Von Günter Müchler

Günter Müchler

Arbeitslosigkeit ist und bleibt eine Geißel für Betroffene und Sozialkassen. Es gibt Gründe, daran zu erinnern. Jahrzehntelang waren die monatlichen Wasserstandsmeldungen der Bundesanstalt für Arbeit ein Muss für die Seite 1 jeder Zeitung. Heute macht das Gegenteil der Arbeitslosigkeit Schlagzeilen: der Arbeitskräftemangel. Ob in der freien Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst – ´überall holpert es, weil Personal fehlt. Bloß in einem Bereich boomt es. Das so genannte Beauftragtenwesen ist eine Insel im Meer der allgemeinen Mangellage. Ständig werden neue Problemfelder entdeckt und neue Stabsstellen geschaffen, ohne die es angeblich nicht geht: für Gleichstellung, für Vielfalt und Nachhaltigkeit, gegen Diskriminierung, Rassismus und falsche Ernährung. Dabei ist dem Phänotypus des Beauftragten zu eigen, dass er Probleme nicht löst, sondern aufbläht.   

Wie die Zeiten sich ändern! Als in den achtziger Jahren die Automatisierung voranschritt und das Fenster zur Digitalisierung aufgestoßen wurden, sahen Sozialforscher für die Werktätigen schwarz. „Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus“ lautete ein gängiger Befund, und tatsächlich schwoll die Arbeitslosigkeit an. Aber die herbeigeredete Endzeit war in Wirklichkeit eine Übergangszeit. Schon bald entfesselte die globalisierte Wirtschaft neue Wachstumskräfte, der eine schrumpfende Bevölkerung nicht standhielt. Die Folge ist Arbeitskräftemangel, wohin man sieht.

Die Notlage lässt kaum eine Branche aus. Industrie, Handel und Handwerk klagen genauso wie der öffentliche Dienst. Laut Ulrich Silberbach, dem Vorsitzenden des Deutschen Beamtenbundes, fehlen dem Staat schon jetzt 550 000 Beschäftige. Als Hauptursachen nennt er Sonderbelastungen durch die Grundsteuerreform und höhere Schülerzahlen aufgrund des Migrationsdrucks. Obendrauf komme der anhaltende Abgang der Babyboomer in die Rente. In den nächsten zehn Jahren, so Silberbach, verabschieden sich 1,36 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den Ruhestand, ein Anteil von 27 Prozent.

Schon jetzt sind die Lücken groß, besonders dort, wo es um Daseinsfürsorge geht. Allein in der Pflege fehlen 200 000 Arbeitskräfte, 120 000 in den Heimen, der Rest in den Kliniken. Für die Schulen prognostiziert die Kultusministerkonferenz bis 2035 einen Nettobedarf von 68 000 Lehrkräften. Nicht besser steht es um die Kitas. Hier sieht der Nationale Bildungsbericht für 2025 einen Fehlbedarf von 72 000 Erzieherinnen und Erziehern voraus.

Unterstützt wird der gefährliche Trend durch die wachsende Nachfrage nach Teilzeitbeschäftigung. Teilzeit ist „in“. Sie wird gefördert von der Politik, die wie so oft der Realität hinterherhinkt.  Tatsache ist, dass die Lifestyle-Mode – längst nicht alle wünschen eine Reduzierung des Stundensolls wegen einer Zwangslage – dem durch den demographischen Druck schon ausreichenden gestressten Arbeitsmarkt zusätzlich das Wasser abgräbt. Ein klassischer Fall von „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die Ernst Block als Kennzeichen der Moderne ausmachte. Dass die Wirtschaft nicht vorausschauender plant als der Staat, ist leider nur Wunschglaube. Die zahlreichen Firmen-Programme für Altersteilzeit verschärfen in paradoxer Weise das Problem, das die Unternehmensvorstände anschließend so lauthals beklagen. Und die Gewerkschaften? Auf ihre Beharrlichkeit im Irrtum kann man sich verlassen. Der hyperventilierende Lokführer-Häuptling Weselsky ist nicht der einzige Gewerkschaftschef, der den Teufel durch Beelzebub austreiben will, indem er den Personalmangel, unter dem die Schichtarbeiter leiden, durch die Forderung nach der 35-Stunden-Woche auf die Spitze treibt.

