Echte Prüfung der politischen Reife
Von Gisbert Kuhn
Nachkriegsdeutschland hat in den 75 Jahren seines staatlichen Bestehens schon eine Reihe von Krisen erlebt und überstanden. In Sonderheit der ehemals westliche Teil des Landes namens Bundesrepublik. Seit der Wiedervereinigung sind mittlerweile 34 Jahre vergangen. Jahre, die eigentlich beglückt hätten verlaufen sollen und auch können. Doch schon nach einer vergleichsweise kurzen Zeit gemeinsamer Freude über das unvorhergesehene, besser: unvorhersehbare, wirklich historische Ereignis sind links und rechts der Elbe wieder Unmut, Missgunst, Neid und Zwietracht eingezogen. Keineswegs nur im (inzwischen mehr gar nicht so „neuen“) Osten, sondern, zumindest in der Tendenz, genauso im satten und saturierten Westen. Das Ganze zudem hier wie dort angereichert um eine zunehmende Politikverdrossenheit, um Fremdenfeindlichkeit und (dies am schlimmsten) um wachsenden, inzwischen sogar schon unverhohlen zur Schau gestellten Antisemitismus. Also: Judenfeindlichkeit.
Man muss nicht ausgewiesener Pessimist sein, um vorherzusagen, dass die gegenwärtige politische Krise die wohl schwerste und daher vermutlich auch am schwierigsten zu meisternde – in der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Klar, die rot-grün-gelbe „Ampel“-Koalition in Berlin ist geplatzt. Genauer: Sie hat sich selbst gegen die Wand gefahren. Das war, angesichts des jahrelangen und immer brutaler werdenden Dauerstreits der drei beteiligten Parteien, zu erwarten und konnte eigentlich nur politische Naivlinge wirklich überraschen. Scheiternde Regierungen sind an sich nichts alarmierendes, wenn die demokratischen Grundfesten einer Gesellschaft stabil sind. Dann ordnen sich die politischen Kräfte halt einfach neu und stellen sich den Bürgern zur Entscheidung.
Das war, zum Beispiel, Anfang der 80-er Jahre so. Ja, vor 41 Jahren. Damals noch in Bonn. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere daran. Auch seinerzeit war die Bundesregierung, in Gestalt eines rot-gelben, also sozial-liberalen Bündnisses am Ende. Zwar gelang es dem in der Bevölkerung hoch geschätzten, sozialdemokratischen, Bundeskanzler Helmut Schmidt unter kräftiger Mithilfe seines getreuen Knappen und späteren Freundes, des langjährigen Regierungssprechers Klaus Bölling, den bisherigen freidemokratischen Partner als „Verräter“ hinzustellen. Was, nebenbei bemerkt, bei der gleichzeitig erfolgenden Landtagswahl in Hessen die CDU den Sieg kostete. Doch in Wirklichkeit war Schmidt vor allem an den eigenen Parteigenossen gescheitert.
Und zwar in zweifacher Weise, die Vergleichbarkeiten mit der gegenwärtigen Situation weckt: Da war einmal die Außen- und (besonders) Sicherheitspolitik. Und da war, zum anderen, der sogenannte soziale Bereich. Ende der 70-er und zu Beginn der 80-er Jahre tobte in der Bundesrepublik eine erbitterte, nicht selten geradezu erbarmungslose Auseinandersetzung um die so genannte Nachrüstung. Im Klartext: Um die Stationierung amerikanischer, mit Atomsprengköpfen bestückter Kurz- und Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden. Dies, übrigens, ausdrücklich auf deutschem Wunsch! Helmut Schmidt selbst war schließlich der erste im Bündnis, der auf eine ernste, westliche Sicherheitslücke aufmerksam gemacht hatte, weil die damalige Sowjetunion über Jahre insgeheim entsprechende, auf die NATO-Staaten zielende Waffensysteme wie z. B. die SS-20 aufgestellt hatte. Damit war das bis dahin geltende, den Frieden praktisch garantierende, „Gleichgewicht des Schreckens“ zugunsten Moskaus und des Warschauer Pakts verschoben.
