Postkolonialismus und die dümmsten Kälber
Von Günter Müchler
In aufgeklärten Kreisen mit den bekannt klaren Vorstellungen von Gut und Böse ist es üblich, über Europa und Amerika nur mit dem Oberton der Verachtung zu reden. Dabei ist der vielgeschmähte Westen ja keineswegs vollkommen bar des Verdienstes. Man denke an den Zweikampf mit dem Sowjetkommunismus, einem ja durchaus unsympathischen Machtsystem, der erfolgreich ausging. Oder daran, dass, wo immer auf der Welt Menschenrechte mit Füßen getreten werden, es der Westen ist, der für die Opfer eintritt, während Russland, China oder arabische Länder allenfalls als Täter in Betracht kommen. Oder an die selbstverständliche Erwartung, dass in Hungersnöten und Bürgerkriegen westliche Geber mit ihrem Geld die schlimmsten Nöte lindern.
Daran zu erinnern, ist allerdings nicht à la mode. Angesagter ist vielmehr, die westlichen Länder kollektiv an den Pranger zu stellen. Als ehemalige Kolonialmächte und universale Übeltäter sollen sie verantwortlich sein für alle Übel der Zeit: für die Klimakatastrophe, für Rassismus und Sexismus. Anklagevertreter sind selbsternannte Postkolonialisten. Sie treffen im Westen nur auf schwache Gegenwehr.
Die Theorie des Postkolonialismus wurde in den USA entwickelt. Längst ist sie nach Europa übergeschwappt. An Universitäten wird sie gelehrt, im linken Milieu ist sie verbreitet. Ihr Aufschwung fiel mit dem Abschwung der marxistischen Heilslehre moskowitischer Provenienz zusammen. Fünfzig Jahre lang war für einen beachtlichen Anteil der westlichen Intellektuellen Moskau das dritte Rom. Bis irgendwann die Kremlherren mit den runden schwarzen Hüten zu grau und mumienhaft aussahen. Als dann Anfang der Siebziger Solschenizyns „Archipel Gulag“ das Sowjetreich als großes Gefängnis enttarnte und es selbst für westliche „Friedensfreunde“ schwer wurde, sie zu verteidigen, hakte man sich bei flippigeren Figuren der sozialistischen Weltbewegung unter: bei Mao, Ho-Tschi-Minh, Pol-Pot, Che Guevara, Fidel Castro – mal im Dutzend, mal der Reihe nach. Bis dann der ganze Sozialismus nicht mehr funktionierte und ein neues All-inclusive-Modell der Welterklärung erforderlich wurde.
Der Postkolonialismus ist eine Ersatzideologie, allerdings mit neuen Akzenten. Der Feind ist nicht mehr nur der US-Imperialismus mit seinem Schwungrad des Kapitalismus; die Feindrolle umgreift jetzt auch die (West-)Europäer als frühere Kolonialmächte, während in die Rolle des Guten der sogenannte Globale Süden einrückte. Eine interessante Rolle nimmt Israel ein. Als angebliche Filiale des US-Kapitalismus war der Judenstaat Teilen der Linken schon immer verdächtig. Keineswegs zufällig wurden Abkömmlinge der 68-Bewegung in palästinensischen Lagern zu Terrorexperten ausgebildet.
Dass der Postkolonialismus in der Kulturszene Fuß gefasst hat, wurde in Deutschland zuletzt bei der Documenta und der Berlinale augenfällig. In Erscheinung tritt er durch Wucherungen in der Sprach- und Symbolpolitik, im Gendern und der Bilderstürmerei des Cancel Culture. Museumsdirektoren kümmern sich nicht mehr vorrangig um Wissensvermittlung. Raubkunst zu identifizieren, ist ihre Hauptaufgabe. Ganze Malschulen stehen unter Kolonialismusverdacht: Als das Rheinische Landesmuseum in Bonn vor zwei Jahren eine Ausstellung niederländischer Stillleben zeigte, fand sich unter jedem zweiten Exponat ein Trigger-Hinweis. Hinter jedem Bildnis, wurde erklärt, stehe ein holländischer Kaufmann, der sein Geld durch die Ausbeutung der Kolonien gemacht habe.
