Vor 79 Jahren: Kriegsgemetzel und Menschlichkeit in der Eifel

Von Gisbert Kuhn

Der Hürtgenwald gehört heute zum Nationalpark Eifel

Über die kahlen Hochflächen der Westeifel fegen die ersten rauen Herbststürme. Und in den Laubwäldern nehmen die leuchtenden Blätter des Altweibersommers allmählich stumpfe Farben an. Mitunter fallen sogar schon ein paar Schneeflocken.Wanderer durchstreifen die dunklen Täler entlang munter dahin plätschernder Bäche und folgen den oft mühsamen Anstiegen, um von Gipfeln und offenen Hochplateaus aus mit traumhaften Ausblicken ins Kölner Becken, auf die alte Kaiserstadt Aachen oder auch nur über die weite, abwechslungsreiche Mittelgebirgslandschaft belohnt zu werden.

Trügerische Idylle

Doch nicht überall in der Eifel gibt es diese Idylle so ungeteilt. Also ohne dass bei vielen, vor allem älteren, Menschen sofort schreckliche Erinnerungen wach werden und traumatisierende Bilder von Krieg, vieltausendfachem Sterben und maßloser Zerstörung wieder hochkommen. Im Gedächtnis der Völker sind solche Ereignisse nicht selten mit Orts- oder Gebietsnamen verbunden – Verdun zum Beispiel, oder Flandern, oder Stalingrad. Hier, direkt an der Grenze zu Belgien, ist das nicht anders. Das Schreckenswort mindestens einer Generation lautet „Hürtgenwald“. Und zwar keineswegs allein in Deutschland, sondern (vielleicht sogar mehr noch) in den USA.

Bei den Kämpfen von September 1944 bis zum Februar 1945 verloren mehr als 60.000 deutsche und amerikanische Soldaten ihr Leben.

Hier, das bedeutet ein etwa 140 Quadratkilometer großes, von engen Tälern und steilen Schluchten durchzogenes Waldgebiet südlich der Linie Aachen – Düren und westlich des Flüsschens Rur gelegen. Hier fanden zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 erbitterte Kämpfe statt, für die der Begriff „Gemetzel“ fast noch untertrieben ist. Es waren die letzten Abwehrschlachten des Deutschen Reichs im Westen und die verlustreichsten der US-Armee in einem Kriegsgebiet. Sinnlos für beide Seiten. Hitlers Krieg war schon lange verloren. Und der von General Dwight D. Eisenhower angeordnete Vorstoß in die Eifel-Wälder erwies sich, militärisch gesehen, als ein riesiger Fehler. Denn das mit der Operation „Queen“ verbundene Ziel, das Erreichen des Rheins sowie die Eroberung des Köln/Bonner Raums, wäre durch die Umgehung der Eifel auf direktem Weg schneller und vor allem mit viel weniger Verlusten zu bewältigen gewesen.

Angst vor Überflutung

Schwere Infanteriegeschütze im Wald von Hürtgen bei der Abwehr eines der zahllosen nordamerikanischen Angriffe

Einer der Gründe, stattdessen das Bergland einnehmen zu wollen, scheint die Sorge Eisenhowers gewesen zu sein, die Deutschen könnten die Eifel-Stauseen – vor allem die Rur-Talsperre – sprengen und das Unterland dadurch in nur schwer passierbare Sümpfe verwandeln. So wie die Belgier zu Beginn des 1. Weltkriegs den deutsche Vormarsch durch das Öffnen der Deiche an der Ijzer gestoppt hatten. Doch keiner der amerikanischen Führer wusste im Winter 1944 offensichtlich auch nur andeutungsweise, was die Truppen in den Bergen  erwartete. Die dichten Wälder machten die US-Luftwaffe und schwere Artillerie praktisch wirkungslos, und auf den schmalen Waldwegen und in den unwegsamen Schluchten stapelten sich schnell die Wracks zerstörter Panzer. Dennoch wurde von US-Seite festgelegt, am 2. November 1944 um 8 Uhr in der Früh eine Offensive in Richtung des strategisch wichtigen Höhendorfes Schmidt zu starten. Was folgte, ist in der Eifel (und  weit darüber hinaus) noch heute ungezählten Menschen als „Allerseelenschlacht“ im Gedächtnis.

Das Chaos auf Seiten der Angreifer begann schon damit, dass die aus der Ortschaft Vossenack ins steile Tal des Kall-Bachs hinab rasselnden schweren Sherman-Tanks leichte Ziele für die auf den Höhen positionierte deutsche Artillerie boten und dazu noch die Straßen und Wege blockierten. Aber selbst wenn eine Ortschaft genommen werden konnte, musste sie zumeist schon  kurz darauf wieder aufgegeben werden (vgl. auch rantlos: “Das tote Dorf auf den Höhen der Eifel”). Der Schriftsteller und Nobelpreis-Träger Heinrich Böll, der in den 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Haus dort bewohnte, erinnerte sich einmal so: „Mehr als 28 Mal wechselten die Dörfer Schmidt, Vossenack, Simonskall und Kommerscheidt ihre militärischen Herren; in Vossenack verlief die  ´Front´ sogar quer durch die Pfarrkirche. Die amerikanischen Soldaten schossen von der Orgelbühne herunter, die deutschen aus der Sakristei“.

