Wie Labours Basis für eine neue Volksabstimmung über den Brexit kämpft.

Die Brexit-Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU dauern weiter an. Die Grundlage dafür sind momentan die Vorschläge der britischen Premierministerin Theresa May. Allerdings wird die Zeit bis zum März 2019, wenn Großbritannien die EU verlassen soll, ziemlich knapp. Umfragen und Kommentare lassen darauf schließen, dass die Menschen und die Parlamentsmitglieder im Land in zwei Lager gespalten sind. Wie das Spiel ausgeht, wird immer unklarer. Immer öfter ist von „gar keinem Abkommen“ oder einem ungeordneten, harten Brexit die Rede. Das britische Parlament, wo es für Mays Vorschläge keine klare Mehrheit gibt, befindet sich in einer Pattsituation. Könnte eine neue Volksabstimmung dabei als letzter Ausweg dienen?

Entscheidend zur Debatte beitragen könnte die Jahresversammlung der Labour-Partei, die vom 23. bis 26. September stattfindet. Momentan sorgt sich die Labour-Führung, dass sie durch eine Änderung ihrer momentanen ambivalenten Position zum Brexit die Unterstützung von Wählern der Arbeiterklasse aus Wales, den Midlands und dem Norden verlieren könnte.

Noch ist der Labour-Parteiführer Jeremy Corbyn gegen eine weitere Volksabstimmung. In der Nachrichtensendung BBC’s Sunday Politics sagte er: „Schließt Großbritannien ein schlechtes Abkommen, oder gibt es, was noch schlimmer ist, gar keins, […] dann würden wir dagegen stimmen, im Parlament dagegen kämpfen und hoffen, auf dieser Grundlage allgemeine Neuwahlen zu erzwingen.“ Allerdings sagte Brexit-Schattenminister Keir Starmer am 23. August 2018, sollte das Parlament ein Brexit-Abkommen ablehnen, lägen „alle Möglichkeiten“ auf dem Tisch, sogar ein zweites Referendum. Also scheint es, dass sich Labour langsam für die Möglichkeit einer erneuten Volksabstimmung zu öffnen scheint.

Corbyn und die Labour-Partei stehen unter immer stärkerem Druck, ihre Position zu ändern.

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels war über die Diskussionsanträge der Konferenz noch nicht entschieden, also wird es interessant sein zu sehen, ob auch eine weitere Brexit-Volksabstimmung auf die Tagesordnung kommt. Was auch immer geschieht: Corbyn und die Labour-Partei stehen unter immer stärkerem Druck, ihre Position zu ändern.

Von sechs Parlamentsmitgliedern der Partei, die um ein Interview über ihre Ansichten zum Brexit und zu einer Volksabstimmung gebeten wurden, haben nur zwei geantwortet – was darauf schließen lässt, wie heikel das Thema ist.

Anders ist die Lage allerdings bei Momentum, der politischen Graswurzelbewegung, die entscheidend dazu beigetragen hat, dass Corbyn zum Labour-Parteiführer ernannt wurde. Die Zeitung Financial Times berichtete, dass dort bei diesem Thema viel Bewegung herrscht. Einige Momentum-Mitglieder versuchen, die Delegierten zu einer Abstimmung darüber zu zwingen, ob es zum endgültigen Brexit-Abkommen ein Referendum geben sollte. Auch die Initiative Labour for a People’s Vote, die von einigen ehemaligen Momentum-Mitgliedern geleitet und von über 60 Labour-Wählergruppen unterstützt wird, verhält sich ähnlich.

Außerdem konnten die Momentum-Mitglieder für eine Petition, die zu einer zweiten Volksabstimmung aufruft, über die Hälfte der 4000 Unterschriften sammeln, die nötig sind, um alle weiteren Mitglieder zu einer Abstimmung zu zwingen. Hinter dieser Petition steckt die Momentum-Aktivistin Alena Ivanova. Sie sagt, sie hoffe, die Initiative werde „der Beginn der echten Brexit-Debatte“ innerhalb von Labour sein.

Unite, die größte britisch-irische Handelsgewerkschaft und mit Abstand wichtigste Labour-Geldgeberin, ist zwar offen für die Möglichkeit einer zweiten Volksabstimmung, aber diese solle nicht darum gehen, ob Großbritannien in der EU bleiben oder diese verlassen sollte. Bei einer Unite-Konferenz sagte Generalsekretär Len McCluskey, ein Verbündeter Corbyns: „Wir sind nicht, und ich wiederhole dies für meine Freunde in den Medien, nicht für ein zweites Referendum…..Aber wir bleiben offen für die Möglichkeit einer Abstimmung über jedes Abkommen, dass die Tories [die Konservativen] auf den Tisch legen.“

Nicht nur innerhalb der Labour-Partei gärt es: Auch die parteiübergreifende Kampagnengruppe The People’s Vote versucht, die britische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer zweiten Volksabstimmung zu überzeugen.