Entgegen der damals zögernden US-Administration unter Präsident Jimmy Carter brachte der deutsche Sozialdemokrat Schmidt die westlichen Bündnispartner dazu, dem so genannten Doppelbeschluss zuzustimmen, der da lautete: Entweder der Osten baut ab, oder der Westen rüstet nach. Doch im Westen grassierte die Angst vor einem atomaren Inferno. Besonders in der Bundesrepublik, wo der Spruch „Lieber rot als tot“ immer mehr Gehör fand – an den Unis, in den Kirchen, bei Friedensbewegten, bei politischen Parteien. Allen voran bei der größten Regierungspartei und deren Bundestagsfraktion, die SPD . Sprich: Des Kanzlers politische Genossenschaft. Allein schon diese Entwicklung brachte die sozialliberale Koalition in Existenznöte, weil die mitregierenden Freien Demokraten mit Partei- und Außenamtschef Hans-Dietrich Genscher an der Spitze absolut zum NATO-Beschluss standen.
Fallen da gewisse Parallelen zur aktuellen Situation auf? War damals die „Nachrüstung“ ein wesentlicher Bruchpunkt, so ist es heute die – wieder bei der SPD – zunehmend umstrittene Haltung zur deutschen Hilfe für die vom Putin überfallene Ukraine und der auch in dieser Frage tiefe Dissens mit der FDP (und auch mit den Grünen). Die zweite „Explosion“ erfolgte 1982 wegen der von Schmidt (infolge von Wirtschaftsflaute und staatlichen Finanznöten) als notwendig empfundenen Sozialpolitik. In einer Brandrede vor „seiner“ Bundestagsfraktion erklärte der Kanzler seinerzeit: „Es gibt in der gegenwärtigen Lage zwei Lösungsmöglichkeiten: Die eine – relativ tiefe Einschnitte in das ´soziale Netz` – kann ich mit Euch nicht machen. Die zweite – das Anwerfen der Geldnoten-Presse – könnt Ihr mit mir nicht machen“. Das hieß, im Klartext, „wir sind am Ende“.
Wie tief sich die Sozialdemokratie damals bereits von dem von ihr gestellten (und im öffentlichen Bewusstsein bis heute hoch geschätzten) Hanseaten Helmut Schmidt entfernt hatte, wurde aller Welt spätestens im Frühjahr 1983 auf dem so genannten Kölner „Raketen-Parteitag“ zum Nachrüstungsthema erkennbar, als sich gerade noch 14! der mehr als 200 Delegierten zu ihrem Hamburger Partei-„Freund“ bekannten. Und die zweite, mögliche, Parallele zu heute? Auch sie hat einen Begriff: „Scheidungspapier“. In vielen Kommentaren, unlängst in der Parlamentsdebatte und selbst in den Auslassungen von Bundeskanzler Olaf Scholz war es das umfangreiche Papier, das Finanzminister Christian Lindner (FDP) von seinem Haus zu der von ihm als nötig erachteten künftigen Finanz- und Steuerpolitik mit Schwerpunkt eines gewissen Abbaus staatlicher sozialer Leistungen hatte anfertigen lassen. Abseits von richtig oder falsch – das musste von der SPD als Provokation empfunden werden. Und das wurde es auch. Schließlich zählt der soziale Sektor historisch zum politischen Glaubensbekenntnis von Deutschlands ältester Partei.
Als „Scheidungspapier“ war allerdings auch (und zwar erstmals) jenes umfangreiche Konvolut bezeichne worden, das im Frühherbst 1982 der damalige freidemokratische Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff – auf ausdrücklichen Wunsch von Kanzler Schmidt – von seinem Staatssekretär Otto Schlecht hatte schreiben lassen. Und das aus Sicht der SPD ebenfalls ein gehöriges Maß an Koalitions-Sprengstoff enthielt. Jedenfalls, und damit dritte Parallele zu heute, entließ Schmidt (manche sagen: schmiss er raus) die seinerzeitigen FDP-Minister und kam damit deren freiwilligem Rücktritt zuvor. Exakt das tat vor wenigen Tagen auch Olaf Scholz. In beiden Fällen bedeutete es das Ende eines existierenden Parteienbündnisses. Wobei die Berliner „Ampel“-Koalition allerdings das mit Abstand kompliziertere war.
Nun also Neuwahlen am 23. Februar. Wie damals, vor 41 Jahren, nach einem kurzen Winter-Wahlkampf. Doch hier enden auch die Gemeinsamkeiten der beiden so ähnlich scheinenden Ereignisse. Denn 1982/83, als die FDP vorzeitig zur CDU/CSU überschwenkte, konnte sich die so neu entstandene christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl im Bundestag auf eine Mehrheit stützen. Zudem ging die Rechnung mit den von Kohl und Hans-Dietrich Genscher zuvor (entgegen den vehementen Widerständen von CSU-Chef Franz-Josef Strauß und SPD-Ex-Kanzler Helmut Schmidt) vereinbarten, vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages auf. Die beiden Politiker wollten durch dieses Wählervotum den außergewöhnlichen Regierungswechsel „demokratisch legitimieren“ lassen. Das war dann der Beginn von 16 Jahren gemeinsamer Regierungszeit.