Der unheimliche Wald

Ernest Hemingway und Colonel Lanham am Westwall bei Brandscheid, September 1944. (JFK Library)

In vielen Schilderungen amerikanischer Soldaten ist von den „unheimlichen deutschen Wäldern“ die Rede. Tatsächlich waren die GIs überhaupt nicht auf diese Art Krieg vorbereitet – also weder auf den Nahkampf, noch auf den Winterkrieg. Und der Winter 1944 war einer der kältesten seit Jahrzehnten. Bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad erfroren Soldaten auf beiden Seiten. Ernest Hemingway war als Kriegsberichterstatter für das Magazin „Collins“ mit dem 22. US-Regiment im Hürtgenwald und hatte eigentlich vor, Heldenstories und großartige Siege zu beschreiben. Nach dem Erleben der Wirklichkeit war von US-Glanz und verherrlichender amerikanischer Gloria freilich keine Rede mehr. Statt seines mit „Collins“ geplanten journalistischen Großprojekts bewältigte Hemingway seine Eindrücke lediglich in dem Kurzroman „Über den Fluss und in die Wälder“. Und zwar u. a. so: „In Hürtgen gefroren die Toten, und es war so kalt, dass sie mit roten Gesichtern gefroren“. Weiter: „Wir bekamen viel Ersatz. Aber ich dachte, es wäre wohl einfacher, sie gleich dort, wo man sie auslud, zu erschießen, anstatt dass man später versuchen musste, sie von dort zurückzuholen, wo sie getötet worden waren“.

Bis heute besteht noch keine endgültige Klarheit, wie viele Menschleben die vier Monate währenden Kämpfe im und um den Hürtgenwald wirklich gefordert haben. Ja, nicht einmal die Zahl der Toten während der Allerseelenschlacht vor 79 Jahren ist auch nur annähernd gesichert. Tatsächlich werden auch jetzt noch immer auf den Feldern und in den Wäldern Skelette gefunden. Mindestens zwei US-Divisionen wurden allein im Ringen um die Höhendörfer der Eifel aufgerieben. General James Gawin, Kommandeur der 82. US-Fallschirmjäger-Division, befand nach dem Gemetzel in der „Todesfabrik Hürtgenwald“: „Es war die verlustreichste, unproduktivste und am schlechtesten geführte Schlacht, die unsere Armee je geschlagen hat“.

Hölle und Humanität

“Bergung in der Feuerpause” Günter Stüttgen über die Rettung von Verletzten

Aber selbst in der Hölle des Krieges und in Zeiten des Hasses sprießt immer wieder auch das Pflänzchen Menschlichkeit und nimmt manchmal sogar Gestalt und Namen an. Günter Stüttgen ist ein Beispiel dafür. Der im Herbst 1944 gerade 25-jährige junge Mann leistete als Regimentsarzt der Wehrmacht  im Rang eines Hauptmanns erste Hilfe im Hürtgenwald. „An manchen Tagen hatten wir mehr als 200 Verletzte, viele Tote, allein in meinem Abschnitt“, erinneret er sich. „Sie wälzten sich auf den Wiesen, wimmerten in dem kleinen Bachbett, schrien um Hilfe aus Schützenlöchern, die wegen des steinigen Bodens viel zu flach waren, um wirklich Schutz zu bieten. Deutsche wie Amerikaner lagen und litten und starben nebeneinander“. Stüttgen nahm eines Tages von sich aus, eigenmächtig, Kontakt zur amerikanischen Seite auf, es wurden Waffenstillstände vereinbart, um Verletzte zu versorgen und Tote zu bergen – ohne Ansehen der Nationalität. Manchmal sogar mit gemischtem Personal im Feldlazarett (s. Video-Ausschnitt unten). Der Arzt riskierte damit ein Kriegsgerichtsverfahren. Jahrelang hatten später Angehörige der 8. US-Infanteriedivision nach dem barmherzigen Arzt geforscht – und sie machten ihn ausfindig. 1996 wurde er in Washington mit der höchsten US-Militärmedaille geehrt. Im November 2003 ist Stüttgen gestorben.

