Unparteilich ins Abseits
Wer verstehen will, wie Großbritannien zu einem dysfunktionalen Staat wurde, muss sich nur den Medienrummel um die BBC und Gary Lineker anschauen.
Für Außenstehende ist es schwer zu begreifen, wie bedeutsam es ist, dass der ehemalige englische Fußballer Gary Lineker am vergangenen Samstag das Match of the Day, das englische Pendant zur Sportschau, im BBC-Fernsehen nicht moderieren durfte, nachdem er sich zur Fremdenfeindlichkeit der britischen Regierung gegenüber Geflüchteten geäußert hat.
Um davon eine Idee zu bekommen, müssen wir das Konzept der „Risikogesellschaft“ des Soziologen Ulrich Beck zu Rate ziehen. Beck meinte mit dem Begriff, dass wir heute in einer Welt der „Nebenwirkungen“ leben, in der der Kapitalismus ständig in unvorhersehbarer Weise gegen sich selbst reagiert, anstatt einfach nur die Tradition durch eine neue zu ersetzen. Dabei ruft er unvorhergesehene und beunruhigende Phänomene hervor – und veranlasst einige dazu, sich in „konstruierte Sicherheiten“ aus der Vergangenheit zurückzuziehen. Eines dieser unvorhergesehenen Phänomene waren die „sozialen Medien“, die in diesem Jahrhundert als Nachfolger der von Jürgen Habermas im letzten Jahrhundert konzipierten Offline-„Öffentlichkeit“ entstanden sind. Zu diesen kalifornischen Unternehmen gehört Twitter, auf dem Lineker eine starke Präsenz hat, während er seit langem Match of the Day im öffentlich finanzierten Fernsehen moderiert.
Lineker ist wegen eines Tweets, den er vergangene Woche gepostet hat, in den Mittelpunkt eines medialen Sturms geraten. Darin kritisiert er die von der konservativen Regierung vorgeschlagene Gesetzgebung zur Abschiebung von Asylbewerbern, die über den Ärmelkanal kommen, anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, Asylanträge zu stellen und diese individuell zu prüfen, wie es diese internationalen Verpflichtungen verlangen. Die Gesetzgebung verstößt damit anerkanntermaßen gegen die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Asylsuchenden, die vor allem aus konfliktgeplagten Gesellschaften wie Iran, Irak, Syrien und Afghanistan fliehen, sind das Treibgut der globalisierten „Weltrisikogesellschaft“ von Beck. Demnach kann der Kapitalismus keine stabile, lebenswerte Existenz mehr garantieren, sondern inmitten der von ihm verursachten Unsicherheit ruft er alle möglichen Reaktionen hervor, darunter auch fundamentalistische.
Die Intensität der Debatte in Großbritannien wurde durch das Argument verschärft, dass es Linekers Tweet war und nicht die von der Regierung aufs Spiel gesetzte Menschenwürde der Asylsuchenden – nicht nur in der rechtsgerichteten Presse, sondern auch auf Seiten der BBC selbst. Die Emotionen wurden durch die jüngste Enthüllung weiter angeheizt, dass der derzeitige Vorsitzende des Verwaltungsrats der BBC, einer Institution, deren Ruf auf ihrer Unabhängigkeit von der Regierung beruht, bei der Vermittlung eines Kredits an den vorletzten Premierminister Boris Johnson geholfen hat, als er noch ein Kandidat für diese Position war.
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht das unerlässliche Bekenntnis der BBC zu einer „unparteiischen“ Berichterstattung.
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht das unerlässliche Bekenntnis der BBC zu einer „unparteiischen“ Berichterstattung. Obwohl durch die imperiale Geschichte Großbritanniens gefärbt und durch keinen Prozess angefochten, der mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung vergleichbar wäre, konnte der Dienst aufgrund seiner Verpflichtung zur Unparteilichkeit ein riesiges weltweites Publikum erreichen – auch wenn sich die feindlich gesinnte britische Regierung weigert, das Budget der BBC aufrechtzuerhalten. Da Englisch heute die Verkehrssprache der Welt ist und die Medien in den Vereinigten Staaten durch die Abschaffung der „Fairness-Doktrin“ unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan in den 1980er Jahren an Glaubwürdigkeit verloren haben – was den von Rupert Murdoch gegründeten ideologisch geprägten Nachrichtensender Fox News ermöglichte –, ist die professionelle BBC in einem unregulierten Meer von „Social Media“-Falschinformationen von globaler Bedeutung.
Das Problem ist, dass die BBC, verblendet durch Großbritanniens aus den USA kopierten Mehrheits-Wahlsystem (First past the Post), „Unparteilichkeit“ so interpretiert hat, dass sie das Unterhaus in Westminster widerspiegelt: Sie will weitgehend ein „Gleichgewicht“ zwischen den Perspektiven bieten, die die großen konkurrierenden Parteien widerspiegeln. Das bedeutet nicht nur, dass sie fundamentalistischen politischen Positionen eine Stimme gibt, auch wenn diese nachweislich durch Evidenz nicht zu rechtfertigen sind – von Brexit-Euro-Mythen bis hin zur Leugnung des Klimawandels –, sofern sie von einer Seite des Unterhauses vertreten werden. Sie beugt sich auch dem politischen Druck, insbesondere wenn – wie in der Flüchtlingsfrage – die Labour-Partei zu eingeschüchtert ist, den vorherrschenden Diskurs in Frage zu stellen. Der lautet, dass die verzweifelten Fahrten mit dem Floß über den Ärmelkanal, die oft in einer Tragödie enden, von den Schleppern der „Migranten“ eingefädelt werden, und wird so von der BBC treu wiedergegeben.
