Auf ewig zweigeteilt?
von Günter Müchler

Wenigstens in dem Punkt dürften Wessis und Ossis einer Meinung sein: Der Zug „Deutschland, einig Vaterland“ kommt nur langsam voran. Oder rollt er sogar rückwärts? 35 Jahre nach der Wiedervereinigung scheinen die Gefühlswelten in Ost und West weiter auseinanderzulaufen. Der Osten klagt, ständig untergebuttert zu werden, und macht es sich im Kokon des Opfers bequem. Der Westen schreit „Undank!“ und fährt beleidigt sein Interesse an den deutschen Dingen zurück. Besonders ausgeprägt war dieses Interesse nie. Man möchte es kaum glauben: Nur jeder Fünfte Westdeutsche kennt den Osten aus eigener Anschauung. Der in den Grenzen der alten Bundesrepublik lebende Normalo war noch nie im Osten – was ihn nicht daran hindert, forsch über „die Ossis“ zu urteilen.
Sollte man überhaupt Worte wie Ostdeutschland und Westdeutschland in den Mund nehmen? Besorgte Beobachter raten davon ab. Sie wittern verbale Diskriminierung. Das ist natürlich Unsinn. Man bringt die Realität nicht aus der Welt, indem man wie Kinder die Augen zukneift. Ohne Vergleich keine Erkenntnis, und der Vergleich bedarf nun einmal der Begriffe. Wem es allerdings um mehr gut als darum, die eigenen Vorurteile zu bekräftigen, der darf nicht nur an der Oberfläche kratzen. Er sollte sich auch daran erinnern, wie alles begann.
Die Wiedervereinigung war ein Glücksfall. Aber auch das Glück braucht Helfer. Das Hauptverdienst am Sturz der DDR-Diktatur bleibt ewig bei den Bürgerrechtlern. Zu Unrecht sind sie nahezu vergessen. Es waren mutige Männer und Frauen. Unter hohem persönlichen Risiko widerstanden sie der perfiden, wenn auch schon kranken Staatsmacht. Ihnen zur Hilfe kam der Freiraum, den eine weltpolitischen Sternstunde bescherte. Sie nutzten ihn genauso wie es Helmut Kohl tat, letzterer mit großer Umsicht und Entschlossenheit. So kam etwas zustande, was man in den Geschichtsbüchern wie eine Stecknadel suchen muss – die friedliche Revolution. Es konnte zusammenwachsen, was zusammen gehörte.
Indessen gab es Gegenströme. Sie wurden von der Euphorie nach dem Mauerfall für eine Weile überspielt, nahmen dem Einigungsprozess jedoch von Anfang an den Schwung. Nicht alle wollten nämlich die Teilung überwinden. In der DDR war unter Honecker die Zweistaatlichkeit zur Doktrin geworden. Die Zeile „Deutschland, einig Vaterland“ stand zwar in der DDR-Nationalhymne, der sogenannten Becher-Hymne („Auferstanden aus Ruinen“). Ab Ende der sechziger Jahre durfte die Hymne aber nicht mehr offiziell gesungen werden – genau dieser Zeile wegen. Die DDR definierte sich jetzt als sozialistische Nation. Womit die Absage an die deutsche Nation Programm wurde. Sie bestimmte nicht nur Parolen und Parteitagsreden. Sie durchzog das Erziehungssystem wie ein roter Faden. Folgenlos blieb das nicht.
Auch in der Bundesrepublik hatte die Zweistaatlichkeit Anhänger, vor allem unter den Intellektuellen. Man gefiel sich darin, die DDR weich zu zeichnen. Günter Gaus, ehemals Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in Ostberlin, vertrat die Auffassung, die Bevölkerung „drüben“ habe mit dem SED-Staat ihren Frieden gemacht und genieße die Früchte einer idyllischen „Nischengesellschaft“. Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass erklärte die Teilung zur gerechten Strafe der Deutschen für Auschwitz, ohne zu erklären, weshalb nur die Deutschen im Osten die Strafe absitzen sollten. Im gut betuchten und auf seinen Freisinn stolzen „Toskana“-Teil der Linken wurde die Vorstellung gepflegt, die DDR müsse ungeachtet ihrer Unzulänglichkeit als systemisches Gegenbild unbedingt erhalten bleiben. Als die Utopie durch die vermaledeite Wiedervereinigung von der Bildfläche verschwand, war der Osten Deutschlands für Sinnen und Trachten dieser Intellektuellen mausetot.
