Am Fall Epstein zeigt sich: Mit jedem Nachrichtenzyklus wird das System der Falschinformationen effizienter.

Das Internet steckt ohnehin voller Verschwörungstheorien und Hyperparteilichkeit. Doch am vergangenen Samstag wurde ein neues Kapitel in unserer postfaktischen, Schaff-dir-deine-eigene-Realität-Krisengeschichte aufgeschlagen.

Jeffrey Epstein

Es begann am Samstagmorgen. Da verbreitete sich die Nachricht, dass sich der in Ungnade gefallene Finanzmanager Jeffrey Epstein offenbar in einem Gefängnis in Manhattan erhängt hatte. Epstein starb nur einen Tag, nachdem Gerichtsdokumente einer seiner Anklägerinnen entsiegelt worden waren, was bei Journalisten, Politikern und in den üblichen Randzonen des Internets sofort für Misstrauen sorgte.

Innerhalb weniger Minuten ließen Vertraute von Trump, Moderatoren von Fox Business und Twitter-Meinungsmacher eine jahrzehntealte Verschwörungstheorie wieder aufleben, wonach die Familie Clinton angeblich mit merkwürdigen Todesfällen in Verbindung steht. #ClintonBodyCount und #ClintonCrimeFamily wurden auf Twitter zu Trendthemen. Etwa zur gleichen Zeit tauchte ein gegensätzlicher Hashtag auf – #TrumpBodyCount –, bei dem es um die jahrzehntelangen Beziehungen von Präsident Donald Trump zu Jeffrey Epstein ging. Mit jedem dieser Hashtags wurden GIFs und Memes verbreitet, auf denen Epstein entweder mit den Clintons oder mit Trump zu sehen ist – als virale Schuldzuweisungen sozusagen.

Im Zentrum des Online-Fiaskos steht Twitter. Die Plattform gibt für die politische Debatte und einen Großteil der Presse weitgehend den Takt vor.

Die rivalisierenden Hashtags und die damit einhergehende toxische Diskussion sind ein düsterer Beleg für unser hochgradig vergiftetes Informations-Ökosystem – ein System, das auf Geschwindigkeit ausgelegt ist und das die aufwieglerischsten Impulse seiner schlimmsten Akteure belohnt. Es hat zu einer parallelen Realität geführt, die nicht auf Tatsachen basiert, und es hat dazu beigetragen, dass verschwörungstheoretisches Denken im kulturellen Mainstream Einzug gehalten hat. Dieses System wird mit jedem Nachrichtenzyklus effizienter und es führt dazu, dass sich die gegnerischen Lager immer weiter verschanzen. Das Gift breitet sich aus.

In vielerlei Hinsicht ist Epsteins mutmaßlicher Selbstmord das Post-Wahrheit-Alptraum-Szenario. Diese schmutzige Geschichte enthält fast alle Merkmale, die einer stereotypen Verschwörungstheorie Nahrung geben: sexueller Missbrauch von Kindern, mächtige globale politische Anführer, undurchsichtige Flüge mit Privatjets, Milliardäre, deren Reichtum unerklärlich ist. Dieses korrupte Märchen ist so sehr mit unserer gegenwärtigen kulturellen und politischen Verkommenheit verflochten, dass es manchmal fast zu platt zu sein scheint. Die Epstein-Saga liefert Munition für jeden; ein Wissenschaftler bezeichnete die Samstagabendnachrichten als „Desinformations-Weltmeisterschaft“.

Im Zentrum des Online-Fiaskos steht Twitter. Die Plattform gibt für die politische Debatte und einen Großteil der Presse weitgehend den Takt vor. Wenn wichtige Eilmeldungen hereinkommen, wirkt Twitter wie ein Magnet. Dann strömen Nachrichtenjunkies dorthin, um innerhalb von Sekunden aktuelle Informationen zu erhalten. Aber schon zu Beginn besteht oft eine große Diskrepanz zwischen der auf Twitter gerichteten Aufmerksamkeit und den Informationen, die über die sich entwickelnde Geschichte verfügbar sind. Diese Lücke wird mittels Spekulationen und – von den furchtbarsten Nutzern – durch Gerüchte und Verschwörungstheorien geschlossen.

Am Samstag griffen Twitters Trending-Algorithmen den schlimmsten Müll auf, sie kuratierten und rankten ihn und platzierten ihn dann im Trending-Feld auf der rechten Seite der Website. Obgleich es sich um eine höchst willkürliche und eigentlich überwiegend nutzlose Funktion handelt, werden Trends auf Twitter oft als grobes Signal für die Relevanz eines bestimmten Themas interpretiert.

