Bonn hat sehr gut überlebt
Von Gisbert Kuhn
Wir sprechen von der Mitte der 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. In einer Ecke des Restaurants im damaligen Bundestag stand ein runder Tisch, an dem sich jeden Tag um die Mittagszeit eine Gruppe Journalisten im bereits etwas fortgeschrittenen Alter versammelte. Jeder von ihnen entweder Bürochef oder Studioleiter. Während der Sitzungswochen des Parlaments schlenderten, wie zufällig, immer Politiker daran vorbei – erkennbar in der Hoffnung, zum Platznehmen aufgefordert zu werden. Dieses Privileg des Gebetenwerdens wurde, freilich, nicht jedem Abgeordneten zuteil. Minister sollte er (eine politische „sie“ von Rang gab es noch nicht) schon sein, oder zumindest Staatssekretär, oder Parteivorsitzender bzw. Fraktionschef.

Das war damals, keine Frage, eine polit-journalistische Klassengesellschaft. Wie oft schlich man als junger Schreibeleve um dieses Dorado medialer Größen und murmelte: „Warum kommt keiner von diesen alten Säcken auf die Idee, dich dazu zu bitten?“ Auf diese Idee kam tatsächlich keiner der „alten Säcke“. Undenkbar allerdings auch, als Jungspund etwa mit dem Spruch forsch daherzukommen: Hi, ich bin Gisbert und seit Kurzem hier. Was dagegen, wenn ich mich mal kurz zu euch setze?“ Schnappatmung bei den „Oberkollegen“ wäre wohl das Mindeste gewesen.
Am Weg der Demokratie
Tempi passati, vergangene Zeiten. Beim Spaziergang dem Rhein entlang erfreut sich der Bonn-Besucher heute vielleicht nicht nur am Blick auf das romantische Siebengebirge mit Petersberg-Hotel und Drachenfels, sondern hält hier und da auch mal an einem Info-Schild inne, mit dem seit geraumer Zeit der so genannte „Weg der Demokratie“ ausgestattet ist. Man kann Führungen buchen, mitunter sogar mit Personen, die selbst ihren Anteil am Aufbau dieser Demokratie haben. Norbert Blüm ist so einer, der scheinbar ewige Arbeitsminister unter Helmut Kohl. Auch Rudolf Seiters, lange Kanzleramtschef und später wegen einer tödlich verlaufenen Festnahme zweier RAF-Terroristen im mecklenburgischen Bad Kleinen als Bundesinnenminister zurückgetreten.
Solche Begegnungen lassen dann Geschichte durch Geschichten lebendig werden. Das gilt natürlich auch für die eigene Erinnerung. Etwa am einstigen Haupteingang des Bundestagsgebäudes. Meine Güte, wie oft ist man hier hineingegangen. Zumeist, um auf die Pressetribüne zu gelangen, oft aber auch, um die Buchhandlung aufzusuchen und dort einen Plausch zu halten. Heute kann man ohne Sonderausweis hier nicht mehr passieren. Und schon gar nicht kommt – wie einst nicht selten – ein veritabler Bundesminister heraus, um sich jenseits der Straße am „Bundesbüdchen“ ein Würstchen zu kaufen. Dort, wo nach einer verlorenen Wette bei Thomas Gottschalk auch „Mr. Bericht aus Bonn“, Friedrich Nowottny, einen Tag lang Knacker servierte.

In den vergangenen 20 Jahren, seit dem Umzug nach Berlin, haben Gebäude und Umfeld ordentliche Veränderungen über sich ergehen lassen müssen, vor allem seit die Vereinten Nationen der einstigen Bundeshauptstadt einen völlig neuen, internationalen Nimbus verliehen haben. Denn tatsächlich ist die beschauliche Stadt am Rhein nach dem Wegzug der „Politik“ keineswegs in der Bedeutungslosigkeit versunken. Im Gegenteil, dank erfolgreicher diplomatischer Lobby-Arbeit der Bundesregierung und energischer kommunaler Anstrengungen haben sich im einstigen Bundesviertel mittlerweile 18 UN-Organisationen angesiedelt. Darunter das oft bespöttelte „Sekretariat des Abkommens zur Erhaltung der europäischen Fledermaus-Population“, aber auch das gerade aktuell hoch bedeutsame Sekretariat zur Klimapolitik sowie wichtige Sparten der „Universität der Vereinten Nationen“.
Hoch auf dem Langen Eugen
Das Klima-Sekretariat residiert im so gengenannten „Langen Eugen“. Der vom 1970 verstorbenen Stararchitekten und Designer Egon Eiermann entworfene Kubus war früher das eigentliche Arbeitszentrum der Abgeordneten und lange Zeit das höchste Gebäude Bonns. Von einem bestimmten Punkt im obersten Stockwerk aus hatte man den Eindruck, direkt über der Mitte des Rheins zu stehen. Der auch heute noch gebrauchte Name „Langer Eugen“ geht übrigens auf eine Verballhornung des eher klein gewachsenen früheren Bundestagspräsidenten Prof. Eugen Gerstenmaier (CDU) zurück, der den Bau seinerzeit gegen massive öffentliche und mediale Widerstände („Verrat an Berlin“) durchgeboxt hatte.

