Deutschland, ein Möchtegern-Land

Von Gisbert Kuhn

Deutschland ist blamabel schon in der Vorrunde der Fußball-Weltmeisterschaft ausgeschieden. Nach 2018 in Russland und der EM im vorigen Jahr bereits das dritte Mal bei einem Großereignis. Ergebnis daheim: Schockstarre. Wir? Wir doch nicht! Wer war schuld? Es wäre an der Zeit, sich einzugestehen, dass auch die Gesellschaft so ist.

Man mag es zotig bespötteln „Sie zogen aus mit bunten Wimpeln…“ oder martialisch beklagen „Mit Mann und Ross und Wagen…“ – es beißt keine Maus auch nur einen Faden von der Tatsache ab, dass das Vorzeigeteam der Fußballnation Deutschland beim Weltturnier der Kicker in Katar ausgeschieden ist. Ausgerechnet im Fußball! In Katar! Hatten nicht Jogi Löw und seine Jungs (und damit natürlich auch „Wir“) noch 2014 in Brasilien den staunenden Völkern rund um den Erdball gezeigt, wer – fraglos verdientermaßen – Herr auf dem grünen Rasen ist?

Katzenjammer? Nichts dergleichen

Eigentlich, sollte man meinen – wäre doch nach dieser Klatsche im reichen Wüsten-Emirat Katzenjammer angesagt im Lande zwischen Rhein und Oder sowie zwischen Flensburg und Konstanz. Doch nichts dergleichen. Es ist ganz seltsam, denn eigentlich ist gar nichts zu verspüren auf den Straßen und Plätzen und Weihnachtsmärkten. Allenfalls im Fernsehen, wo sich Reporter und so genannte Experten unverdrossen weiterhin damit abmühen, die verbliebenen „Spiele der Anderen“ mit Begeisterung überzubringen und mit Herzblut zu analysieren, ist hie und da ein Wort des Bedauerns über „unser Abschneiden“ zu vernehmen. Ja gut, mitunter auch etwas Kritik hinsichtlich dessen, was da alles im Vorfeld und danach schiefgelaufen ist.

„Moralweltmeister“ Deutschland

Natürlich, und das kann nach solch einem Debakel ja kaum ausbleiben, hat jetzt trotzdem die Jagdsaison begonnen. Die Jagd nach dem oder den Schuldigen. Müsste Hansi Flick nicht seinen Hut nehmen? Schließlich hat er es in den anderthalb Jahren als Bundestrainer doch nicht geschafft, eine kernig-stabile Hintermannschaft zusammenzustellen. Und – was waren das denn für Auswechslungen im ersten Spiel gegen Japan?! Einer, immerhin, hat für sich schon die Konsequenzen gezogen: Oliver  Bierhoff. Der Siegschütze des deutschen EM-Tors von Wembley 1996 gegen die damals noch zusammengehörende Tschechoslowakei und mittlerweile seit 18 Jahren als Manager des DFB einer der Verbands-Granden, hat mit sofortiger Wirkung seinen noch bis 2024 geltenden Vertrag gelöst. Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet: Musste dieses ganze Hickhack um die „Regenbogenfahne“ und die danach ideologisch etwas „abgerüstete“ One-Love-Kapitänsbinde sowie das (demonstrativ gestellte) Foto der Nationalkicker mit den Händen vor dem Mund wirklich sein?

Man mag es als ungerecht empfinden oder auch als verdient – Tatsache ist auf jeden Fall, dass Deutschland und seine Balltreter gegenwärtig ein beliebtes Ziel nicht nur für Karikaturisten abgeben. Und keineswegs allein im Wüstenemirat Katar. Kernpunkt von Satire und Schadenfreude: Erst blasen sie moralisch und entrüstet ihre Backen auf – und dann kommt nicht einmal heiße Luft. Ist das tatsächlich falsch oder – zumindest – nur hämisch?  Dazu scheint eine kleine Anmerkung unumgänglich, um alle gewollten oder ungewollten Missverständnisse zu vermeiden. Obwohl sie an sich überflüssig sein sollte. Selbstverständlich sind vor Gott, dem Gesetz und (hoffentlich) wenigstens den meisten einigermaßen zivilisierten Mitbürgern alle Menschen gleich. In ihrem Wert und in ihrer Würde. Und zwar unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Glauben, politischer Anschauung oder sexueller Ausrichtung. Entscheidend sind andere Dinge. Allen voran – Charakter, Hilfsbereitschaft, Solidarität. Kurz: Sich, seinem Nachbarn, dem Land, der Erde hilfreich und nützlich zu sein.

Beliebte Rolle: Möchtegern-Vorbild

Nach dieser (erneut hoffentlich) eindeutigen Klarstellung stellt sich allerdings schon die Frage nach der Sinnhaftigkeit, ein Fußball-Turnier mit dem – in der Welt fraglos vorhandenen -Gleichstellungs-Problem zu verbinden. Und zudem auch noch den Sportlern wenigstens eine Teilverantwortung dafür aufzubürden, dass die moralpolitische Botschaft tatsächlich auch überall und von Jedermann verstanden wird. So berechtigt es ist, dass (welche auch immer) – Minderheiten auf ihre Probleme aufmerksam machen – das reiche Golf-Emirat war schon vor zwölf Jahren damit beauftragt worden, eine Fußball-WM zu organisieren. Wer will, kann auch sagen: Es hat sie gekauft. Eine Fußball-WM, kein erdumspannendes LGTBQ-Championat zugunsten der queeren Community. Und an sich waren der DFB und die fürstlich dotierte Mannschaft ja wohl auch in den Wüstenstaat gekommen, um dort in heruntergekühlten Stadien auf dem grünen Rasen balltechnisch zu brillieren.

