Ein einziges Bild von unendlicher Trauer
Von Gisbert Kuhn
Vor 106 Jahren, am 11. November 1918, ging mit einem Waffenstillstand der Erste Weltkrieg zu Ende, das bis dahin größte Völkermorden in der Geschichte der Menschheit. Auf dem deutschen Soldatenfriedhof im westbelgischen Vladslo schuf die Künstlerin Käthe Kollwitz den Toten ein eindrucksvolles Mahnmal.
Vor 106 Jahren, am 11. November 1918, schwiegen endlich die Waffen. Der Erste Weltkrieg war zu Ende. Vier Jahre hatte das Völkermorden gedauert. Abermillionen Menschen mussten sterben wegen des Ehrgeizes der damaligen europäischen Großmächte, die Nummer 1 in der Welt zu sein. Dieses Ziel hat keine von ihnen erreicht; vielmehr waren zum Schluss alle Verlierer: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn. Käthe Kollwitz, die große Zeichnerin und Skulpteurin, hat auf dem deutschen Soldatenfriedhof im westbelgischen Vladslo 1932 ein eindrucksvolles Mahnmal geschaffen: „Die trauernden Eltern“. Ungeachtet der Schrecken und katastrophalen Erlebnisse brach allerdings nur wenige Jahre später ein neuer, noch entsetzlicherer Weltkrieg aus. Ob die Menschheit wenigstens daraus gelernt hat? Zweifel sind allemal erlaubt. Besonders in der jetzigen Zeit.
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Vladslo im November. Selbst wenn dieser alles durchdringende Regen nicht über das flache Land fegte, würde der Anblick der zwei knienden Gestalten frösteln machen. Grau alle beide. Der Mann hat die Schultern hochgezogen, die Arme eng um den Oberkörper geschlungen. Als ob er nur noch auf diese Weise wenigstens einigermaßen Haltung bewahren könnte. Das Gesicht: Eingefallene Wangen, verschlossene Lippen, die Mundwinkel verbittert nach unten gezogen. Aber der Rücken ist kerzengerade aufrecht. Und erhoben, Würde ausstrahlend, genauso das Haupt. Der leicht zum Boden gerichtete Blick konzentriert sich auf nichts Spezielles; er scheint sich im Unendlichen zu verlieren.
Sehr ähnlich, und dennoch wieder ganz anders, die Frau. Auch ihre Hände verkrampfen sich, Halt suchend, im Stoff des Mantels. Die linke Kragenseite ist schützend ans Gesicht gezogen. Nein, dieser Mensch will nicht einmal mehr auch nur den Schein von Stärke vorgeben. Er ist nur noch verzweifelt. Ein tiefer Schmerz zwingt den Rücken in die Beuge. Die Augen sind geschlossen, als wollten sie diese Welt nicht mehr sehen.
Ein stiller Platz im Praatswald
Die zwei sind ein einziges Bild unendlicher Trauer, ein trauerndes Elternpaar. Käthe Kollwitz, die große Zeichnerin vor allem der kleinen und geknechteten, im Schatten des Lebens stehenden Menschen hat es geschaffen und ihm zugleich auch diesen Namen gegeben. Ein aus Granit geschlagenes Denkmal auf dem deutschen Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg am Rande des kleinen westflandrischen Dorfes Vladslo, einen Steinwurf nur vom damals erbarmungslos umkämpften Yser-Kanal entfernt.