Das Beauftragtenwesen, um das es nun gehen soll, spielt, wie zuzugeben ist, nur in einem begrenzten Zahlenraum. Beachtung verdient es trotzdem, weil unter dem Diktat des Mangels eigentlich besonders sparsam mit den Ressourcen umgegangen werden sollte. Wer wollte, wenn es klemmt, neue Stellen verantworten, deren produktiver Nutzen zumindest zweifelhaft ist? Genau dies aber geschieht. Die Profession der Beauftragten hat einen eingebauten Wachstumsmotor. Über ihre Anzahl in Behörden, Unternehmen oder Universitäten ist wenig bekannt, was für sich genommen bereits Fragen aufwirft. Schließlich schreckt die deutsche Statistik-Manie doch sonst vor nichts zurück. Sie misst die nationale Hosenknopfproduktion oder den Pro-Kopf-Verbrauch Dreijähriger von Speiseöl. Behaupten lässt sich jedenfalls, dass rund um das Beauftragtenwesen ein kleiner Arbeitsmarkt entstanden ist, dessen Dynamik dem Klagelied über den Arbeitskräftenotstand so gar nicht entspricht.

Angefangen hat alles mit den Gleichstellungsbeauftragten. Das erste Büro für Gleichstellung wurde 1982 in der Stadt Köln eingerichtet. Die Achtziger standen im Zeichen eines fortgeschrittenen Feminismus, der sich nicht mehr mit dem Kampf um Rechtsgleichheit begnügte. 1987 meldete die Universität Frankfurt den bundesweit ersten „Frauenlehrstuhl“. Es war der Ausgangspunkt einer beispiellosen akademischen Karriere. Heute zählt man in der Bundesrepublik gut 200 Lehrstühle, an denen „Gender-Studies“ betrieben werden. Auch das Gleichstellungswesen ging in die Breite. Beim Bund muss jede Dienststelle mit mehr als 100 Beschäftigen über eine hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte verfügen. Die Regelungen in den Ländern sind unterschiedlich. Nach der nordrhein-westfälischen Kommunalverfassung sind Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern sowie alle Landkreise verpflichtet, Gleichstellungsbeauftragte einzustellen. Dachverband ist die Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsbeauftragter. Sie vertritt 1900 Mitglieder. Bemerkenswert ist, dass Gleichstellungsbeauftragte durch einen Wahlakt bestellt werden, an dem nur weibliche Mitarbeiter teilnehmen dürfen. Dabei müssen sie sich nicht nur um Frauen kümmern, sondern ausdrücklich auch um Männer und Diverse.

Für die Belange der letzten Gruppe wird dennoch gesorgt. So werben seit einiger Zeit Städte mit sogenannten Diversity- und Queerbeauftragten. In Berlin, wo bekanntlich die Finanzen besonders klamm sind, setzt beispielsweise der Bezirk Lichtenberg mit einer solchen Beauftragten „ein deutliches Zeichen für Vielfalt und gegen Diskriminierung“. Die Aufgabenstellung umfasst nach Auskunft des Bezirks u.a. „die Stärkung der Akzeptanz und Sichtbarmachung von Diversity (Vielfalt) und LSBTTIQ*-Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Bezirksverwaltung, die Unterstützung freier Träger und Netzwerke und das Erstellen von Berichten und Konzepten zu den Themenfeldern Diversity und Queer“.

Zeichen setzt auch der Deutsche Fußballbund (DFB). Bei der kürzlichen Weltmeisterschaft schied „Die Mannschaft“ zwar in der Vorrunde aus, in der „Sichtbarmachung“ des Eintretens für Vielfalt war die Truppe ihrer Konkurrenz jedoch weit voraus. Die Regenbogenfahne der Fortschrittlichkeit wollen die Fußballer auch weiter schwingen. Die Proficlubs der ersten und zweiten Bundesliga, vereinigt in der DFL, erhalten künftig nur dann eine Lizenz, wenn sie „eine*n Fanbeauftragte*n Inklusion und Vielfalt“ benennen. Neu ist eine „Nachhaltigkeitsrichtlinie“. Auf 21 Seiten listets sie 39 Mindestkriterien erster und 78 Mindestkriterien zweiter Ordnung auf.

Darin geht es nicht nur um „Compliance“ (gutes Verhalten), um die Anschaffung von Elektro -Autos oder um nachhaltiges Heizen der clubeigenen Immobilien. Gefragt wird u.a.: „Verfügt der Club über ein Lebensmittelkonzept für nachhaltige Ernährung bei Heimspielen?“ Logo, dass vegetarische und vegane Speisen angeboten werden müssen. Verlangt bei alledem ist eine saubere Buchführung: „Wie hoch ist der Anteil von Bio- und Fairtrade-Lebensmitteln am gesamten Essensangebot bei Heimspielen (in Prozent)?“ will die DFL-Richtlinie wissen. Sie schreibt vor, dass jeder Club „Mitarbeiter/innen, Spieler/innen sowie Ordner/innen für die Themen Diskriminierung und Gleichberechtigung, Diversität und Inklusion sensibilisiert“. Großvereine wie Bayern München oder Borussia Dortmund können sich Beauftragte für die Einhaltung der „Nachhaltigkeitsrichtlinie“ fraglos leisten. Wie hingegen der SV Elversberg, ein saarländischer Vertreter in der Zweiten Bundesliga, die 117 Mindestkriterien samt Berichtspflicht erfüllen soll, gehört zu den Rätseln der Zeitgeschichte.