O ja, Gerstenmaier. Mit diesem Namen verbinden sich ganz frühe Erinnerungen des einstigen Korrespondenten-Neulings. Die Arbeitsräume der allermeisten Berichterstatter befanden sich bis Mitte 1976 in ziemlich primitiven Baracken gegenüber dem Eingang des Bundeshauses. Die Wände so dünn, dass man hören konnte, was der Kollege nebenan am nächsten Tag in seiner Zeitung veröffentlichte (es sei denn, die Fernschreiber ratterten zu laut). Diese Baracken gehörten dem Deutschen Bundestag; die Presse war dort also nur zur Miete und mithin von der Gunst des Parlamentspräsidenten abhängig. Gerstenmaier war ein hoch gebildeter und intelligenter Mann, aber auch extrem eitel und für Kritik gar nicht empfänglich. Ergebnis: Immer, wenn er etwas Unangenehmes über sich las, hagelte es in den Pressebaracken Kündigungen, und der Vorstand der Bundespressekonferenz hatte jedes Mal alle Hände voll zu tun, um den verärgerten Herrn wieder zu besänftigen.
Reporterglück
Auf dem Gelände der Baracken erhebt sich jetzt der graue (und hässliche) Monumentalbau des World Conference Center Bonn – abgekürzt WCCB – mitsamt einem Luxushotel und unterirdischer Verbindung zum ehemaligen Mittelpunkt des (west)deutschen Nachkriegsparlamentarismus. Vom Rheinufer her ist dagegen noch immer der Blick frei auf die Bundestagsterrasse, das Restaurant und dabei auch die Ecke, in der vor Jahrzehnten der eingangs beschriebene Pressetisch stand. Dort paarte sich am frühen Nachmittag des 20. Oktober 1971 historisches Geschehen mit simplem Journalistenglück. Ein Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion rannte gestikulierend durch das Restaurant. Zu verstehen war nur „Willy“ und „Nobelpreis“. Das zuständige Komitee in Stockholm hatte kurz zuvor seine Entscheidung verkündet, Willy Brandt wegen dessen Ostpolitik den Friedensnobelpreis zu verleihen. Im Restaurant hielt sich zu dem Zeitpunkt Hermann Höcherl auf, CSU-Mann und früher einmal Bundesinnenminister. Der kugelige Christsoziale rief aufgeregt: „Nobelpreis für Brandt. Das ist doch eine Ehre für Deutschland. Ich muss ihm gratulieren“. Wie gesagt, Journalistenglück – ich befand mich ebenfalls zufällig im Restaurant, konnte mich so als „Chauffeur“ andienen, wurde mithin Zeuge der Freudenparty auf dem Venusberg und hatte am nächsten Tag eine Bomben-Exklusivstory…

Ein paar Schritte weiter macht doch, eingekeilt zwischen zwei Betongiganten der jetzt geradezu putzig wirkende, etwa 150 Jahre alte Bau des „Alten Wasserwerks“ auf sich aufmerksam – von 1986 bis 1993 „Ausweichquartier“ des Bundestages, weil der eigentliche Plenarsaal restauriert wurde. Eine parteiübergreifende Gruppe von Abgeordneten um den schwäbischen SPD-Mann und Architekten Peter Conradi hatte den eigentlich geplanten Abriss des alten Industriegebäudes verhindert. Als am 20. Juni 1991 um 21.47 h Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth hier verkündete, das Parlament habe mit 337 gegen 320 Stimmen beschlossen, Berlin solle wieder Hauptstadt des inzwischen vereinten Deutschlands werden, schien für die Bonn-Votierer wie für die tausenden auf dem Marktplatz versammelten Bürger die Welt unterzugehen. Es war nicht nur die Existenzangst beim Handel und in der lokalen Immobilienwelt oder die Unlust gegenüber der demnächst erforderlichen Mobilität, sondern zuvorderst das Unbehagen vor dem Unbekannten, Neuen dort im Osten. B e r l i n – war von dort schon jemals etwas Gutes gekommen? Nein, schimpften selbst viele der längst zu Gesinnungsrheinländern gewordenen Geburtspreußen.
Lokalverbot für von Weizsäcker

