Raus aus der Kleingartenkolonie
Schluss mit dem Ressortdenken. Deutschland braucht eine umfassende, kohärente Sicherheitspolitik. Der neuen Regierung bietet sich hier eine Chance.
Zur Sicherheitspolitik hat die Sozialdemokratie seit langem ein ambivalentes Verhältnis. Nun wird sie in der neuen Regierung genau in diesem Bereich drei der vier wichtigsten Ministerien übernehmen: Innen, Verteidigung und Entwicklungszusammenarbeit. Der Koalitionsvertrag gibt nur einen groben Rahmen vor und eröffnet damit die große Chance, eine kohärente integrierte Sicherheitspolitik zu schaffen. Die Veröffentlichung einer Nationalen Sicherheitsstrategie innerhalb des ersten Amtsjahres, auf die die Koalitionsparteien sich verständigt haben, wird hierfür ein wichtiger Meilenstein sein. Der Weg in diese Richtung steht offen, da in den Koalitionsverhandlungen in wesentlichen Streitpunkten Kompromisse gefunden werden konnten.
Gerade die zukünftige Verteidigungspolitik hatte nicht nur den Koalitionären, sondern auch Deutschlands Partnern einige schlaflose Nächte bereitet. In Paris, Warschau und Washington sorgte man sich bis zur Veröffentlichung des Koalitionsvertrages, dass das deutsche Engagement für Abschreckung und Krisenmanagement weiter erodieren könnte. Die Vereinbarung der Koalitionsparteien ist in dieser Hinsicht aber grundsolide. Die Koalitionäre übernehmen das deutsche Bekenntnis zur NATO und (nuklearen) Abschreckung. Sie verpflichten sich sogar zur Beschaffung neuer atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge, die die Voraussetzung für die nukleare Teilhabe und die praktische Umsetzung von Solidarität in der NATO sind. Für einen Teil der Koalition ist das eine bittere Pille. Zum Ausgleich müssen die anderen ebenfalls eine Kröte schlucken: Deutschland wird möglicherweise dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten – als Beobachter wohlgemerkt, nicht als Mitglied.
Dieser Beitritt ist aber ein rein symbolischer Akt. Dadurch wird keine einzige Atomwaffe abgerüstet. Eine Chance auf substanzielle Rüstungskontroll- und Abrüstungsinitiativen bietet die Koalitionsvereinbarung dennoch: Sie enthält ein klares Bekenntnis zur Zweigleisigkeit von Abschreckung und Dialog als Konzept sowie eine Absage an einen Alleingang in der Rüstungskontrolle. Dieser wäre von den NATO-Partnern als verstörender Sonderweg Deutschlands begriffen worden. Die Koalitionäre erklären sich solidarisch mit den Staaten Mittel-und Osteuropas, indem sie ihre Sicherheitsbedenken ernstnehmen. Darin besteht eine unabdingbare Voraussetzung für einen Dialog mit den NATO-Partnern zu Rüstungskontrolloptionen. Eine einseitige nationale Abrüstungsoffensive Deutschlands gegenüber Russland wäre von Beginn an zum Scheitern verurteilt: Deutschland hätte nichts anzubieten, würde aber seine Verbündeten vor den Kopf stoßen. Deutschland würde den Keil liefern, den Russland genüsslich zwischen die NATO-Mitglieder treiben und so deren politische Solidarität schwächen würde.
Eine glaubwürdige Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit ist nicht ohne substantielle Investitionen zu gewährleisten.
Natürlich waren auch die Verteidigungsausgaben ein wesentlicher Streitpunkt: Einerseits hängt der Bundeswehr der Ruf nach, Geld systematisch zu verschwenden. Andererseits ist klar, dass eine glaubwürdige Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit nicht ohne substantielle Investitionen zu gewährleisten ist. Für eine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen wäre es unmöglich, sich ausdrücklich auf die vergiftete und wenig hilfreiche Zwei-Prozent-Formel für die Verteidigungsausgaben zu verpflichten. Richtigerweise haben die drei Parteien als relevantes Kriterium im Koalitionsvertrag festgelegt, dass Deutschland seine Verpflichtungen gegenüber seinen Partnern einhält. Diese rechnen fest damit, dass Deutschland weiterhin das Rückgrat multinationaler Verbände sein will. Dafür wird die Koalition allerdings Geld ausgeben müssen. Das über Jahrzehnte stiefmütterlich gepflegte Gerät muss wieder fahren, schwimmen oder fliegen. Eine moderne und militärisch effektive Armee muss mit fortschrittlicher Verteidigungstechnologie ausgestattet sein. Die Voraussetzung für höhere Mittel für Verteidigung wird allerdings nicht nur ein Bekenntnis zu mehr Effizienz bei der Beschaffung sein, sondern auch konkrete Umbauten in der Bürokratie, die das Geld ausgibt.