Oder da war Julius Erasmus. Vor dem Krieg Textilfabrikant in Aachen, verlor er während der Kämpfe um die alte Kaiserstadt seine gesamte Familie und sein Vermögen. Nach dem Krieg zog er sich in eine Hütte im Hürtgenwald zurück und begann, tote Soldaten zu bergen, sie zu identifizieren und zu begraben. Die Lagepläne der Gräber hielt er dabei fest. Die Arbeit war lebensgefährlich, weil der Wald mit Blindgängern und Minen übersät war. Zu seinen Motiven sagte Erasmus: „Ich hatte meine gesamte Habe verloren; der Krieg hatte mir alles genommen. Und da fand ich sie in den Chausseegräben, am Waldrand, unter zerschossenen Bäumen. Ich konnte sie doch nicht einfach da liegen sehen, unbestattet und vergessen. Es ließ mir keine Ruhe“. 1 569 deutsche Soldaten hat Erasmus im Hürtgenwald geborgen und in Vossenack zur letzten Ruhe gebettet.

Die Geschichte von St. Mokka

Die Pfarrkirche St. Hubertus, im Volksmund wird sie Schmugglerkirche St. Mokka genannt.

Nicht zu vergessen, schließlich, die Geschichte von der und um die Kirche St. Mokka. Eigentlich ist sie ja dem heiligen Hubertus geweiht und steht in Schmidt – jenem Dorf mit dem sehr deutschen Familiennamen also, das bei den Kämpfen um den Hürtgenwald bis zum Erdboden plattgemacht worden war. Einschließlich dem Gotteshaus. Was taten die Überlebenden nach dem Krieg, um wieder auf die Beine zu kommen? Klar – Kaffee schmuggeln. Schließlich ist die Grenze zu Belgien nur 17 Kilometer entfernt und man kennt sich hüben wie drüben. Ein zwar nicht ungefährliches, dafür aber höchst einträgliches Unterfangen angesichts der hohen deutschen Kaffeesteuer in den ersten Nachkriegsjahren. Mancheiner der Pascher verdiente seinerzeit in einer Woche mehr als vor dem Krieg in einem ganzen Jahr. Kein Wunder, dass es mit dem Dorf rasch bergauf und seinen Bewohnern recht bald wieder besser ging.

Nur einer schaute bei alledem in die Röhre. Seit dem 18. Mai 1947 wurde die Pfarre von Josef Bayer betreut, dessen Gehalt gerade einmal für zwei Päckchen Zigaretten gereicht hätte. Und Geld für ein neues Dach der nur notdürftig reparierten Kirche war schon gar nicht vorhanden. Da packte den geistlichen Herrn eines Tages der heilige Zorn, und er hielt von der Kanzel folgende Gardinenpredigt: „Merkwürdig ist das! Ich weiß ganz bestimmt, dass Ihr, meine lieben Pfarrkinder, so viel Geld habt, dass Ihr Kopfschmerzen bekommt Bei mir ist das aber umgekehrt: Ich habe Kopfschmerzen vor lauter Schulden und bekomme davon noch graue Haare! Ich bete Nacht für Nacht, dass Ihr nicht erwischt werdet, und Ihr habt nichts für den Wiederaufbau unserer Kirche übrig“. Die Standpauke hat ganz offensichtlich gewirkt. Angeblich haben die Schmidter Schmuggler ganz schnell 250 000 (!) Mark locker gemacht. Seither heißt St. Hubertus im Eifeler Volksmund nur St. Mokka. Oder auch einfach: Schmugglerkirche.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

Museum: www.museum-huertgenwald.de

Hürtgenwald 1944 und im Frieden.

Darin auch: Die Allerseelenschlacht und ihre Folgen

Pfarrer-Dickmann-Straße 21 -23

52393 Hürtgenwald – Vossenack

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Fax.:  dito

Betreiber und Kontakt

Geschichtsverein Hürtgenwald e.V.

Zweifaller Weg 8

52393 Hürtgenwald

Öffnungszeiten

Nur sonntags von März bis November 11 – 17 Uhr

Führungen

Ansprechpartner Rainer Valder

 

Zwischen Vossenack und Schmidt

Der Kalltrail ist ein steiler, gewundener Pfad, der von Vossenack nach Kommerscheidt durch das tief eingeschnittene Kalltal führt. Aufgrund schlechter Aufklärung war dieser Pfad als Weg für die Eroberung Schmidts ausgesucht worden. Die US-Armee führte unter großen Verlusten Panzer über den Kalltrail an die Hauptkampflinie heran. In diesem Gebiet fand am 02. November 1944 die Allerseelenschlacht statt, welche als eine der größten Niederlagen einer US-Division überhaupt gilt. Schmidt und Kommerscheidt konnten zwar eingenommen werden, mussten aber bald wieder aufgegeben werden. Die Operation wurde für die Amerikaner zum Desaster.
Der Weg und die Schauplätze der Kämpfe sind heute noch begehbar und Gegenstand dieses Films.

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