Dennoch schritt die Einigung voran. Kohl versprach den Ostdeutschen etwas vollmundig „blühende Landschaften“. Wer heute mit offenen Augen durch jenen Teil Deutschlands reist, der lange unter dem Sammelnamen „die neuen Bundesländer“ figurierte, wird einräumen, dass dies kein leeres Versprechen war. Ohne Frage wurden viele Fehler gemacht. Für das gigantische Projekt Einheit existierte keine Blaupause. Außerdem standen die Handelnden unter enormem Zeitdruck. Ein Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wie ihn sich mancher Bürgerrechtler erträumte, war nie eine realistische Option.
Der Kardinalfehler des Westens war zu glauben, wenn die D-Mark „drüben“ und der Umbau der DDR-Wirtschaft gelungen sei, habe man die Partie gewonnen. In Wahrheit war die Baustelle viel größer. Zu spät wurde erkannt, dass es Probleme gibt, die nicht allein mit Geld oder Administration zu lösen sind, lebenswirkliche Probleme. Menschen legen, was sie in Soll und Haben gewesen ist, nicht einfach ab wie den Mantel in der Umkleide. Man war ja schon vor dem Stichtag auf der Welt, hat seine Erinnerungen und kann nur schwer akzeptieren, dass alles, was man erlebt hat, nichts wert gewesen sein soll. Kurz: In ein anderes System geworfen zu werden, schüttelt den Einzelnen genauso durch wie eine ganze Gesellschaft. Über ostdeutsche Narben und offene Wunden berichtet ein Buch, das soeben unter dem Titel „Transformationserfahrungen“ erschienen ist (Herausgeber: Jörg Ganzenmüller, Verlag Böhlau).
Erfreulich an dem Sammelband ist, dass die Autoren – allesamt Sozialwissenschaftler – auf steile Thesen und wohlfeile moralische Urteile verzichten. Sie beschreiben eine Wirklichkeit, die in kein Schema passt. Zitat: „Die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen waren heterogen und widersprüchlich. Ein Nebeneinander von Erfolgen und Scheitern, Gewinnen und Verlusten, Hoffnungen und Enttäuschungen, Eingewöhnung und Entfremdung“. Weitaus die meisten Ostdeutschen bejahten den Fall der Mauer und weinten dem real existierenden Sozialismus Marke Honecker keine Träne nach. Aber was ist ein historischer Glücksmoment wert, wenn ihm der Verlust des Arbeitsplatzes auf dem Fuße folgt? Zwei von drei Ostdeutschen arbeiteten schon vier Jahre nach der Wende nicht mehr in dem Beruf, den sie 1989 ausgeübt hatten. Im schlimmsten Fall führte der Weg in die Arbeitslosigkeit. Und selbst dort, wo die Umorientierung gelang, nahm das Selbstwertgefühl oft genug Schaden. Was von der kollektiven „Entwertung“ geht auf das Konto westdeutscher Fehler und Bedenkenlosigkeit? Was war unvermeidlich? So oder so, das Resultat ist bedrückend: Mehr als ein Drittel der Ostdeutschen fühlen sich 35 Jahre nach der Wiedervereinigung als Bürger zweiter Klasse.
Gründlich widmet sich das Buch einem Thema, das lange unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung lag: der Entvölkerung des Ostens. Die Westwanderung begann früh. Zwischen 1949 und 1989 suchten an die 2,5 Millionen Ostdeutsche Freiheit und Wohlstand im Westen. Man unterschätzt oft, was „die Abstimmung mit den Füßen“ in qualitativer Hinsicht bedeutete. Es gingen ja in erster Linie die Tatkräftigen, die sich das Abenteuer einer neuen Existenz zutrauten. Teil zwei des Exodus setzte nach der Wende ein. An die 1,8 Millionen kehrten der Heimat ihren Rücken, ein Zehntel der Bevölkerung.
