Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Unlängst an einem Sonntag im „Presseclub“ der ARD. Das Thema lautete „Kampf um Anerkennung – Sprengstoff für unsere plurale Gesellschaft?“. Einer der Teilnehmer hieß Mohamed Amjahid – in Deutschland und Marokko aufgewachsen, in Berlin und Kairo politische Wissenschaften studiert, einst Volontär beim Berliner „Tagesspiegel“, später Redakteur beim Wochenblatt „Die Zeit“, jetzt freier Journalist und Buchautor. Ein erkennbar hoch gebildeter Deutscher mit – wie man heute zu sagen pflegt – „Migrationshintergrund“. Also jemand, zu dem ganz gewiss die große Mehrheit hierzulande sagen würde: „Wunderbar, ein hervorragendes Beispiel für eine anscheinend rundum geglückte Zuwanderung“. Doch das sieht der junge Mann offensichtlich ganz anders.

Integration? Eingliederung also – in welche Gesellschaft denn, fragt Amjahid? In diese aktuelle deutsche? Nein, den Begriff selbst und die dahintersteckende politische Absicht eines positiven Mitwirkens an einem möglichst von Konflikten freien Miteinanders, so klingt jedenfalls die harsche Antwort auf die ganz offensichtlich als Zumutung empfundene Frage des Moderators – „das lehne ich ab!“ Er habe deshalb, zum Beispiel, einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten und -denkenden Freunden um sich geschart. Und in den „kommt selbstverständlich kein anderer rein“. Und dann folgte eine wahre Litanei mit Vorwürfen, dass und warum man in Deutschland als jemand keinen Platz finden könne, dessen Wurzeln in einem anderen Land mit anderer Sprache, Religion und Kultur lägen. Ja, mehr noch, dass man sich selbstverständlich mit aller Macht gegen jegliche gesellschaftliche Vereinnahmung wehren müsse, bis man seine vollen eigenen Rechte zugestanden bekomme.

Womit wir exakt bei dem Thema wären, das dieses Land momentan angeblich umtreibt wie kaum ein anderes. Jedenfalls wenn man die so genannten sozialen aber auch die „konventionellen“ (vor allem die öffentlich-rechtlichen) Medien verfolgt. Das Stichwort heißt „Identitätspolitik“. Und deren (jedenfalls von lautstark auftretenden Gruppen und deren Interessenvertretern postulierter) innerer Sinn ist genau das Gegenteil dessen, was der alte und gerade jüngst erst wiedergewählte „neue“ grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, als zentrales Element seines politischen Wirkens bezeichnet. Nämlich alles zu tun, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu fördern und zu sichern.

Zusammenhalt der Gesellschaft – eigentlich doch eine Formulierung mit ganz banalem, aber auch vernünftigem Inhalt. Schließlich bedeutet sie im Kern nichts anderes als die für einen Staat, ein Land und eine Nation unerlässliche Bemühung sowohl der Politik als jedoch auch der Bürger, gemeinsam die Bedingungen für ein gedeihliches Miteinander zu schaffen und diese möglichst auch einzuhalten. Tatsache jedoch ist, dass dieses Ziel zunehmend in Gefahr gerät. Wer auch nur einigermaßen aufmerksam die aufgeregten Dispute in den Medien (und zwar keineswegs nur in den „sozialen“ Netzen) verfolgt, könnte leicht den Eindruck gewinnen die wirklich bedeutenden Probleme der Zeit seien nicht so sehr die Überwindung der Corona-Krise, die Folgen der Erderwärmung, Hunger und Kriege mit verheerenden Folgen für die Menschen, zunehmendes Auseinanderdriften von Arm und Reich, dramatischer Strukturwandel in der Wirtschaft mit entsprechenden Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte und, und, und… Entscheidend seien stattdessen geschriebene und sogar gesprochene Gendersternchen, darüber hinaus die „korrekte“ Einordnung der Hautfarbe und/oder der genetischen, beziehungsweise geographischen Abstammung von Menschen.

Mit anderen Worten: Wer besitzt welche „Identität“ und hat mithin absoluten Anspruch auf – ja, was auch immer. Zum Beispiel: Darf (wie es sich die farbige Autorin selbst gewünscht hatte) eine – nachgewiesen ausgesprochen fähige – weiße Niederländerin namens Marieke Lucas Rijneveld ein Gedicht der jungen, wunderbaren (allerdings farbigen) US-Amerikanerin Amanda Gorman übersetzen? Nein, auf keinen Fall, hallt es aus dem Chor der Kritiker. Damit würde auf eine unverzeihliche Weise das Gebot der „Identität“ verletzt. Gorman sei schließlich aufgrund ihrer Hautfarbe auf jeden Fall „benachteiligt“. Umgekehrt sei deshalb eine weiße Übersetzerin auf jeden Fall „privilegiert“ und würde deshalb eine unzulässige „kulturelle Aneignung“ begehen.

Haben der geneigte Leser und die verehrte Leserin das begriffen? Nein? Dann wird es aber Zeit, endlich aufzuwachen und sich den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zuzuwenden. Es stimmt, mitunter drängt sich dem am öffentlichen Leben interessierten Zeitgenossen der Eindruck auf, als hänge das Wohl und Wehe unseres Landes von der Frage ab, ob sich (und dies notfalls auch ohne Rücksicht auf Grammatik und Logik) die feminine Endungs-Mitnahme in männlichen Hauptwörtern mithilfe von Sternchen, Ober-, Unter- oder Schrägstrichen (Unternehmer*In) zu einem unverzichtbaren Teil der deutschen Sprache werde. Noch mehr ist aber, andererseits, auch richtig, dass dies zwar zunehmend ins Zentrum (nicht nur, aber besonders) linker Gesellschaftspolitik rückt, gleichzeitig jedoch an den Wünschen, Bedürfnissen und Alltagsproblemen der breiten Bevölkerungsmehrheit weit vorbeigeht.