Er fügte hinzu: „Theresa May hat jegliche Autorität, Entscheidungsfähigkeit und Durchsetzungskraft verloren. Sie ist eine Gefangene der rechtsextremen Dogmatiker und Fantasten. Diese Leute sehen im Brexit ihre Chance, Großbritannien in die deregulierte Prekariats- und Niedriglohngesellschaft ihrer Träume zu verwandeln. Aber für den Rest von uns wird der Brexit zum Albtraum – und dabei in erster Linie zu einem Albtraum der Unsicherheit. Große Teile der britischen Wirtschaft, und damit auch zehntausende Unite-Mitglieder, sind von Arbeitsplatzverlusten bedroht: bei Airbus, BMW, Honda, JLR und vielen anderen.“

Nicht nur innerhalb der Labour-Partei gärt es: Auch die parteiübergreifende Kampagnengruppe The People’s Vote („Wählerstimme des Volkes“) versucht, die britische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer zweiten Volksabstimmung zu überzeugen. People’s Vote wurde im April 2018 mit der Unterstützung von über 100 der insgesamt 650 Parlamentsmitglieder gegründet. Die Bewegung setzt sich für eine Volksabstimmung über das endgültige Brexit-Abkommen ein.

„Idealerweise wollen wir eine öffentliche Abstimmung, die den Menschen die Wahl gibt, ob sie den von der Regierung verhandelten Brexit-Deal unterstützen oder lieber in der EU bleiben möchten”, sagt Pressesprecher Barney Scholes. Er fügt hinzu, dass die Entscheidung, welche Frage auf dem Abstimmungszettel stehen soll, beim britischen Parlament liege. Den Vorschlag, über drei Möglichkeiten abzustimmen (also das angebotene Abkommen, Verbleib in der EU oder gar kein Abkommen), unterstützt er aber nicht: „Gar kein Abkommen zu haben, wäre eine solche Katastrophe, dass es unverantwortlich von der Regierung wäre, diese Option überhaupt zur Wahl zu stellen.“

Die Gruppe führt parlamentarische Lobbyarbeit durch und organisiert Graswurzelkampagnen auf lokaler Ebene. Während des Sommers organisiert sie Kundgebungen in verschiedenen Städten, unter anderem in Bristol, Edinburgh, Newcastle, Cambridge und Cardiff. So gingen im Juni in London etwa 100 000 Menschen auf die Straße – zur größten Brexit-Demonstration seit dem Referendum. Für eine weitere Kundgebung in London am 20. Oktober erwartet People’s Vote noch mehr Teilnehmer. Laut Amatey Doku, dem Vizepräsidenten der Nationalen Studentengewerkschaft mit sieben Millionen Mitgliedern, werden an der Demonstration auch Studierende aus dem ganzen Königreich teilnehmen, da „diese Tory-Regierung droht, der Zukunft der jungen Menschen zu schaden, und dies auch noch mit der Unterstützung der Labour-Partei“. Diese Kundgebung wird auch von der Zeitung Independent unterstützt, die für ihre #FinalSay-Petition über 600 000 Unterschriften sammeln konnte.

Wird eine Volksabstimmung über das endgültige Brexit-Abkommen aber überhaupt gewünscht? Dazu gibt es einige interessante Details. Zur Frage, ob Großbritannien die EU verlassen oder dort verbleiben sollte, zeigen die Umfragen weiterhin ein 50-zu-50-Verhältnis – vielleicht mit einer leichten Mehrheit derer, die für einen Verbleib sind.

Aber es gibt interessante Entwicklungen, die dafür sprechen, dass die Idee einer zweiten Volksabstimmung in der öffentlichen Meinung immer populärer wird. Laut einer Umfrage von Sky Data sind nur zehn Prozent der Befragten der Ansicht, die Regierung leiste bei der Verhandlung über den Brexit gute Arbeit, und 78 Prozent sind vom Gegenteil überzeugt. In derselben Umfrage wurde auch gefragt: Soll es eine Volksabstimmung geben, bei der zwischen dem von der Regierung vorgeschlagenen Abkommen, keinem Abkommen und dem Verbleib in der EU ausgewählt werden kann? Das Ergebnis: 50 Prozent sind dafür und 40 Prozent dagegen.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Survation-Umfrage für Good Morning Britain im Juni 2018. Dort sprach sich fast die Hälfte (48 Prozent) der Befragten für ein Referendum über das endgültige Abkommen aus (bei nur 25 Prozent Gegenstimmen).

