Von Günter Müchler

Günter Müchler

An Warnzeichen fehlt es wahrhaftig nicht. Der sprichwörtliche rechte Rand hört auf, ein Rand zu sein. Unübersehbar wuchert er Richtung gesellschaftliches und politisches Zentrum. Diese Mitte schrumpft wie das Eis im Klimawandel. Vor zwei Jahren brachten es die drei Ampelparteien noch auf rund 52 Prozent. Heute kommen sie gerade mal auf 40, aber nur bei gutem Wetter. Es wächst allein die AfD. Bundesweit liegt die Rechtsaußenpartei inzwischen hinter der CDU/CSU auf Platz zwei. Mit Sorge blicken die Auguren auf die anstehenden Prüfungen.

Ein Glück, dass die nächsten Ernstfälle in Hessen und in Bayern stattfinden und in Thüringen erst im kommenden Jahr Wahlen sind. Mit dem Anschwellen der AfD korrespondieren die Resultate der jüngsten „Mitte-Studie“. Die als seriös einzustufende Untersuchung im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung bescheinigt jedem zwölften Erwachsenen in Deutschland stabile rechtsradikale Einstellungen. Bei einer ähnlichen Untersuchung vor zwei Jahren ist es noch ungefähr jeder vierzigste gewesen. Man muss kein Zahlen-Fetischist sein, um die Botschaft zu lesen. Die Neigung, Antworten auf die Unverträglichkeiten der Zeit im rechten Setzkasten zu suchen, nimmt zu; die Bereitschaft der Bürger, sich offen als rechts zu bekennen, auch.

Über die Ursachen, die diese Entwicklung erklären und weiter vorantreiben, wird kontrovers diskutiert. Da ist der schwache Staat, der zulässt, dass tagaus tagein eine Handvoll arroganter Klimakleber eine Vielzahl steuerzahlender Bürger in Fesseln schlägt, und Horden von Eriträern erlaubt, mit Ansage (!) Polizisten krankenhausreif zu schlagen. Da ist der Vertrauensverlust in Institutionen wie Parteien, Kirchen und Medien. Da ist das Erschrecken über die hinscheidende Fähigkeit der Verantwortlichen, für befahrbare Autobahnen, pünktliche Züge, bezahlbare Wohnungen und ausreichende Lehrer zu sorgen. Da ist der Unmut über den „gendersensiblen“ Sprachvandalismus von Behörden und Rundfunksendern. Die Mehrheit im Lande – man muss sie nicht anhimmeln – fühlt sich mehr und mehr unverstanden und missachtet. Sie wendet sich ab, geht in die innere Immigration. Was Wunder, wenn die Demokratie in Atemnot gerät!

Das Absinken der Hemmschwelle, rechtsextreme Positionen zu vertreten, hat ziemlich sicher auch damit zu tun, dass im linken kulturdominanten Milieu die Angewohnheit herrscht, nahezu alles, was nicht passt, reflexartig als faschistoid oder nazistisch anzuprangern. Inflationärer Gebrauch entleert Begriffe und verwirrt die Orientierung. Sigmar Gabriel, einer der zahlreichen Parteivorsitzenden, mit denen es die SPD nach Gerhard Schröder versucht hat, schrieb hierzu neulich: „Ein erheblicher Teil der Wählerschaft der AfD besteht nicht aus eingefleischten Rechtsradikalen, sondern aus Bürgern, die zuvor für die SPD, die Unionsparteien, die FDP, die Grünen oder die Linkspartei gestimmt haben und deren Enttäuschung und Frustration über ‚die da oben‘ nach einem Ventil sucht“.

Die Frustration hat viele Namen. In Großbuchstaben zu schreiben, wäre Migration. Es lässt sich nicht bestreiten: Seit Angela Merkel 2015 die Tore öffnete, geht es mit der AfD aufwärts. Unkontrollierte Masseneinwanderung – ob gefühlt oder wirklich – ist die Haupttriebkraft der rechten Wucherung. 87 Prozent der AfD-Anhänger sagten in einer kürzlichen Allensbach-Befragung, sie seien besorgt, dass immer mehr Ausländer nach Deutschland kämen. In der Gesamtbevölkerung wurde diese Sorge immerhin von 56 Prozent geteilt. „Angesichts der Deutlichkeit dieses Ergebnisses“, fasste das Institut zusammen, „kann man als sicher annehmen, dass in der Einwanderungspolitik und im hiermit verbundenen Thema der inneren Sicherheit ein Schlüssel zum Verständnis des Aufstiegs der AfD liegt“.