Der stille Platz im Praatswald – hier stehen die „Trauernden Eltern“. Vor allem Belgier zieht es heute dorthin, aber auch viele Briten. Deutsche, seltsamerweise, weniger. Immer wieder fällt der Blick auf kleine Holzkreuzchen auf den schwarzen Steinplatten im Rasen. Die Holzkreuze sind mit der roten, papiernen Klatschmohnblume versehen, wie sie die Engländer auf den Gräbern ihrer Kriegstoten ablegen. „We shall remember“, steht darauf zu lesen – „wir erinnern uns“. Dort, wo sich im Herbst 1914 der deutsche Vormarsch im künstlich überfluteten Gelände festgelaufen hatte, wo am Yser-Kanal in den folgenden vier Jahren hunderttausende Deutsche, Briten, Franzosen, Belgier, Australier und Angehörige anderer Nationen in der Kriegshölle der Westfront gestorben, ja krepiert sind. Das, weitgehend auf den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Verbrechen fixierte deutsche Geschichtsbewusstsein hat das grausige Geschehen zu Beginn des Jahrhunderts praktisch verdrängt. Ganz anders in Großbritannien, Frankreich oder Belgien, wo „The Great War“ und „La Grande Guerre“ auch nach hundert Jahren noch ganz präsent, in Belgien der 11. November in Dankbarkeit für den Waffenstillstand sogar Nationalfeiertag ist. Deutsche Zeichen der Trauer und Erinnerung auf dem Friedhof an der einstigen Westfront? Ein in Auflösung befindlicher Kranz vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, das ja. Aber ansonsten – Fehlanzeige.
Tod beim Sturmangriff auf Diksmuide
Die Künstlerin Käthe Kollwitz, die Mutter Kollwitz vor allem, hat das Mahnmal entworfen – auch in Erinnerung an den jüngsten Sohn Peter, Angehöriger jener zum übersteigerten Patriotismus herangezogenen Jugend, die mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in die MG-Garben gelaufen ist bei Langemark, Ypern, Diksmuide, Nieuwport und wie die zu Symbolen des Grauens gewordenen Orte alle heißen. Peter Kollwitz hatte sich, 18-jährig, freiwillig gemeldet. Sein Tod ereilte ihn schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Am 23. Oktober 1914 ist er (der „Musketier“, wie es auf einer Grabplatte zu Füßen der steinernen Eltern geschrieben steht) bei einem Sturmangriff auf Diskmuide gefallen. Vielleicht war es ja sogar die Attacke, über die ein Kommandant des 11. Belgischen Linienregiments in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1914 in seinem Tagebuch festhielt: „Er (der Feind) hat zahllose frische Truppen vor der Stadt zusammen gezogen und den Befehl gegeben, koste es, was es wolle, die Stellung zu nehmen. Kaum zurück geschlagen, gruppieren sie sich erneut zum Angriff, und das mit immer größer werdender Stoßkraft. Was hat man diesen Männern versprochen, dass sie sich so töten lassen?… Sie erreichen die Laufgräben nur, um hier den Tod zu finden“. Der deutsche Heeresbericht im Großen Hauptquartier im Ardennen-Kurort Spa verzeichnete an diesem Tag lediglich „unerwarteten Widerstand, der uns jedoch nicht aufhalten wird“.
Ausweislich ihrer eigenen Notizen hatte Käthe Kollwitz bereits am 1. Dezember 1914 den Plan gefasst, ein Denkmal zu schaffen. Ihrem Sohn Peter zu Ehren, aber auch all den anderen ins Verderben geschickten Männern, von denen aus Deutschland 134 000 in Flandern beerdigt sind; allein 25 645 unter den mit jeweils bis zu 20 Namen versehenen Granittafeln in Vladslo. Freilich sollten bis zum letzten Hammerschlag an den beiden steinernen Gestalten noch 18 Jahre vergehen. Ein genauso langer Zeitraum also, wie zuvor das Leben des Sohnes währte. Zufall oder Fügung?
Anregung durch Ernst Barlach
„Hier liegt die Jugend“, wollte die Skulpteurin zunächst in den Granit meißeln. Dann verwarf sie die Idee wieder. Zeitweise schien ihr, die doch mit Kohle und Stift so unnachahmlich Schrecken und Mitleid auf Papier zu bannen verstand, mit den Plastiken überhaupt nichts zu gelingen. Bis schließlich (beeinflusst durch Ernst Barlach) der Gedanke reifte, den „Trauernden“ einfach ihre eigenen und ihres Mannes Züge zu geben – also die von Käthe und Karl Kollwitz. Am 24. Juni 1932, endlich, wurden die zwei überlebensgroßen Steingestalten aufgestellt. Noch nicht in Vladslo, sondern zunächst auf dem kleinen, einsam in den weiten Feldern der Yser-Landschaft gelegenen und erst 1965 aufgelösten deutschen Soldatenfriedhof Roggefeld.