Lange vorbei. Nur noch die älteren Jahrgänge erinnern sich heute an die erbitterten Kämpfe und Glaubenskriege jener Tagen um Mehrheiten für oder gegen Bonn. Beispielsweise in den Landesvertretungen von Berlin und Nordrhein-Westfalen und an die Drohung der „Berliner“ um den damaligen Regierenden Bürgermeister, Eberhard Diepgen, sie würden eine Niederlage nie akzeptieren. Und auch bloß noch Zeitzeugen erzählen schmunzelnd von dem Wirt im Kessenicher „Südpol“, der Richard v. Weizsäcker wegen dessen Pro-Berlin-Einstellung explizit Lokalverbot erteilte, obwohl der mit Sicherheit noch nie von der Kneipe gehört hatte. Dagegen hält sich unvermindert die Mär, es sei – quasi allein – Wolfgang Schäuble mit seiner, in der Tat mitreißenden, Pro-Berlin-Rede für den Ausgang verantwortlich gewesen. Tatsächlich war es Helmut Kohls langjähriger Weggefährte (aber später erbitterter Feind), Heiner Geissler, der den entscheidenden Kompromiss namens Berlin/Bonn-Gesetz zimmerte: 6 Ministerien behalten ihren ersten Dienstsitz in Bonn, hinzu kommen „per Gesetz“ Post, Postbank und Telekom plus Einrichtungen der Vereinten Nationen, die sich in den früheren Parlamentsgebäuden und rund um den einstigen Bundestag ansiedeln.
Nein, Bonn ist nicht untergegangen. Allerdings floss auch rund 1 Milliarde Euro in den Strukturwandel. Um das Jahr 1990 bot das Regierungsviertel (laut Stadtverwaltung) knapp 21 000 Arbeitsplätze. Mehr als 45 000 sind es heute. Mit „zukunftsträchtigen“ Arbeitgebern wie Post und Telekom, dem Forschungszentrum Caesar, der Deutschen Welle oder dem Kommando Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr. Das glas/stählerne Ausrufungszeichen dafür ist der 165,5 Meter hohe Post-Tower. Dort befand sich zuvor das alte Bonner Stadion, wo in der Fußballmannschaft des Bundestages zeitweise der CSU-Mann Theo Waigel an der Seite seines SPD-Kollegen Peter Struck u. a. gegen das Team der Datschiburger Kickers“ aus Augsburg stürmte. Aber es entstanden auch neue kulturelle Anziehungspunkte wie die „Museumsmeile“ einschließlich Haus der Geschichte, Kunstmuseum, Kunst- und Ausstellungshalle sowie – nur wenige Kilometer südlich im rheinland-pfälzischen Rolandswerth – das mit dem dortigen, klassizistischen „Kaiserbahnhof“ verbundene futuristische Arp-Museum.
Stadt ist jünger geworden

Bonn hat den Abzug der großen Politik sehr gut überlebt. Und es ist erkennbar „jünger“ geworden durch den Zuzug tausender Neubürger, die bereits der Digital-Generation entstammen und bei den Hightech-Unternehmen um Post und Telekom gutes Geld verdienen. Aber klar, die Bonner werden gewiss wieder jammern, wenn irgendwann in vielleicht gar nicht mal gar so ferner Zukunft der regierungspolitische Totalumzug an die Spree erfolgen sollte. Denn das Berlin/Bonn-Gesetz wird nicht ewig halten. Noch ließe sich mit ihm als Trumpf feilschen um einen Anschluss-Vertrag über die Ansiedlung weiterer Bundesbehörden im Austausch gegen die jetzt noch vorhandenen Ministerien. Dazu allerdings müssten die gegenwärtige Verwaltung und der Rat an Geschick und Entschlossenheit deutlich zulegen.
Kommentare und Zuschriften an gisbert.kuhn@rantlos.de
Titelfoto: Die Hauptverwaltung der Deutsche Post AG und der Lange Eugen (re), UN-Campus
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