Doch jetzt liegen die Dinge ganz anders. Der Berliner Bundestag besteht nicht mehr aus nur drei oder vier Parteien. Es sind neue hinzugekommen. Politische Kräfte, die überhaupt keinen Anlass zu Freude oder Optimismus geben. Die ursprünglich einmal von einer Handvoll Professoren als „EU-kritisch“ gegründete und inzwischen in die extreme rechts-nationalistische Ecke gewechselte „Alternative für Deutschland“ (AfD) und, erst seit etwa einem halben Jahr, die allein und ausschließlich auf ihre Person zugeschnittene schillernde „Bewegung Sarah Wagenknecht“, der Frau des früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Beide – AfD wie BSW – mit direktem Draht zu Putin in den Kreml. Die eine von äußerst rechts, die andere von ganz Linksaußen. Im Übrigen – was heißt „hinzugekommen“? Beide „neuen“ Kräfte haben gerade in jüngster Zeit einen unglaublichen Zulauf erhalten. Sie wurden also gewählt. Von den Bürgern dieses Landes. Und vieles spricht dafür, dass die Wahlen am 23. Februar eines neuen Bundestages diese schon bei den jüngsten Urnengängen zu den Landtagen in Bayern und Hessen (West) sowie in Thüringen, Sachsen und Brandenburg (Ost) manifesten Entwicklungen, wenigstens in der Tendenz, nicht verändern werden. Und dann?
Es schien etliche Jahrzehnte so als sei seit dem Ende der Hitler-Barbarei in Deutschlands Gesellschaft tatsächlich so etwas entstanden wie eine gefestigte, demokratisch gesinnte Mitte. Jedenfalls gefestigt genug, um „normale“ extreme Gebilde auf den äußersten Flügeln links und rechts, wie sie praktisch in allen offenen Gesellschaften der Welt auftreten, locker abzufedern. Das war offensichtlich ein Trugschluss. Und dieser Trugschluss ist sichtbar geworden im Zuge von – zugegeben – extremen, auf jeden Fall die Bürger bis hin zur Verängstigung bewegenden Ereignissen. Zu denen zählt (allen voran) die seit 2015 vor allem Deutschland betreffende und über die Jahre in die Millionen gehenden und noch immer weitgehend unkontrollierte Massenmigration. War die für die heimische Bevölkerung psychisch wie physisch schon schwierig genug zu verarbeiten, so kam erschwerend hinzu, dass die traditionellen, demokratischen Parteien die schwelende Zeitbombe lange Zeit ignorierten. Bewusst ignorierten. Das Ergebnis ist bekannt. Es bildete sich ein Vertrauens-Vakuum, wie geschaffen für jene Kräfte, die mit scheinbar einfachen Lösungen zu punkten wussten. Und dies weiterhin tun.
Wenn inzwischen bei Landtagswahlen jede dritte Person bei AfD oder BSW (also Wagenknecht) ihr Kreuzchen macht, dann kann man es drehen und wenden wie man will – dann ist die Demokratie, so wie sie sich über Jahrzehnte bewährt hat, in Gefahr. Dann kommt es wahrscheinlich auch im Westen demnächst bei Wahlen zu Ergebnissen wie neulich in den drei ostdeutschen Ländern. Denn die Tendenzen sind ja jetzt schon erkennbar. Nicht zuletzt wegen der Schwächen bei CDU/CSU, SPD, FDP und auch bei den Grünen verfängt der lange tot geglaubte Lockruf nach den „starken Männern“ ganz offensichtlich wieder. Es ist ja auch viel einfacher, sich den Arguments-Austauschen, der Kompromiss-Suche, dem mühsamen Abwägen von richtig und falsch, machbar und utopisch zu entziehen und stattdessen dem oder denen da oben zuzujubeln.
Hatte wirklich der legendäre gewaltfreie indische Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi recht, der dem Hoffnung gebenden Spruch, dass die Geschichte die Völker lehre, nur minimal verändert pessimistisch so begegnete: „Die Geschichte lehrt die Völker, dass diese aus der Geschichte nichts lernen wollen“? Die Bundestagswahl Ende Februar nach dem Scheitern der fragilen Berliner Regierung wird zeigen, wer Recht hat. Sie wird eine echte Prüfung der politischen Reife in Deutschland.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..
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