mit Tasern (Distanzwaffe, die durch Stromimpulse Angreifer für Sekunden matt setzt) gibt, unbegreiflich. Polizisten verdienen keine Heldenverehrung. Was sie verdienen, ist Respekt. Sie verteidigen nämlich unsere Demokratie. Die Bastarde sind andere.
Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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