Runter vom Abstellgleis

Nach langem Stillstand könnte die EU ihren Integrationsprozess auf dem westlichen Balkan neu gestalten und ein Signal an Russland und China senden.

Ein möglicher EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und die Republik Moldau könnte auch neue Hoffnungen wecken, den ins Stocken geratenen Prozess der europäischen Integration einer von Brüssel vergessenen Region zu beschleunigen: des westlichen Balkans. Vier Beitrittskandidaten gibt es in der Region – Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien. Und zwei weiteren aussichtsreichen Ländern – Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina – wurde dieser Status bislang noch nicht zuerkannt. Serbien und Montenegro sind die einzigen dieser sechs kleinen Länder, die in den Verhandlungsprozess eingetreten sind – 2014 beziehungsweise 2012. In den acht bzw. zehn Jahren seither wurden jedoch kaum Fortschritte erzielt und beide Länder sind noch weit davon entfernt, den EU-Beitrittsprozess abzuschließen.

Das Europäische Parlament in Straßburg ©seppspiegl

Der Krieg in der Ukraine hat unsere Sicht auf globale Allianzen und deren Bedeutung für kleinere Länder verändert und eine Debatte über die Frage entfacht, ob diese Entwicklungen zu einer neuen europäischen Ordnung oder zu einem neuen Kalten Krieg führen werden. Der globale Kontext dieser Krise zeigt sehr deutlich, dass die internationale Diplomatie kreativere, engagiertere und strategisch fundierte Antworten erfordert. Kürzlich haben drei Länder des westlichen Balkans – Albanien, Montenegro und Nordmazedonien – ihre Unterstützung für einen EU-Beitritt der Ukraine bekundet und dabei ihre Absicht bekräftigt, ihren eigenen Kurs in die Union beizubehalten.

Nach inzwischen achtjährigen Verhandlungen hat Serbien 18 von insgesamt 35 Kapiteln eröffnet und erst zwei vorläufig abgeschlossen. Das benachbarte Montenegro konnte zwar alle Kapitel eröffnen, kommt aber bei wichtigen Kapiteln wie dem Kapitel 23 (Grundrechte und Justiz) und dem Kapitel 24 (Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption) nicht voran.

Der Krieg in der Ukraine hat unsere Sicht auf globale Allianzen und deren Bedeutung für kleinere Länder verändert.

Nordmazedoniens Weg nach Europa gestaltet sich sogar noch beschwerlicher und hürdenreicher. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik, Beitrittskandidat seit 2005, musste wegen eines fast drei Jahrzehnte andauernden Namensstreits mit Griechenland, das ebenfalls eine geografische Region namens „Mazedonien“ umfasst, mit einem Veto seines weitaus größeren südlichen Nachbarn leben. Nachdem der Streit mit Griechenland 2019 beigelegt wurde und das Land seinen Namen in „Nordmazedonien“ änderte, um den geografischen und geschichtlichen Unterschied deutlich zu machen, schien Skopje seinen Weg nach Europa fortsetzen zu können. In der zweiten Jahreshälfte 2019 erhob allerdings Frankreich Einspruch gegen den Verhandlungsprozess insgesamt. Mit der Begründung, es müsse einen „reformierten Erweiterungsprozess“ geben, hinderte Paris sowohl Nordmazedonien als auch Albanien – ebenfalls seit 2014 Kandidatenland – daran, in die mit Spannung erwarteten Gespräche über einen EU-Beitritt einzutreten.