Eingang findet die von vielen Unzulänglichkeiten geprägte Theorie allein deshalb, weil ihre auch zu schlimmsten Sünden wider den Verstand bereit sind. Der Kolonialismus ist keine neuzeitliche Besonderheit und noch weniger eine Spezialität europäische Handelsnationen. Er findet sich überall in der Geschichte, wo Völker vom Recht des Stärkeren Gebrauch machten. In der Bibel erfährt man, dass Ägypter und Babylonier schwächere Völkerschaften unterjochten und zu Sklaven machten. Eine Kolonialmacht großen Stils waren die Römer. Mag sein, dass die zeitgenössischen Opfer für das Doppelgesicht des römischen Imperialismus keinen Sinn hatten. Franzosen und Rheinländer müssen jedenfalls unendlich dankbar dafür sein, dass ihre barbarischen Vorfahren in den 500 Jahren der Beherrschung durch Rom einen gewaltigen Sprung auf der Leiter der Zivilisation machen konnten.
Wer durch die Schaustätten römisch-germanischer Kultur streift, kann nicht ernsthaft glauben, Kolonialismus und Unterdrückung seien ein und dasselbe. Im Musée de la Cour d’Or in Metz ist ein Relief ausgestellt, das Mithras zeigt, wie er mit seinem Wagen der Sonne und des Mondes Tag und Nacht steuert. Es wurde, ein Zufallsfund, 1895 bei Bauarbeiten am Fuß des Maxbergs in Saarburg entdeckt. Jahrhunderte mussten verstreichen, bis die „Ureinwohner“ in der Lage waren, Kunstwerke vergleichbarer Art zu schaffen. Und überhaupt: Köln wäre nicht Köln und würde nicht so heißen, wenn die Urzelle der Stadt nicht die Colonia Claudia Ara Agrippinensium gewesen wäre, zu der sie sich die Metropole am Rhein mit Stolz bekennt.
Irreführend ist auch, den ominösen Kunstraub einseitig der Kriminalstatistik zuzuordnen. Bekanntlich stolperte 1799 das Pferd des napoleonischen Offiziers Pierre Francois Xavier Bouchard bei einem Austritt ins Nildelta über einen halb aus dem Boden herausragenden Stein, Teil einer antiken Stele mit dreisprachiger Inschrift auf ägyptisch, demotisch und griechisch. Der „Stein von Rosette“ wurde nach Europa transferiert und erlaubte Champollion die epochemachende Entzifferung der Hieroglyphen. Eine frivole kulturelle Aneignung? In der Folge brach im Abendland ein wahrer Ägypten-Boom aus, die den überheblichen Europäern die Gipfelleistung der ägyptischen Kultur nachdrücklich vor Augen führte.
Es wäre Unfug, die Schattenseiten des Kolonialismus zu leugnen und die Tatsache, dass sich Engländer und Franzosen, Niederländer und Belgier lange beharrlich weigerten, diese anzuerkennen. Besonders unrühmlich ist das Kapitel des belgischen Kolonialismus, mit dessen Aufarbeitung erst in den Nullerjahren wirklich begonnen wurde. Die Schande, die Europa auf sich geladen hat, ist beträchtlich. Im Roman „Herz der Finsternis“ hat Joseph Conrad eindrücklich geschildert, wie die Europäer Finsternis über Afrika brachten und dabei selbst in die Klauen der Finsternis gerieten. Unbestreitbar ist aber auch, dass Europa schließlich die Kraft fand, sich von der kolonialen Vergangenheit zu lösen. Die Franzosen waren die ersten, die Sklaverei verboten. Die Engländer folgten.
Deutschland sprang erst spät auf den imperialistischen Zug auf. Die deutsche Kolonialgeschichte dauerte noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert, allerdings Zeit genug, um schwere Verbrechen zu begehen wie in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia. Die Niederwerfung des Herrero-Aufstands und das, was auf ihn folgte, ist als Völkermord anerkannt. Eine Milliarde Euro Entschädigung hat Berlin zugesagt. Eine weitere Milliarde ist als Entwicklungshilfe bereits geflossen. Genug oder nicht genug? Für Gerechtigkeit gibt es keine präzise Buchhaltung.
Dass die Theorie des Postkolonialismus für eine Politik nutzbar gemacht werden kann, der es darum geht, eine Reparationsmaschine in Gang zu setzen, die mit Schuldzuweisungen arbeitet und mit Schuldgefühlen geschmiert wird, ist eine Möglichkeit, die sich schwerlich bestreiten lässt. Der afrikanische Kontinent würde davon nichts haben. Erziehung zum Opfer ist nun einmal keine Erfolgspädagogik. Zu denken geben sollte, dass bereits der Theorie die dichotomische Teilung der Welt in eine Zone des Bösen und in eine des Guten angelegt ist.
