Von Harald Bergsdorf

Christoph Heusgen © MSC/Kuhlmann

Christoph Heusgen fungierte zwölf Jahre als Experte Angela Merkels für Außen- und Sicherheitspolitik. Im Bundeskanzleramt angesiedelt, beriet und begleitete der Diplomat die Regierungschefin von 2005 bis 2017. Jetzt hat er das Buch „Führung und Verantwortung“ veröffentlicht. Aus nächster Nähe skizziert er darin zum einen die wichtigsten Ziele, Herausforderungen, Weichenstellungen und Ergebnisse der Außenpolitik Angela Merkels. Auf Basis dessen erläutert der Insider zum anderen, welche Prioritäten Deutschlands Außenpolitik künftig verfolgen sollte. Im Kern fordert der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutschland müsse als bedeutendes Land in Zukunft international strategischer und aktiver agieren – nicht nur rhetorisch, sondern real.

Kein ewiger Verlass auf die USA

Denn auf das elementare Engagement der USA in Europa könne sich Deutschland nicht ewig einstellen und verlassen. Das habe gerade die Präsidentschaft Donald Trumps gezeigt. Weil die Führungsmacht der westlichen Demokratien innenpolitisch weiter zerrissen sei und sich auf absehbare Zeit verstärkt auf den Wettbewerb mit China konzentrieren werde, müsse Deutschland als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land in der EU künftig gemeinsam mit Frankreich mehr führen und mehr Verantwortung tragen. Zu dieser schwierigen, aber zentralen Aufgabe gehöre es, die EU auch militärisch zu stärken. Die aktuelle Abhängigkeit Deutschlands von den USA als stärkster Militärmacht der Welt unterstreiche Putins Angriffskrieg in der Ukraine seit 2014. Daher plädiert Heusgen dafür, stärker auf das Angebot des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron einzugehen, über eine „Europäisierung der französischen Nuklearstreitkräfte zu sprechen. Nicht als  Ersatz, sondern als Ergänzung des US-Atomschirms“.

Frieden durch Abschreckung

Das zentrale Ziel bestehe darin, durch militärische Abschreckung den Frieden zu sichern oder einen Aggressor notfalls möglichst vollständig zurückzudrängen. Gegen Diktaturen wie vor allem China und Russland müssten rechtsstaatliche Demokratien und ihre Partner politisch, wirtschaftlich und militärisch enger kooperieren – nach der Devise: Stärker an einem Strang ziehen und auch in dieselbe Richtung. Gerade auch in der Debatte über die EU-Osterweiterung gelte es, demokratisch orientierte Länder und Regierungen forciert zu unterstützen, um Flüchtlingsströme zu begrenzen und Einflussversuche von Diktaturen wie China und Russland zu bekämpfen, dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine das Moskauer Regime geschwächt und das Pekinger Regime gestärkt habe. Umgekehrt freilich müssten EU-Kandidaten auch aus Osteuropa ihrerseits weiterhin einschlägige Standards erfüllen, d.h. vor allem eine demokratisch-rechtsstaatliche Innen-, eine solide Finanz- und eine friedliche Außenpolitik betreiben. So elementar wichtig es auch sei, die EU-Erweiterung oder vorerst zumindest die Kooperation mit EU-Kandidaten auszubauen: Entscheidungsprozesse in der EU werde sie kaum erleichtern. Deshalb EU-intern das Mehrheitsprinzip verstärkt durchzusetzen, wäre wohl ebenfalls keine einfache Aufgabe.

Aktiverer Wettbewerb in Afrika

Auch jenseits der EU rät Heusgen, im weltweiten Wettbewerb mit China und Russland aktiver auf demokratisch-rechtsstaatlich orientierte Regierungen guten Willens in Afrika, Asien und Lateinamerika zuzugehen, um sie durch forcierte Vermittlung privatwirtschaftlicher Investitionen und verstärkte Entwicklungszusammenarbeit mehr zu unterstützen und längerfristig als politische und ökonomische Partner auf Augenhöhe zu gewinnen – nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stärker. Hierbei müsse allerdings ein zentrales Ziel Deutschlands und Europas darin bestehen, wirtschaftliche und sonstige Abhängigkeiten gerade von „Schurkenstaaten“ massiv zu verringern. Heusgen, ehemaliger UN-Botschafter (2017-2021) vergisst dabei nicht, das Thema Menschenrechte anzusprechen, die ja kein westliches Konstrukt, sondern in der UN-Charta festgeschrieben seien.

In der aktuellen Diskussion über Putins Angriffskrieg betont Heusgen mit guten Gründen, die bleibende Notwendigkeit, die Ukraine militärisch bestmöglich zu unterstützen und keine krummen Kompromisse mit dem Kreml einzugehen. Der Autor will in seinem hochaktuellen Buch die „großen Linien“ der Außenpolitik Angela Merkels beschreiben. Dabei präsentiert er auf rund 250 Seiten natürlich keine detaillierte, tiefschürfende Analyse der aktuellen Weltlage, sondern eher ein anregendes, locker formuliertes, gut gegliedertes und klar strukturiertes Werk, das einem Parforceritt durch die internationale Politik ähnelt.

Untypisch gute Zuhörerin

Fast nebenbei charakterisiert der schmale Band die Politikerin Angela Merkel u.a. als bodenständige, untypisch gute Zuhörerin, beschreibt ihre ungewöhnlich akribisch-abwägende Arbeitsweise und liefert einige anschauliche und aufschlussreiche Anekdoten aus der internationalen Politik über überaus unterschiedliche Politiker wie Trump, Johnson, Sarkozy, Erdogan und Putin jeweils mit einem Ego wie ein Wolkenkratzer. Nur dosiert und weitgehend loyal kritisiert Heusgen aus heutiger Sicht die unter Angela Merkel insbesondere in der Großen Koalition betriebene Außen- und Sicherheitspolitik. Ohne die führende Regierungspartei vollständig von Verantwortung zu entlasten, präsentiert Heusgen dabei weite Teile von Merkels Koalitionspartner SPD und FDP als jahrelange Bremser bei Versuchen, die Bundeswehr zu stärken (Merkels Gegenkandidat 2017 wollte das 2- Prozentziel der NATO sogar streichen), und als treibende Kräfte beim Bau der Gasleitung „Nord Stream 2“ („Nord Stream 1“ hatte ja bereits Merkels Vorgänger Gerhard Schröder mit  Putin vereinbart).

Bloß keinen Koalitionskrach

Stärker faktisch als verfassungsrechtlich funktioniert die Bundesrepublik eben üblicherweise weniger als Kanzler-, sondern eher als Koalitionsdemokratie mit einem Regierungschef, der gemeinhin gerade nicht durchregieren kann. Das gilt insbesondere in einer Großen Koalition. Auch deshalb schien die damals führende Regierungspartei (CDU/CSU) wenig geneigt, einen Koalitionskrach auszufechten. Erst Putins Angriff auf die gesamte Ukraine fungierte bei allen – auch der Union – als Weckruf. Um eine belastbare Basis für einen politischen Dialog mit Diktatoren zu schaffen und durch eigene Schwäche keine Angriffskriege zu begünstigen, gilt es jetzt, die NATO massiv zu stärken – mit dem Ziel: Frieden schaffen durch Waffen.

 

Christoph Heusgen „Führung und Verantwortung“. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt, München 2023

 Verlag Siedler

Gebunden, 256 Seiten

€ 24,00

ISBN: 978-3-8275-0169-1

 

Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler aus Bonn mit Schwerpunkten Parteiendemokratie, Extremismus, Terrorismus und Zeitgeschichte.

 

 

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