Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Wer kennt sie nicht, die Szene am (sagen wir) sonntäglichen Mittagstisch? Die (bereits mehrere Generationen umfassende) Familie sitzt nach dem opulenten Mahl zum gemütlichen Plausch beisammen. Gerade ist der Senior dabei, temperamentvoll einen Schwank oder eine Begebenheit aus früheren Jahren zu Gehör zu bringen. Offensichtlich aber finden die beiden Youngster weder das Eine, noch das Andere sonderlich cool. „Komm“, sagt der Jüngere, „lass uns gehen. Opa erzählt wieder mal vom Krieg“. Zugegeben, die Zote ist nicht neu und deshalb auch nicht mehr sonderlich originell. Allerdings hat sie damit keineswegs an innerer Wahrheit verloren. Denn so langweilig und ermüdend es für große Teile der Nachgeborenen sein mag, sich mit Geschichten „vom Krieg“ (das können aber auch Berichte vom Wiederaufbau, von Hunger in den Nachkriegsjahren, von 50 D-Mark Wochenlohn usw. sein) zu beschäftigen, so wenig spannend ist es für die Masse der Deutschen offensichtlich, Vergleiche anzustellen zwischen dem politischen Führungspersonal von einst und jetzt sowie dessen Verantwortungsbewusstsein für diesen Staat und seine Gesellschaft insgesamt.

Natürlich ist die Behauptung Unsinn, früher sei alles besser gewesen. Damit hat – ausweislich einer sumerischen Tonscherbe – seit mindestens 5000 Jahren immer die jeweils ältere Generation über die nachgewachsene geurteilt. Nein, früher ist Vieles ganz einfach anders gewesen. Gerade deshalb, jedoch, bieten sich Vergleiche nicht nur an, sie sind vielmehr oft dringend notwendig. Und zwar relativ gleichgültig, welchen Bereich des privaten oder öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens man heranziehen mag. Zum Beispiel die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es ist ja gar keine Frage, dass die Winde deutlich eisiger und die Zeiten mit ihren Sitten rauer geworden sind. Nicht erst seit Wladimir Putins ruchlosem Überfall auf die Ukraine und dem damit verbundenen Bruch eines gesitteten und vertraglich vereinbarten Zusammenlebens der Staaten und Völker und auch nicht erst seit dem Massaker der Terror-Organisation Hamas an israelischen Bürgern am 7. Oktober vorigen Jahres müsste eigentlich jedem auch nur einigermaßen realistisch denkenden Bundesbürger unmissverständlich klar geworden sein, dass die rosigen Zeiten eines scheinbar automatisch wachsenden Wohlstands (wenn nicht für immer, so doch für eine lange Zeit) vorüber sind. Und dass es – um das Erreichte wenigstens einigermaßen zu sichern – Einschränkungen und sogar Verzichte auf manches Liebgewonnene nicht nur wahrscheinlich, sondern vermutlich unumgänglich sein werden.

Freilich deutet nicht Vieles darauf hin, dass derartige Einsichten bereits Einzug gehalten hätten in der Breite der deutschen Gesellschaft. Ja, ganz sicher sind die Teuerungen auf dem Lebensmittelsektor und die Energiekrisen nicht zuletzt Folgen einer viel zu lang betriebenen fahrlässigen, blauäugigen und die innere wie äußere Sicherheit nahezu total vernachlässigenden Politik. Und zwar keineswegs anzukreiden allein der gegenwärtigen Berliner Ampel-Bundesregierung. Völlig fahrlässig (und damit eigentlich auch nicht mehr zu entschuldigen) ist allerdings die von den politischen Eliten der gesamten Farbenpalette schon seit langem praktizierte Entfernung vom so genannten realen Leben. Also von den Sorgen und Ängsten der Bürger. Mögen diese mitunter vielleicht auch grundlos oder übertrieben sein, so sind sie doch vorhanden und haben Ursachen. Und diesen Sorgen und deren Ursachen hat sich die Politik anzunehmen, soll bei den Bürgern nicht das Vertrauen in den Staat und damit – letztlich – in das demokratische System verloren gehen.