Laut einer YouGov-Umfrage vom Juli 2018 würde eine neue Volksabstimmung von 42 Prozent der Öffentlichkeit unterstützt, verglichen mit 40 Prozent, die dagegen waren. Noch interessanter ist die zeitliche Entwicklung: Als dieselbe Frage im April 2017 gestellt wurde, wurde ein zweites Referendum nur von 31 Prozent der Befragten unterstützt.

Die Menschen sollten die Möglichkeit haben, bei einem Abkommen mitzureden, das in ihrem Leben zu erheblichen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen führen wird – und das für viele Jahre in die Zukunft.

Diese Umfragen belegen, dass die Briten mit der Brexit-Politik der konservativen Regierung nicht zufrieden sind, und es wird klar, dass eine großer und weiter wachsender Teil der britischen Bevölkerung eine Volksabstimmung über das endgültige Brexit-Abkommen möchte.

Betrachtet man den Druck von Momentum, die Umfrageergebnisse, die People’s-Vote-Bewegung und die mögliche Unterstützung durch eine große Gewerkschaft gemeinsam, ergibt dies einen großen Anreiz für die Labour-Opposition, eine Volksabstimmung über das endgültige Brexit-Abkommen zumindest in Erwägung zu ziehen.

Marley Morris, ein Forschungsmitarbeiter bei einem britischen Thinktank namens Institute for Public Policy Research, sagt, eine eventuelle zweite Abstimmung könne in Form eines Referendums stattfinden, aber er halte dies „angesichts des engen Zeitfensters für ziemlich unwahrscheinlich“. Eine zweite Volksabstimmung „würde eine Änderung in der Position der konservativen Regierung oder eine starke parlamentarische Unterstützung erfordern. Und auch dies erscheint in den nächsten sechs Monaten ziemlich unwahrscheinlich“.

Wenn er Recht hat, hat eine zweite Volksabstimmung nur dann eine realistische Chance, wenn der Brexit-Termin des März 2019 in die Zukunft verlängert wird. Barney Scholes, Pressesprecher von People’s Vote, sagt, EU-Quellen hätten angedeutet, die EU sei bereit, Großbritannien mehr Zeit zu geben – für den Fall, dass das Land im Rahmen des demokratischen Prozesses seinen Bürgern eine Volksabstimmung über das Thema ermöglichen will.

Marley Morris hingegen hält es aber auch dann noch für „unwahrscheinlich, dass es eine zweite Abstimmung gibt“. Er hält es für plausibler, dass die britische Regierung mit der EU über die Austrittsvereinbarung und das Thema der irischen Grenze einen faulen Kompromiss eingeht. Auch über die zukünftigen Beziehungen dürfte das Abkommen eher vage ausfallen. Seiner Ansicht nach ist das wahrscheinlichste Szenario, dass das britische Parlament ein solches Austrittsabkommen zunächst ablehnt, aber dann in einem zweiten Anlauf aus Angst vor einem harten Brexit mit knapper Mehrheit verabschieden wird. Dann allerdings könnte die Forderung nach einer zweiten Volksabstimmung stärker werden. Insbesondere wäre dies der Fall, wenn sich das britische Parlament nicht auf ein Abkommen einigen kann und stattdessen einen „harten“ Brexit plant. Dann würde die Führung der beiden großen Parteien massiv an Glaubwürdigkeit verlieren – bei allen Bürgern, aber insbesondere bei den jungen Briten, deren Zukunft auf dem Spiel steht.

In diesem Zusammenhang könnte die Labour-Parteiversammlung Ende September insofern einen Wendepunkt darstellen, als dass sie die Möglichkeit einer Volksabstimmung über das endgültige Brexit-Abkommen eröffnet. Die Menschen sollten die Möglichkeit haben, bei einem Abkommen mitzureden, das in ihrem Leben zu erheblichen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen führen wird – und das für viele Jahre in die Zukunft. Als sie 2016 mit extrem knapper Mehrheit für einen Austritt aus der EU stimmten, hatten sie diese Möglichkeit nicht. Beim damalige Referendum wurde zwar für einen Austritt gestimmt, aber nicht dafür, wie er genau gestaltet werden kann.

Julian Hale ist ein Journalist, der sich seit 15 Jahren schwerpunktmäßig mit EU-Policy-Debatten beschäftigt. Er schreibt regelmäßig für Equal Times. 

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