Während der Koalitionsvertrag in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik etliche Chancen eröffnet, klaffen auch erhebliche Leerstellen. Die Zusagen der neuen Koalition an europäische und bilaterale Kooperation sind spärlich, unspezifisch und lauwarm. Auch eine ehrgeizige Agenda für zivile Sicherheitspolitik, integriertes Krisenmanagement und Stabilisierung fehlt.
Immer mehr sind es auch nicht-militärische Risiken und Bedrohungen, die Deutschlands Sicherheit gefährden.
Immer mehr sind es auch nicht-militärische Risiken und Bedrohungen, die Deutschlands Sicherheit gefährden: Desinformation zielt darauf, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu untergraben. Inszenierte Krisen wie an der Grenze von Belarus zu Polen sollen die Schwäche unserer Demokratie zeigen, Cyberangriffe die Verletzlichkeit unserer kritischen Infrastruktur und politischen Institutionen vorführen. Hier ist das Innenministerium der Dreh- und Angelpunkt. Ihm obliegt der Schutz Deutschlands vor hybrider Kriegsführung und illegitimer Einflussnahme ausländischer Akteure primär, ebenso wie die Abwehr von Wirtschaftsspionage und Cyberangriffen. Das Innenministerium stellt aber auch das Polizeipersonal für Missionen im Krisenmanagement sowie beim Grenzschutz und koordiniert sich mit den Beiträgen der Länderpolizeien. In Fällen wie diesen müssen die Vorsetzungen für internationale Sicherheit zunächst im Inneren geschaffen werden. Sonst wird der deutsche Anspruch, einen besonderen Beitrag zum umfassenden Krisenmanagement leisten zu wollen, weitgehend gut gemeinte Rhetorik bleiben.
Eine umfassende integrierte Sicherheitspolitik ist kein neuer Anspruch – er ist bislang nur noch nicht eingelöst worden. Die deutsche Sicherheitspolitik gleicht bislang eher einer Kleingartenkolonie mit neidischen Pächtern statt einem Kollektiv, in dem die Aufgaben klar verteilt sind und die Anstrengungen ineinandergreifen. Integrierte Sicherheitspolitik erfordert ressortübergreifendes, konzertiertes Handeln mit Blick auf ein gemeinsames Ziel. Sie umfasst die Innere Sicherheit und bezieht neben den Instrumenten der Außenpolitik und des militärischen Krisenmanagements die der Entwicklungszusammenarbeit mit ein. Denn Entwicklungszusammenarbeit wird schwer umsetzbar oder gar kontraproduktiv, wenn sie ohne Rückbindung mit der weiteren nationalen und europäischen Agenda und daraus resultierendem Außenhandeln stattfindet.
In der Außen- und Sicherheitspolitik wird es schon bald zur Belastungsprobe für die Koalition kommen.
Die erfolgreiche Verknüpfung von innerer und äußerer Sicherheitspolitik dürfte schon bald getestet werden. In Osteuropa tragen Russland und Belarus einen hybriden Konflikt mit den NATO- und EU-Staaten aus, indem sie Europas Schwächen geschickt nutzen: die Angst vor Zuwanderung, die Abhängigkeit von Energie und die politischen Risse in der EU. Während Polen in einem beispiellosen Rechtsstreit mit der EU liegt, verlangt es Unterstützung und stellt so die Solidarität doppelt auf die Probe. Das alles unterlegen Moskau und Minsk mit immer lauterem Säbelrasseln. Dass Putin entlang dieser Schwachstellen schrittweise Eskalationen herbeiführen wird, ist absehbar. In der Außen- und Sicherheitspolitik wird es deshalb schon bald zur Belastungsprobe für die Koalition kommen. Und schon vorher werden Deutschlands Partner sich fragen, auf welche Zusagen Berlins sie sich in dieser Lage verlassen können. Eine Schonfrist ist nicht zu erwarten.
Auch für die internationale Konfliktbewältigung drängt die Zeit. Der Bundeswehreinsatz in Mali wird nach dem Afghanistan-Debakel nun von einigen mit Unkenrufen bereits als gescheitert abgetan. Aber die Koalitionäre sind sich einig, dass man sich nicht in Europa verschanzen kann. Damit löst man die internationalen Krisen und Konflikte nicht, sondern verschließt sich lediglich die Handlungsspielräume, um auf sie zu reagieren. Doch was Deutschland beitragen kann und was es dafür bereit ist zu leisten hängt davon ab, ob es der Vielfalt, Gleichzeitigkeit und Beschleunigung von Krisen ein integriertes und kohärentes Krisenmanagement entgegenzusetzen vermag. Oder ob es beim Kleingartenansatz bleibt.
Christian Mölling ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er forscht und berät seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement.
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