Kurz nachdem #ClintonBodyCount als Trend zu laufen begann, wurden Journalisten darauf aufmerksam und fingen an, über die Verbreitung dieser Verschwörungstheorie zu lamentieren. Dies führte dazu, dass sie zu einer Nachricht wurde.

Es ist gut möglich, dass Präsident Donald Trump Twitters Trendfunktion verwendete, als er einen verschwörungstheoretischen Tweet retweetete, der die Clintons mit Epsteins Tod in Verbindung bringt. Zu diesem Zeitpunkt lag das Trendthema „Clintons“ in den Vereinigten Staaten an dritter Stelle. Der Tweet, den der Präsident unter seinen mehr als 60 Millionen Anhängern verbreitete, war unter dem Trend „Clintons“ prominent vertreten. Und wie Ashley Feinberg von Slate im Juni hervorhob, hat der Präsident über die Trendfunktion anscheinend schon häufiger Tweets gefunden und mit ihnen interagiert.

Am Samstagnachmittag wies die Autorin Renée DiResta, die sich mit computergestützter Propaganda beschäftigt, darauf hin, dass die enge Verbindung der Medien mit Twitter einen Anreiz für Propagandisten und Aktivisten schafft, bestimmte Hashtags künstlich aufzublasen. Kurz nachdem #ClintonBodyCount am Samstag als Trend zu laufen begann, wurden Journalisten darauf aufmerksam und fingen an, über die Verbreitung dieser Verschwörungstheorie zu lamentieren. Dies führte dazu, dass sie zu einer Nachricht wurde, was diesen Trend zusätzlich verstärkte. „Jeder noch so abwegige Tweet … kann zu einer Meinungsäußerung erhoben werden, die als beachtenswert gilt“, schrieb DiResta. „Wenn Sie etwas zum Trend machen, machen Sie es wahr.“

Dass unser öffentlicher Diskurs auf Tech-Plattformen verlagert worden ist, die von intransparenten Algorithmen gesteuert werden, gibt den Verschwörungstheoretikern noch mehr Nahrung. Anti-Trump-Twitter-Protagonisten mit Hunderttausenden von Anhängern machten „russische Bots“ für das Trendthema „Clintons“ verantwortlich. Am rechten Rand suggerierten Pro-Trump-Seiten wie Gateway Pundit (die seit langer Zeit erfolgreich Verschwörungstheorien verbreitet), dass Twitter die Clinton-Hashtags unterdrückt und zensiert.

Was bedeutet das für uns? Nichts Gutes.

Es wird immer offensichtlicher, dass unsere Informationssysteme nicht für die Gegenwart geschaffen sind, insbesondere wo Korruption und Verschwörungstheorien im Fokus der größten nationalen Nachrichtengeschichten stehen (Epstein, der Mueller-Bericht, Massenschießereien), während die Online-Plattformen als Petrischalen fungieren, in denen obskure und sogar gefährliche Verschwörungstheorien gedeihen. Das Zusammentreffen dieser beiden Phänomene ist so beunruhigend, dass eine Außenstelle des FBI randständige Verschwörungstheorien kürzlich als eine inländische Terrorbedrohung einstufte. In diesem Ökosystem wird den Medien regelmäßig der Rang abgelaufen. Und sie sind trotz bester Absichten oft die Verstärker haltloser Behauptungen, auch wenn sie sich sehr bemühen, diese zu entkräften.

Die am Samstag im Internet verbreitete Giftmischung mag sich neu angefühlt haben, sie passt jedoch zu einem wohlbekannten Kreislauf: Was nicht einfach zu erklären ist, wird mit bequemen Unwahrheiten beantwortet. Die schlimmsten Stimmen werden dafür belohnt, dass sie immer lauter werden, und sie bekommen einen übergroßen Einfluss darauf, wie sich Narrative entwickeln. Mit jedem Zyklus wachsen Empörung und Verachtung für das andere Lager. Jede Seite wird sich zunehmend sicher, dass der Feind die öffentliche Wahrnehmung manipuliert hat. Jede Seite ist ein Opfer, aber jede Seite gewinnt auf unerklärliche Weise auch. Das Gift breitet sich aus.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

Charlie Warzel schreibt seit 2019 für das Meinungsressort der New York Times. Zuvor war er Autor bei BuzzFeed News und Producer bei NBC News.

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