Das Bemühen der Kicker-Funktionäre, sich vom Alte-weiße-Männer-Image zu lösen, mag Züge einer Satire besitzen, ein Alleinstellungsmerkmal ist es nicht. Auch in der Wirtschaft kennt die Beflissenheit keine Grenzen. Den Buchverlagen geht es schlecht? Das hindert einige von ihnen nicht daran, Stabsstellen für „sensitivity reading“ einzurichten. Es handelt sich hierbei um Speziallektorate, die Bücher und Manuskripte nach diskriminierenden Unwörtern durchforsten. DAX-Unternehmen bedienen sich in der Binnenkommunikation der Gender-Sprache. Beauftragte für Vielfalt begutachten die Personalentwicklung, schreiben Fortschrittsberichte und sichern die Vorstände gegen Vorwürfe ab, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen.

Beim „Deutschen Diversity-Tag“ im vergangenen Jahr zollte die Bundes-Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman besonders vielfalts-agilen Großunternehmen Anerkennung, den Lahmenden drohte sie mit der Europa-Keule. Es muss nämlich die „Corporate Sustainability Direktive“ (CSRD) der Europäischen Union von großen Firmen bis Mitte 2024 umgesetzt sein. „Wer mit dem Thema Diversitätsmanagement noch nicht angefangen hat, sollte sich bald auf diese Reise begeben“, mahnte Frau Ataman. Wie viele Personalkapazitäten aufgewandt werden müssen, um den Anforderungen der CSRD gerecht zu werden, lässt sich noch nicht einmal vage schätzen. Sicher ist nur: Während die deutsche Wirtschaft mit der Rezession zu kämpfen hat, geht das Beauftragtenwesen dank CSRD einem weiteren Wachstumsschub entgegen.

Kaum überraschend ist dabei, dass die Bundesregierung bei der Entwicklung des Beauftragtenwesens vorangeht. Die aktuelle „Liste der Beauftragten der Bundesregierung, der Bundesbeauftragten sowie der Koordinatoren/Koordinatorinnen der Bundesregierung nach § 21 Abs. 3 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO)“ zählt nicht weniger als 45 Beauftragte auf. Darunter befindet sich die oben erwähnte Frau Ataman, die als Beauftragte für Antidiskriminierung so etwas wie die Kuppel über dem Reichstagsgebäude ist. Weniger sichtbar sind die Beauftragten für die Arbeitsintegration von Flüchtlingen, für Tierschutz, energetisches Bauen, Antiziganismus oder für die Belange der Queer-Community.   

Natürlich haben nicht alle Beauftragte exotische Aufgabenfelder. Und ganz neu ist der Impuls, Beauftragten-Stellen zu schaffen, auch nicht. Früher sagte man, wenn man nicht mehr weiterwusste oder einfach einen Beschäftigungsnachweis erbringen wollte: Richten wir eine Kommission ein. So läuft das auch heute, allerdings mit einer ungeahnten Dynamik der Ausbreitung. Diese verdankt sie dem konformistischen Trend, übrrall Missbrauchstatbestände und Opfergruppen auszuspähen, und sei es auf der Mikro-Ebene.

Ignoriert werden Verhaltensauffälligkeiten des Phänotypus Beauftragter, die zu tun haben mit persönlicher Bestandssicherung. Dramatisierung gehört zum Geschäft des Beauftragten. Nur wer Problemlagen übertreibt, kann auf zusätzliche Ressourcen hoffen. Nur der apokalyptische Tonfall sichert Aufmerksamkeit. Dementsprechend gehören Formulieren wie „Die Welt geht unter, wenn; die Demokratie ist am Ende, falls“ zum professionellen Sprachduktus des Beauftragten. Man tut der Spezies nicht Unrecht, wenn man ihre therapeutische Wirksamkeit bezweifelt. Schließlich handeln sie nur, wie andere auch, nämlich entlang ihrer Interessen. Und ihr Interesse kann natürlich überhaupt nicht sein, dass der Missstand, zu dessen Beseitigung sie berufen sind, für erledigt erklärt wird.

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

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