Ein Weiteres: Dass in Katar arbeitsrechtlich, strafrechtlich, basisdemokratisch, auf dem Gebiet der Gleichberechtigung, der Geschlechtergleichheit und Freiheit im weitesten Sinne die Verhältnisse nicht jenen im liberalen Westen entsprechen, war nun wirklich keine Erkenntnis der vergangenen Monate. Doch der Hype entstand mit einem Male vor Kurzem. Angefacht und befeuert nicht zuletzt von den Massenmedien. Also ausgerechnet von jenen, die auf der anderen Seite (auf Deutschland bezogen) rund 265 Millionen und damit mehr als eine Viertelmilliarde Euro bezahlten, um die inkriminierten Spiele übertragen zu dürfen. Von den Bettelbesuchen von Politikern, um in dem schlimmen Land Gas kaufen zu dürfen, gar nicht zu reden. Es passt einfach alles nicht zusammen.

Die Sünde wurde 2010 begangen

Noch einmal: Die Spiele wurden vor zwölf Jahren vergeben. Mit der Stimme des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Die Umstände und Vorgänge in und um die FIFA waren schon seinerzeit bekannt. Danach zweimal Olympia (2008 und 2021) an China. Dazwischen (2014) Winterspiele in Sotschi und (2018) Fußball-Europameisterschaft an Russland. Also jedesmal an Länder mit politischen Regimen, die sich nicht gerade als Miterfinder von politischen und humanen Rechten nach unseren Vorstellungen einen Namen gemacht hätten. Es soll nun, erstaunlicherweise, Menschen geben, die ein solches Verhalten als Doppelmoral brandmarken. Hätten sie wirklich unrecht? Indes ­– was hat das alles mit dem blamablen Abschneiden zu tun? Der einfach gestrickte Fußball.-Fan, der die Auftritte der Flick-Truppe verfolgte, kommt schnell zu dem Ergebnis: Gar nichts.

Viel eher neigt dieser Betrachter dem begnadeten Kabarettisten Vince Ebert zu, der in der Entwicklung des deutschen Fußballs ein Spiegelbild der bundesdeutschen gesellschaftlichen Wirklichkeit sieht. Eberts Fazit: Deutschland und die Deutschen sind ein Möchtegern-Land und eine Würdegern-Gesellschaft. Er sagt: „Wir reden immer nur von dem ganz Großen und Ganzen. Wir möchten gern das Weltklima retten und sagen den Völkern rund um den Globus wie das geht, kriegen aber selbst nicht einmal den Bau eines Flughafens in Berlin hin. Wir bejubeln noch immer unsere Weltmeisterschaft in Brasilien, haben aber nicht gemerkt, dass darüber Jahre vergangen sind, in denen aus Niedergängen keine Lehren gezogen wurden“.  

Wer wollte einer solchen Analyse widersprechen? Bleiben wir zunächst beim Fußball. Vor allem im Vergleich mit den Spielern aus den „kleinen Ländern“ fiel dem Betrachter sofort ins Auge, mit welcher Leidenschaft und welchem Einsatz diese zur Sache gingen – im Gegensatz zu den selbstverliebten, oft genug bräsigen Hin-und-Her-Schiebern im schwarz-weißen DFB-Trikot. Talente, die bereits mit 17 Jahren mit hohen Millionensummen umworben sind, werden halt nie den Erfolgshunger und den Ehrgeiz von jemandem entwickeln, der sich noch auf einem steinigen Bolzplatz die Knie aufgeschlagen hat.

Träume von Bern und dem Wirtschaftswunder  

Ja, es gibt sie vereinzelt noch – die nostalgischen Träume vom Fußballwunder 1954 im alten Berner Wankdorf-Stadion. Und da singen tatsächlich immer noch etliche Bundesbürger im ebenfalls bereits fortgeschrittenen Alter vom deutschen einstigen Wirtschaftswunder.  Aber beides ist längst Geschichte. Aktuell geschieht dies: der Deutsche Bundestag beschließt – bei statistisch mehr als zwei Millionen Unbeschäftigten – ein Gesetz zur Zuwanderungs-Erleichterung, weil rund 400 000 qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Gleichzeitig, indessen, weisen nicht nur Studien, sondern tägliche Erlebnisse von Personalchefs eine Tendenz vor allem jüngerer Bewerber aus, die dem Faktor „Leben“ einen bevorzugten Stellenwert beimessen. Einfach ausgedrückt: Die weniger arbeiten möchten bei gutem Lohn. Wohlgemerkt: Das in einer Zeit, in der viele Staaten besonders im asiatischen Raum den Status des „Entwicklungslandes“ längst abgelegt haben und mit großem Elan auf den Weltmarkt drängen…

Berti Vogts (der frühere Nationalspieler und spätere -trainer) hat vor wenigen Tagen bei einer Betrachtung der deutschen Auftritte in Katar sicherlich nicht gerade in die sprachliche Luxuskiste gegriffen als er sagte, in dem gegenwärtigen Team wolle keiner mehr die „Drecksarbeit“ leisten. Er meinte damit ein unbedingtes Einstehen eines Jeden für Jeden. Ähnlich formuliertes es der einzig wirkliche Vorzeigespieler in Hansi Flicks löchriger Abwehr, Antonio Rüdiger (dessen Mutter aus Sierra Leone stammt), der seine Kindheit auch nicht auf Rosen verbracht hat. Auch bei diesem Begriff könnte leicht eine Parallelität vom deutschen Fußball zur politisch-sozialen Wirklichkeit im Land hergestellt werden.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.