Es packten vor allem Frauen die Koffer, was in das gängige Bild vom feministisch-emanzipatorischen Vorsprung der DDR-Gesellschaft so gar nicht hineinpasst. Auf jeden männlichen „Auswanderer“ kamen zwei weibliche. Die Konsequenzen waren und sind nicht nebensächlich. „Zurück blieben die Älteren und Männer: 2012 waren bei den Zwanzigjährigen ohne Abitur 300 Männer um 100 Frauen“, schreibt Nicole Hördler, die in dem Buch mit einer Studie aus Sachsen-Anhalt vertreten ist.
Der Westen ist Einwanderungsland, der Osten Auswanderungsland. Darüber nachzudenken lohnt sich, wenn man den Ursachen der Zerklüftungen und untergründigen Spannungen zwischen Ost und West auf die Spur kommen will. Nur hat das emotionsfreie Nachdenken keine Konjunktur. Lieber haut man auf den Quark! Gutes Beispiel dafür ist ein Buch des ostdeutschen Literaturwissenschaftlers Wolf Oschmann („Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung, Ullstein-Verlag), dessen hohe Verkaufszahlen nur die traurige Erfahrung bestätigen, dass viele Menschen die Beachtung von Differenziertheit und Komplexität für etwas Lästiges halten und eine Weltsicht in schwarz-weiß bevorzugen.
Oschmann möchte die DDR nicht wieder auferstehen lassen; er ist auch kein AfD-Anhänger. Das meiste von dem, was er dem Westen anklägerisch vorhält, hat Hand und Fuß. Es ist so: Die Führungsposten in Wirtschaft und Wissenschaft haben nur ausnahmsweise Menschen mit ostdeutscher Herkunft inne. Ähnliches gilt für die Medien. Auch neigt man im Westen dazu, ärgerliche Phänomene wie die AfD ostwärts abzuschieben. Dabei stammt das Führungspersonal der selbsternannten Alternative für Deutschland fast komplett aus dem Westen, und dass die „alten“ Bundesländer keineswegs immun sind gegen Denkweisen der Rechtspartei hat die letzte Bundestagswahl gezeigt.
Oschmann nimmt für sich nicht in Anspruch, die Verhältnisse in Deutschland abgewogen zu beschreiben. Er selbst bezeichnet seinen Text als „zorngesättigt“. So wimmelt es von Zuspitzungen und Einseitigkeiten, aber das sollte man dem Buch nicht ankreiden. Polemik ist eine einsässige Literaturgattung, sie verspricht Unterhaltung, vorausgesetzt eine gewandte Feder ist am Werk, und das trifft hier zweifellos zu.
Ärgerlich an Oschmann ist, dass ihm nichts Besseres einfällt, als Ressentiments mit Ressentiments zu kontern. Auf Seite 75 stellt er mit Bedauern fest: „Es gibt kein gesamtdeutsches Wissen und keinen gesamtdeutschen öffentlichen Raum“. Gegen diese Behauptung ist wenig einzuwenden, nur so viel: Indem Oschmann Verschwörungstheorien nährt und auf der Opferwelle reitet, trägt er selbst dazu bei, dass der Riss durch Deutschland noch breiter wird. Für Oschmann ist der Westen nämlich nicht nur der große Taugenichts. Er ist der große Übeltäter, der absichtsvoll und heimtückisch den Osten klein hält. „Cui bono“? Die Frage stellt der Literaturwissenschaftler nicht.
Den Menschen im Osten möchte man wünschen, dass sie dem Angebot, sich in die Opferrolle zu flüchten, nicht auf den Leim gehen und stattdessen selbstbewusst ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Den Westlern wäre zu raten, dass sie ihr sträfliches Desinteresse am Osten abstreifen. Hätten sie sich in den zurückliegenden 35 Jahren für den Zusammenhalt der Deutschen in Deutschland mit ähnlicher Verve eingesetzt wie für die Integration von Ausländern, wäre man schon ein Stück weiter.
Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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