Das Europäische Parlament in Straßburg ©seppspiegl

Nachdem im Jahr darauf ein überarbeiteter Erweiterungsplan den Pariser Anforderungen gerecht zu werden schien und endlich die Weichen für Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien stellte, schlug das Unheil erneut zu. Diesmal brachte ein anderer Nachbar Nordmazedoniens, Bulgarien, seinen eigenen bilateralen Streit ins Spiel. Die beiden Länder hatten 2017 einen sogenannten „Freundschaftsvertrag“ unterzeichnet, der unter anderem vorsah, dass Sofia die europäische Integration Skopjes nicht behindern würde. Das hinderte Bulgarien jedoch nicht daran, in den vergangenen zwei Jahren den Prozess zu blockieren, weil es ihn als „Geschichts- und Identitätsstreit“ mit seinem viel kleineren Nachbarn wahrnimmt. Bulgarien behauptet, die mazedonische Sprache sei keine eigenständige Sprache, sondern eine Regionalsprache der bulgarischen Sprache, und die beiden Länder hätten auch eine „gemeinsame Geschichte“, was Skopje bestreitet.

Mit der Begründung, es müsse einen „reformierten Erweiterungsprozess“ geben, hinderte Paris sowohl Nordmazedonien als auch Albanien daran, in Gespräche über einen EU-Beitritt einzutreten.

In der Folge geriet der Prozess erneut ins Stocken. Nordmazedonien und Albanien wurden auf das Abstellgleis geschoben und mussten erneut auf grünes Licht für die Aufnahme von Verhandlungen mit der EU warten. Abgesehen von dem historischen Streit pocht Bulgarien außerdem darauf, dass Nordmazedonien seine Verfassung ändert und der bulgarischen Gemeinschaft im Land einen offiziellen Status zuweist, der ihr die gleichen Rechte wie anderen ethnischen Minderheiten im Land gibt, sowie mehr gegen Hatespeech gegen Bulgaren im Land unternimmt. Während Skopje und Sofia derzeit noch weit von einer Lösung des Konflikts entfernt sind, hat Frankreich versucht, Bulgariens Forderungen in den EU-Verhandlungsrahmen für Nordmazedonien einzubringen und damit das derzeitige Veto zu umschiffen.

Eine mögliche Beilegung dieses Konflikts würde auch den Weg für einen schnelleren Integrationsprozess auf dem westlichen Balkan ebnen – gerade vor dem Hintergrund von Entwicklungen wie dem Krieg in der Ukraine. Die Hälfte der sechs westlichen Balkanländer (Nordmazedonien, Albanien und Montenegro) gehört bereits der NATO an und könnte daher Russland ein Dorn im Auge werden. Eine schnellere Aufnahme in die EU würde ihnen ohne Zweifel die dringend benötigte Sicherheit für ihre Zukunft geben. Bereits während der Corona-Krise haben Russland und China auf dem Balkan Präsenz gezeigt und die dortigen Länder erfolgreich mit Covid-19-Impfstoff versorgt, bevor die EU dies schaffte.

Die EU könnte den Westbalkanländern etwas anbieten, womit Russland oder China nicht aufwarten können: eine Perspektive für wirtschaftliche Entwicklung und eine Demokratisierung ihrer Gesellschaften.

Der postkommunistische Transformationsprozess hat den Volkswirtschaften dieser Länder in den vergangenen 30 Jahren stark zugesetzt und ist noch in frischer Erinnerung. Mit einer klaren europäischen Perspektive, die es in den vergangenen zehn Jahren nicht gab, könnte den Bürgerinnen und Bürgern endlich etwas Konkreteres angeboten werden als die Versprechungen der jeweiligen politischen Eliten im Land in der Vergangenheit. Hier könnte die EU den Westbalkanländern etwas anbieten, womit Russland oder China nicht aufwarten können: eine Perspektive für wirtschaftliche Entwicklung und eine Demokratisierung ihrer Gesellschaften. Ein klares Bekenntnis Brüssels zur europäischen Integration würde Russland und China, die ihren Einfluss in der Region ausbauen wollen, eine wichtige Botschaft vermitteln: Die EU ist bereit, ihre Verbündeten unabhängig von ihrer Größe zu unterstützen, und lässt es nicht zu, dass sie weiterhin von den Größeren und „vermeintlich“ Stärkeren drangsaliert werden.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Bojan Stojkovski ist freiberuflicher Journalist mit Sitz in Skopje, Nordmazedonien.

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