Das ganz offensichtlich als drängendstes Problem empfundene Thema heißt fraglos „unkontrollierte Migration“. Mit all ihren Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen, das Sozial- und Bildungssystem, das Gesundheitswesen und noch so manches andere mehr. Und zwar seit langem schon. Doch wirklich dessen angenommen hat sich die Politik nicht, allenfalls gefiel sie sich im Streit über die scheinbar größere moralische Kompetenz. Ohne freilich Lösungsansätze zu bieten, die von den Bürgern zumindest als des Nachdenkens wert empfunden werden. Denn natürlich steckt Deutschland in einem Dilemma. Angesichts der zunehmenden Überalterung und der viel zu geringen Geburtenrate ist die Bundesrepublik dringend auf Fachkräfte von außen angewiesen. Gleichzeitig erscheint das Land keineswegs allein Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten als sicherer Hort, sondern lockt mit seinem Sozialsystem auch viele Menschen an, denen es im Wesentlichen auf die monatliche Überweisung vom Sozialamt und nicht auf Integration und berufliches Fortkommen ankommt.

Das weiß man natürlich auch in Berlin und in den Metropolen der Bundesländer. Bloß: Ansprechen tun es nur Wenige. Und das sind leider Gottes auch zumeist die, denen die Rechtsaußen-Ideologie aus allen Knopflöchern trieft. Aber sie haben Erfolg damit. Jede Umfrage weist das aus. Wo, indessen, sind die Demokraten? Wo sind – von mitte-links bis mitte-rechts – die starken, überzeugenden Persönlichkeiten? Am besten solche mit vorzeigbarer Lebensleistung, die sich dennoch in den Dienst der gemeinsamen Sache stellen?  Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären – beim Opa und den Geschichten vom Krieg. Nein, Opa hätte keineswegs nur von Stalingrad oder der Ardennen-Offensive zu erzählen. Sondern auch von den Männern und Frauen, die nach der Katastrophe 1945 angepackt hatten, die Folter und Erniedrigung erdulden mussten und nun den freiheitlichsten und liberalsten Staat aufbauten, den die deutsche Geschichte jemals vorweisen konnte und denen mit der Schaffung eines geeinten, grenzenlosen Europas das Beste gelang, mit dem sich dieser – Jahrhunderte lang von Kriegen und Leid geschundene – Kontinent jetzt schmücken darf.

Doch genau hier liegt das Problem. Wo sind in der heutigen Politik die Persönlichkeiten, die Vertrauen schüfen? Selbst, wenn ein sich Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl wie Phönix aus der Asche erhöbe– könnte er (oder sie) sich überhaupt noch auf die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten stützen angesichts einer Tendenz im Wählervolk, weniger auf politische Stabilität (also: weniger Regierungspartner) als auf die vermeintliche Vertretung seiner (respektive ihrer) Partikular-Interessen zu setzen. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass solch Trikolor-Regierungen wie die gegenwärtige Berliner Ampel zukünftig wohl eher zur Regel werden als die Ausnahme bilden. Schöne Aussichten.

Wer die Geschehen zunächst in Bonn und dann in Berlin schon ein wenig länger verfolgt, bei dem kann sicher mitunter ein bisschen Wehmut aufkommen bei der Erinnerung „an damals“. Zum Beispiel an die spannenden Ereignisse als nach dem Scheitern der christlich-liberalen Regierung Ludwig Erhard/Erich Mende 1966 die Sozialdemokraten in der so genannten Großen Koalition erstmals Regierungspartei wurden. Wie die SPD seinerzeit – gerade auch personell – vorbereitet war! Mit Leuten wie Willy Brandt, Helmut Schmidt, Fritz Erler, Prof.  Karl Schiller, Alex Möller, Georg Leber und, und, und. Drei Jahre später stellten die „Sozis“ mit Willy Brandt den Kanzler und formten die Ostpolitik… Und heute? Politik gestalten, heißt Führung. Demokratische Führung, wohlgemerkt. Nicht AfD und Diktatur! Aber wo sind die Antworten auf die vielen Fragen? Immerhin hat der bekanntlich nicht gerade als großer Kommunikator gerühmte Olaf Scholz gerade jüngst im Fernsehen auf die Moderator-Frage, ob er denn etwas von seinen großen Vorbildern Willy Brandt und Helmut Schmidt übernommen habe, klar und deutlich mit “Ja” geantwortet. Noch Fragen?

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

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