Von Wolfgang Bergsdorf

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Man muss nicht Franz Kafka gelesen haben, um sich den Albtraum vorzustellen zu können, Opfer eines Justizirrtums zu werden. Also von einem Gericht für eine Tat verurteilt zu werden, die man nicht begangen hat. Weil nun aber Richter und auch Geschworene Menschen sind mit allen nur denkbaren Defiziten und Fehlern, geschieht das immer wieder – und zwar weltweit.

Kürzlich machte eine Meldung aus Los Angeles die Runde, nach der auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Gericht im amerikanischen Bundesstaat Missouri einen Schuldspruch wegen Mordes aus dem Jahr 1979 aufgehoben hat. Der heute 62 Jahre alte Afroamerikaner Kevin Strickland war seinerzeit wegen dreifachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden mit der Maßgabe, frühestens nach 50 Jahren vorzeitig entlassen zu werden. Die einzige Tatzeugin gab in dem Prozess an, Strickland als Täter erkannt zu haben, widerrief indessen diese Behauptung vier Jahrzehnte nach seiner Verurteilung. Sie habe Strickland mit jemanden anderem verwechselt. So musste Strickland fast 43 Jahre in amerikanischen Gefängnissen einsitzen, die längste Haftzeit eines Unschuldigen in den USA.

Nicht einmal Entschädigung

Eine Entschädigung steht ihm dennoch nicht zu. Denn der Staat Missouri sieht nur Zahlungen an Unschuldige vor, deren Verurteilung mithilfe von DNA-Analysen aufgehoben wurden. Dieser Fall und die ausbleibende Entschädigung hat viele Amerikaner empört. Um Strickland bei seinem ersten Schritten in der Freiheit zu unterstützen, spendeten Tausende seiner Landsleute mehr als 1 Million Dollar.
Um Justizirrtümer aufzudecken, wurde 1982 die Organisation Innocence-Project gegründet, die sich 2009 des Falles Strickland annahm wurde. Es dauerte dann noch einmal zwölf Jahre, bis auf Drängen der Staatsanwaltschaft des Bezirks Jackson das Urteil aufgehoben wurde.

Fehlerquote und Todesstrafe

Jedes Jahr appellieren rund 3000 Insassen amerikanischer Gefängnisse an das Innocence-Project um den Nachweis ihrer Unschuld zu erbringen. Tatsächlich sind seit der Gründung des Vereins die Urteile über 375 Menschen anhand von DNA-Tests aufgehoben worden. Von den 7482 Todesurteile, die von 1973 bis 2004 in den USA gefällt wurden, halten Forscher 4 Prozent für falsch. Offiziell wurden 1,6 Prozent später aufgehoben. Freilich hält Antonin Scalia, ein früherer oberster Richter, dagegen: Nur 0,027 Prozent der Fälle seien Justizirrtümer. Bei vollstreckten Todesurteilen ist allerdings auch diese Fehlerquote ein starkes Argument zur Abschaffung der Todesstrafe.

Auch in Deutschland gab es vor der grundgesetzlich besiegelten Abschaffung der Todesstrafe Hinrichtungen nach Urteilen, deren Opfer sich später als unschuldig erwiesen. So wurde 1926 ein Josef Jakubowski in Mecklenburg hingerichtet für einen Mord, den er nicht begangen hatte. Der wirkliche Täter legte zwei Jahre später ein Geständnis ab. Nach 1945 gab es hierzulande ebenfalls Dutzende von Fehlurteilen wegen Mordes und anderer Schwerverbrechen. Prominenteste Opfer dürften Maria Rohrbach (verurteilt 1958 vom Landesgericht Münster wegen Mordes an ihrem Ehemann, 1961 Wiederaufnahme des Verfahrens mit Freispruch) gewesen sein und Horst Arnold (2002 verurteilt wegen angeblicher Vergewaltigung einer Kollegin, 2011 Freispruch).

Eine Mischung von Gründen

Natürlich wird in der Fachwelt heftig über die Gründe für Justizirrtümer debattiert. Man nannte eine Melange von vielen Aspekten: Erfolgsdruck, Vorurteile, einseitige Ermittlungen, Ignoranz, Überforderung von Richtern, mangelhafte Ausbildung und – vor allem – fehlende Selbstkritik bei den Robenträgern. Schlampige Recherche, Vorurteile und fehlende Selbstkritik spielten auch bei einer Verurteilung im fernen Australien eine unheilvolle Rolle, deren Opfer George Kardinal Pell wurde. Zwei Messdiener (zwölf und 13 Jahre alt) behaupteten, er habe sie 1996 nach einem Gottesdienst in der Sakristei der Kathedrale von Melbourne sexuell missbraucht.

Die Vorwürfe richtete sich gegen einen der prominentesten Kirchenfürsten, der von Papst Franziskus 2013 in den Kardinalsrat berufen wurde und 2014 zum Präfekten des Wirtschaftssekretariats des Vatikans aufstieg. Zuvor war Pell 1996 von Papst Johannes Paul II. zum Erzbischof von Melbourne und 2001 zum Erzbischof von Sydney ernannt worden. 2017 kehrte er nach Australien zurück, um sich gegen die Vorwürfe sexueller Übergriffe zu verteidigen. Eine Jury von Geschworenen sprach ihn im Dezember 2018 schuldig.

Im Gericht in Haft genommen

Im Februar 2019 wurde das Strafmaß (sechs Jahre Haft) verkündet und der Kardinal noch im Gerichtssaal in Haft genommen. Pells Berufung vor dem höchsten Gericht des Bundesstaates Victoria wurde im August 2018 mit zwei zu einer Stimmen abgelehnt. Erst das oberste Gericht Australiens hob im April 2020 alle vorhergehenden Urteile auf. Mit sieben zu null Stimmen! Die Vorinstanzen – so die Richter – hätten die Beweislage nicht angemessen berücksichtigt, die kalendarischen Daten seien widersprüchlich gewesen, der Kardinal sei stets von anderen begleitet worden, in der Sakristei habe ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht, Entlastungszeugen seien nicht befragt worden.

 

(Nach diesem einstimmigen höchstrichterlichen Freispruch ist der Kardinal nach Rom zurückgekehrt und hat über die 404 Tage seiner Haft – teilweise in einem Hochsicherheitsgefängnis – ein umfangreiches, bewegendes und sehr lesenswertes Tagebuch vorgelegt. Es ist jetzt auch in deutscher Sprache (Verlag Media Maria, Illertissen) erschienen und wird Bells eigenem bischöflichen Wahlspruch Nolite timere! (Habt keine Angst!) in jeder Zeile gerecht. Dieser Fall dieses Justizirrtums ist deshalb so problematisch, weil die Verurteilung des Kardinals weltweit kommuniziert und kommentiert worden war, der Freispruch erster Klasse jedoch nur von Interessierten zur Kenntnis genommen wurde und den meisten Medien nur eine Kurzmeldung wert war.)

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jg.1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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