Der englische Elitefußball spiegelt in konzentrierter Form Becks „real existierenden Kosmopolitismus“ einer globalisierten Welt im Aufbruch wider. Der englische Nationaltrainer der Männer Gareth Southgate feiert die ethnische Vielfalt seiner Mannschaft und distanzierte sich von den „rassistischen Untertönen“ des englisch-nationalistischen Brexit-Projekts. Sowohl die Männer- als auch die Frauenmannschaft haben vereinbart, vor Länderspielen auf ein Knie zu gehen, um ihre Ablehnung jeglicher Form von Intoleranz zu demonstrieren, und die Premier League folgt diesem Beispiel regelmäßig vor Ligaspielen. Dieses „woke“ Verhalten hat den Zorn der Fremdenfeinde auf sich gezogen, erntet aber nach anfänglicher Zurückhaltung nun echten Beifall der Fans.
Lineker drehte unwissentlich an der Schraube und löste den Sturm aus, indem er für universelle Normen eintrat – Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Normen, die der ganz rechte Flügel, der derzeit sowohl die britischen Tories als auch die US-Republikaner kontrolliert, rituell als Schaumgebilde „linker Anwälte“ verunglimpft. Lineker erregte so viel Aufsehen, weil er die populistische Rhetorik dieser Regierungsfraktion mit der verglich, die in Nazideutschland verwendet wurde. Das Gesetz, das die Regierung durchsetzen will, könnte dazu führen, dass Großbritannien den Europarat verlassen muss – wie Russland, das im vergangenen Jahr ausgeschlossen wurde, und wie Belarus. Der Rat wurde 1949 gegründet, um dem Nationalsozialismus ein „Nie wieder“ entgegenzusetzen und alle 46 Mitglieder müssen die Europäische Menschenrechtskonvention, das Kerninstrument der Organisation, unterzeichnen.
Der moralische Kompass für den professionellen Journalismus sollte empirisch das Streben nach Objektivität und ethisch die Verpflichtung auf diese universellen Normen sein.
Eigentlich sollte der moralische Kompass für den professionellen Journalismus empirisch das Streben nach Objektivität und ethisch die Verpflichtung auf diese universellen Normen sein. Mit Ersterem ist die Fähigkeit gemeint, die eigenen Vorurteile zu erkennen und selbstkritisch zu korrigieren, um die reale Welt wahrheitsgetreuer wiederzugeben. Das bedeutet, über die bequeme Art von Journalismus des „er sagt, sie sagt“ hinauszugehen, bei dem Journalistinnen und Journalisten zu bloßen Stenographen der Mächtigen werden. Stattdessen gilt es, unter die Oberfläche zu blicken und echte Recherchen anzustellen, um „den Mächtigen die Wahrheit entgegenzuhalten“ („speak truth to power“), wie es der ehemalige tschechische Dissident und spätere Präsident Václav Havel ausdrückte.
Die zweite, damit zusammenhängende, Forderung lautet jedoch, dass Journalisten nur dann redaktionelle Beiträge verfassen, wenn sie mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit im Einklang stehen. Und dass diejenigen, die die besondere Verantwortung tragen, Leitartikel oder persönliche Kolumnen zu schreiben, diese Verpflichtung als besonders verbindlich anerkennen. Das schränkt ihre Meinungsfreiheit in keiner Weise ein – aber es bedeutet, dass die in der britischen Presse weit verbreitete Praxis, hetzerische Leitartikel auf der Titelseite zu veröffentlichen, die sich als Reportage tarnen, sich einer demokratischen Regulierung unterwerfen muss.
Die britische rechte Presse bleibt unbeugsam in einer Art und Weise, die in Westeuropa ihresgleichen sucht – abgesehen von der Bild-Zeitung in Deutschland.
Nach dem Bekanntwerden der weit verbreiteten Verletzung der Privatsphäre durch die britische Presse, insbesondere in dem von Murdoch kontrollierten Imperium, wurde endlich die Notwendigkeit einer angemessenen Regulierung der Medien erkannt, um eine faire und präzise Berichterstattung zu gewährleisten und gleichzeitig die Meinungsfreiheit zu schützen. Doch der Druck zum Handeln ließ allmählich nach und die rechte Presse – die so einflussreich bei der Herbeiführung des Brexit-Desasters war und sich immer noch weigert, dieses als solches anzuerkennen – bleibt unbeugsam in einer Art und Weise, die in Westeuropa ihresgleichen sucht – abgesehen von der Bild-Zeitung in Deutschland.
Dahinter steckt im Grunde eine weitere britische Besonderheit unter den Demokratien: das Fehlen einer schriftlichen Verfassung, die den Rahmen für eine deliberative öffentliche Sphäre bilden sollte. Lange Zeit ging man davon aus, dass dies im Vereinigten Königreich nicht notwendig sei, weil die „Jungs“, die Mitglieder der patrizischen, männlichen Führungselite, die ungeschriebenen Konventionen zu schätzen wüssten und sich an sie hielten.
Diese Löchrigkeit im Grundgerüst wurde in den letzten Jahren von Ideologen und Demagoginnen wie Johnson, die aus eben dieser herrschenden Kaste stammen, sich aber als Stimme des „einfachen Mannes“ darstellen, rücksichtslos ausgenutzt, um die Exekutivgewalt von gerichtlichen Zwängen zu befreien und gleichzeitig Intoleranz zu fördern und abweichende Meinungen zu unterdrücken. Solange diese Herausforderung nicht angegangen wird, wird Großbritannien in einer kreiselnden und gefährdeten Welt eine der Spitzen sein, die sich am unvollkommensten in Richtung nirgendwo drehen.
Aus dem Englischen von Lucy Kretschmer
Robin Wilson ist Chefredakteur von Social Europe und Berater des Europarats für interkulturelle Integration.