Die Parteien des demokratischen Zentrums glaubten eine Zeitlang, sich dieser Einsicht verschließen zu können. Nach 2015 sanken die Einwanderungszahlen für eine Weile und man kam überein, den Topos lieber zu beschweigen. Weshalb der AfD Wind in die Segel blasen, hieß ein oft gehörtes Argument. Über solche Klüngeleien und das Schönreden ist die Zeit hinweggegangen. Die Zahlen steigen wieder. Städte und Gemeinden senden Notrufe im Chor. Wir können nicht mehr, sagen die, die vor Ort sind und sich den Luxus einer kontemplativen Problembetrachtung nicht erlauben können. Es fehlt an Wohnraum für Flüchtlinge, es fehlt an Betreuung, das heißt an Allem, was erfolgreiche Eingliederung voraussetzt. Und die Zustimmung der Bevölkerung droht zu kollabieren.

In den Parteien des Zentrums rumort es. In der Union hat CDU-Parteichef Friedrich Merz vor einem Vierteljahr den Paradigmenwechsel eingeleitet. Das Thema Migration soll nicht mehr der AfD überlassen werden. Die CSU ruft nach einer Obergrenze für den Zuzug. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, spricht etwas weicher von einer „Belastungsgrenze“, die es zu beachten gebe. Bodo Ramelow, Ministerpräsidenten von Thüringen und Linkspolitiker, wirft das Handtuch. Sein Land sei bei der Aufnahme von Flüchtlingen „am Limit“.

Da gerät offenbar etwas in Bewegung. Die starren Fronten scheinen sich zu lockern. Bisher galt das Ritual: Die einen machen einen Vorschlag, nicht immer einen vernünftigen, die anderen lehnen ab, auch wenn er vernünftig ist. Besonders die Grünen, feste Burg der Status-quo-Verteidigung, taten bisher alles, damit der kritische prüfende Verstand der Aufklärung der Monstranz Migration nur nicht zu nahe komme. Grenzkontrollen: nein, Ausweitung sicherer Drittstaaten: nein, Erleichterung der Abschiebung: nein. Zu haben waren die Grünen bisher nur für mehr Ausländerbeiräte, mehr Rassismus-Beauftragte und verbilligte Einbürgerung.

Vielleicht ändert sich das ja jetzt. Vielleicht erkennt man endlich, dass Ursachen Wirkungen haben und man den Anbietern rechter Billiglösungen nur dann in die Parade fahren kann, wenn Risiken und Nebenwirkungen von Migration unverstellt ausgesprochen werden. Dabei soll nicht unterschlagen werden, wie kompliziert die Materie ist. Kriege, Hungersnöte und Naturkatastrophen sorgen dafür, dass der Wanderungsdruck todsicher noch zunehmen wird. Den Einlass so zu regulieren, dass eine kritische Masse nicht erreicht und zugleich der Schutz wirklich Verfolgter gewährleistet bleibt, ist sowohl praktisch wie juristisch ein Hochseilakt. Er kann nur gestemmt werden durch die Methode Versuch und Irrtum Dazu fehlt bislang vor allem im linken Lager die Bereitschaft. Lieber steckte man den Kopf in den Sand, als etwas auszuprobieren, das geeignet sein könnte, die irreguläre Einwanderung einzudämmen.

Die Vogel-Strauß-Politik hat schon jetzt das Vertrauen in die Durchsetzungskraft des Staates unterminiert und zugleich die Arsenale der extremen Rechten aufmunitioniert. Für die Zukunft kann einem nur schwarz vor den Augen werden. Es muss ja nicht nur dem Druck von außen standgehalten werden. Es wächst auch der Druck von innen. Demographische Unzulänglichkeit sorgt bei steigender Arbeits-Unlust der Deutschen dafür, dass der Bedarf an ausländischen Fachkräften in die Höhe schießt. Wir erinnern uns einer noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeit, als eine bestimmte Soziologen-Schule mit dem Satz: „Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus“, für die 35-Stunden-Woche Stimmung machte. Heute müsste man richtiger sagen: die Freizeitgesellschaft schafft sich selbst ab. Nach Schätzungen ist ein positiver Saldo kontrollierter Einwanderung von bis zu 400 000 Menschen erforderlich, damit in Deutschland die Wirtschaft floriert, der Handwerker kommt und der Kranke gepflegt werden kann.

Wie soll das funktionieren, wenn wir doch schon jetzt „am Limit“ sind? Die Hilflosigkeit, die die Verantwortlichen ausstrahlen, macht wenig Mut. Dabei würde es fürs erste schon genügen, ließe man von ideologischer Überheblichkeit ab. Probleme ansprechen, ist nicht rechts. Probleme ignorieren, ist nicht humanistisch.

   Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

 

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