Das Echo im Nachbarland war seinerzeit keineswegs durchgehend freundlich. Noch immer unter dem Eindruck der vier fürchterlichen Kriegsjahre stehend, mochten viele Belgier in den „Trauernden Eltern“ weniger die gebrochene Mutter und den zerstörten Vater erblicken, als vielmehr in Stein gehauene Feind und Feindin. Als „Mette“ und „Pette“, „Manten“ und „Kalle“ wurden die Statuen noch lange Jahre verspottet. Und daheim in Deutschland? Dass das NSDAP-Organ „Völkischer Beobachter“ der von Gram und Leid gebeugten Frauenfigur nachsagte, so sehe eine „deutsche Mutter hier Gott sei Dank nicht aus“, erstaunt nicht. Aber es waren eben keineswegs nur die Nazis, denen der fehlende Heroismus missfiel. Der (noch heute) über dem Tor zu einem anderen deutschen Soldatenfriedhof in Belgien, Langemark, prangende Satz des Dichters Heinrich Lersch, „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ – er passte besser zu einem Zeitgeist, der nur sieben Jahre später einen neuen, noch schrecklicheren Krieg entfachte.
Inzwischen ist die ruhige Stätte unter den Eichen des Praatswaldes bei Vladslo wohl gerade wegen der Kollwitz-Figuren ein viel besuchter Ort. Schier endlos scheinen die Reihen der Grabplatten und Steinkreuze, die zu den „Trauernden“ führen. Peter Kollwitz liegt genau zu Füßen seiner versteinerten Eltern. An Bilder wie dieses mochte Luxemburgs ehemaliger Regierungschef, der mittlerweile ausgeschiedene, langjährige EU-Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, gedacht haben, als er 2012 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU sagte: „Wer an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfriedhöhe besuchen“.
(So empfindet es auch der Autor, der – langjähriger Zeitungskorrespondent in Brüssel – mehr als nur einmal auf den Gräberfeldern in Flandern war. Besonders dann, wenn das Kleinklein und die national überbordenden Interessen der EU-Mitgliedländer wieder einmal die Europapolitik bestimmten. Es war dann der Gang durch die schier endlosen Reihen der weißen Steinkreuze und dunklen Granitplatten, der schließlich immer wieder das Bewusstsein dafür zurecht rückte, welche grandiose Leistung – trotz Allem – mit diesem weltweit bislang einmaligen Experiment mit den Buchstaben EU verbunden war und ist – allein auf friedliche Weise und ohne jede Gewaltanwendung über Jahrhunderte aufgebauten Hass und gepflegte Feindschaft und damit Grenzen zu überwinden.)
Kommentare und Anmerkungen an: gisbert.kuhn@rantlos.de
Info:
Anreise Vladslo:
Autobahn Aachen – Lüttich – Brüssel – Gent – bis kurz vor Ostende. Dort wechseln auf Autobahn Richtung Veurne. Bei Autobahnausfahrt 4 Richtung Diksmuide. Dort Wegweiser nach Vladslo und auch zu den britischen und kanadischen Soldatenfriedhöfen.
Sehenswürdigkeiten:
Friedensturm der „Flandern-Wallfahrt“ in Diksmuide. Hervorragendes Weltkriegs-1-Museum in Ypern (weiter südlich). In Ypern Menem-Tor, wo jeden Abend (!) um 20 Uhr der britische „last post“ (Zapfenstreich) vor vielen Zuschauern geblasen wird.
Besuchenswert aber auch das Käthe-Kollwitz-Museum in Köln
Anfahrt ab Hauptbahnhof mit den U-Bahn-Linien 16 u. 18 bis Neumarkt
Fußweg vom Hauptbahnhof ca. 15 Min. über Hohe Str. u. Schildergasse
Parkmöglichkeit im Parkhaus der Kreissparkasse (außer So.)
Dom u. zahlreiche Museen in fußläufiger Nähe