Für Franz Fanon, einen der Väter der Theorie, ist der weiße Mann für sich genommen ein Rassist, eine Rolle, aus der er sich nicht befreien kann. Dass hier einem umgekehrten Rassismus das Wort geredet wird, hat die Anhänger der Theorie, von denen womöglich die Mehrheit eine weiße Hautfarbe besitzt, nicht erreicht oder jedenfalls in ihrem Glauben nicht irre gemacht. Und Glauben muss man. Glaubensbereitschaft ist das unabdingbare Eintrittsbillett für jede Ideologie, für die des Postkolonialismus gilt das doppelt.
Denn Verstand, Logik und Evidenz stehen einer Zweiteilung der Welt gehörig im Wege. Was soll der Globale Süden sein? Wer gehört dazu? Was macht ihn aus? Einen unschärferen Begriff kann man sich kaum malen. Trotzdem hat er sich in den Diskurs eingeschlichen. Freihändig wird mit ihm hantiert, nicht nur in sektiererischen Zirkularen, sondern bis hinein in die Tagesschau. Klar ist, was mit dieser Art Moralgeographie fabriziert werden soll: Die klare Unterscheidbarkeit von Täter und Opfer, Schuld und Unschuld – eine Unterscheidung zum Hausgebrauch.
Verwirrend wird es, wenn Linke in Europa oder in den USA im Rousseau´schen Sinne vermeinen, südäquatorial sei das Gute und Edle beheimatet, das allenfalls Gefahr laufe, von westlicher Zivilisation verbildet zu werden. Oder wenn Linke im Westen für Frauenrechte streiten, für die Rechte von Homosexuellen und für die Abschaffung der Todesstrafe, ihr Forderungshorizont aber nur bis zur Grenze des Globalen Südens reicht. Wo bleibt der Aufschrei gegen die massenhafte Genitalverstümmelung von Frauen? In der islamischen Welt sind die Frauenrechte eingeschränkt, Homosexualität wird für eine Krankheit gehalten. In 22 islamischen Ländern ist sie verboten, in zehn wird sie mit der Todesstrafe bedroht. Allein im Iran sollen seit 1979 rund 4000 Todesurteile gegen Homosexuelle vollstreckt worden sein. Doch wer in Deutschland auf die Homophobie islamischer Staaten hinweist, riskiert, von den Lautsprechern der Postkolonialen als islamophob gegeißelt zu werden.
Und was ist mit dem Rassismus, der angeblich in Europa zum Alltag gehört? Deutschland ist unter Asylsuchenden, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen eine bevorzugte Adresse. Mit 300 bis 400 000 Menschen war der Einwanderungssaldo in den letzten Jahren stabil positiv. Die meisten Zuzüge stammen aus Afrika oder der arabischen Welt. Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, ein Viertel der Gesamtbevölkerung. In Europa ist es ein Zehntel. An der Südgrenze der USA drängen sich Menschen aus den lateinamerikanischen Ländern, Menschen, die viel auf sich genommen haben und die noch mehr dafür geben würden, ließe man sie hinein in das Land, in dem der Kapitalismus regiert und wo die herrschende weiße Schicht angeblich von der Erbsünde des Rassismus gezeichnet ist.
Viereinhalb Millionen Muslime leben in Deutschland, in Frankreich fünf Millionen, im kleinen Österreich 500 000. Weshalb zieht es all diese Leute in die Europäische Union statt nach Nordkorea, nach Russland oder nach Venezuela? Anfang der achtziger Jahre gab es in der Bundesrepublik einen witzigen Wahlspot, der Wähler davon abhalten sollte, für Franz Josef Strauß zu stimmen: „Nur die dümmsten Kälber/wählen ihren Schlächter selber“, hieß es auf den Plakaten. Was soll man dazu sagen, dass heute Millionen „dummer Kälber“ zu den Schlachthöfen des weißen Mannes streben?
Das Weltbild des Postkolonialismus ist ein Aberwitz und doch alles andere als harmlos. Die Stoßrichtung ist eindeutig anti-westlich, anti-europäisch. Sie ist anschlussfähig an die Europaverachtung Putins und an die Politik Chinas. Europa bekommt inzwischen Feuer von allen Seiten, darunter auch viel friendly fire, was bekanntlich am unheilvollsten ist. Es wird allerhöchste Zeit, an die Verteidigung zu denken.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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