Trotzdem ist es verblüffend, dass in einer Gesellschaft, in der vor allem eher linksorientierte Intellektuelle praktisch alles und jedes „hinterfragen“, widerspruchslos (manchmal sogar noch applaudierend) eine Verhunzung der eigenen Sprache als vornehmsten Kulturträger hinnehmen. Als vor ein paar Jahrzehnten einige Änderungen vorgenommen wurden, gingen dieser Aktion jahrelange, intensive Diskussionen im gesamten deutschsprachigen Raum voraus. Und zwar unter breit gefächerter Beteiligung von Experten aus dem kulturellen Bereich. Auch wenn Sprachpuristen am Ende noch immer Kritikpunkte fanden, so konnte sich die Sprachreform doch auf eine allgemeine Autorisierung stützen. Nichts davon ist bei der „Gendersprache“ der Fall. Irgendwann einmal, im Zuge der Feminismus-Debatte, tauchten die Sternchen und anderen Zeichen im universitären Umfeld auf. Mit Ausnahme der „Erfinder“ von niemandem zuvor vermisst und entsprechend auch nicht gerade von Massenbewegungen gefordert.

Eine Zeitlang konnte man sich mit der Hoffnung abfinden, dass das Sprach-Gendern wahrscheinlich schon deshalb eine vorübergehende Erscheinung sein werde, weil „Sprache“ ja eine inhaltliche Einheit mit „Sprechen“ bilde und die Sternchen und diversen Striche kaum „sprechbar“ seien. Weit gefehlt. Wer etwa im ZDF die Nachrichten verfolgt, im Deutschlandfunk einer Reportage lauscht oder bei Anne Will der Talkshow beiwohnt, wird mittlerweile leider eines Schlechteren belehrt: Ob ZDF-Frontmann Claus Kleber oder die restliche Moderationstruppe – sie machen sämtlich hinter den maskulinen Hauptwörtern eine kurze Sprechpause, um dann ein „in“ oder „innen“ anzufügen. Das klingt zwar zumeist ziemlich komisch, mitunter sogar nach Sprachfehler oder Hicksern. Aber was soll´s – dafür ist wenigstens der (vorgeblichen) politischen Korrektheit Genüge getan.

 Tant de bruit pour une omelette, wie es in Frankreich heißt? Zuviel Lärm um nichts? Das wäre, im Prinzip, schon richtig. Wenn hier nicht ein quasi missionarischer Antrieb zu verspüren sein würde. Während sich, in der Tat, die große Mehrheit der Bevölkerung um andere Dinge Sorgen macht, als dem Problem einer korrekten Geschlechterbenennung nachzugehen, hat sich – natürlich unter Berufung auf das Anrecht zur eigenen „Identität“ – mit erheblichen öffentlichen Geldern finanziert, vor allem an den Universitäten ein wahres Geflecht zur Förderung relevanter Ansprüche gebildet. In Deutschlands Unis gibt es mittlerweile mehr als 200 Lehrstühle für Gender- also Geschlechterforschung. Im Vergleich dazu: Ganze drei Lehrstühle beschäftigen sich mit Hygiene.

Selbst in klassischen Medien wie Zeitungen werden inzwischen wahre Schlachten geschlagen um korrekte Geschlechterbezeichnungen. In Stellenanzeigen (und im Reisepass) wird dem „Geschlecht“ divers inzwischen ja auch schon ein entsprechender Platz neben „männlich“ oder „weiblich“ eingeräumt. Allerdings verlangt die identitäre Gerechtigkeit längst auch die Anerkennung als „Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Questioning, Intersex, Asexual, Ally oder Pansexual“ – was freilich auch nur eine unvollkommene Aufzählung all dessen ist, was die 200 Lehrstühle in den vergangenen Jahren an menschlicher Vielfalt zutage gefördert haben. Und sie verlangen alle eine eigene Stellung in und Behandlung von der Gesellschaft. Ist darum die Frage völlig aus der Luft gegriffen, ob eben diese Gesellschaft das auf Dauer aushält? Oder ob es nicht zu gefährlichen Rissen und Spaltungen kommen wird.

Zumal die hier behandelten Themen ja bei Weitem nicht die einzigen sind, die derzeit streitig in Deutschland ausgetragen werden. Streitig nicht einmal in ihrem Kern, sondern in der Art, wie militant argumentierende Gruppen und Personen sie zu besetzen versuchen. Beispiele: „Sexismus“, „Rassismus“. Dabei steht bei keinem vernünftigen Menschen in Frage, dass beides zu verurteilen und damit auch zu bekämpfen sei. Aber: Ein Ortsteil der nordrhein-westfälischen Stadt Olpe heißt seit Jahrhunderten „Neger“. Kein Mensch hat sich daran gestört, bis irgendjemand vor einiger Zeit darüber berichtete. Und schon brach der Sturm der politisch-korrekten Sprachpolizisten los. Bislang hat das bei den 360 Einwohnern noch keinen Eindruck hinterlassen. Aber wie lange das wohl gut gehen wird?

Noch ist der Bilder- und Namenssturm auf die „Mohren“ und „Mauren“ nicht vergessen. Nicht wenige Gasthäuser, Hotels oder Apotheken haben sich tatsächlich umbenannt. Aber die Konflikte im Land oder gar jenseits der Grenzen sind dadurch nicht weniger geworden. Und leider auch nicht der Wille und die Bereitschaft in unserer Gesellschaft, statt lächerlicher Sprach- und Sprechakrobatik einer ganz einfachen Lebensmaxime zu folgen, die sich zusammenfassen lässt in den Worten „Leben und leben lasse

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