Von Wolfgang Bergsdorf

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf

Seit fast einem halben Jahr tobt inzwischen der Angriffskrieg Wladimir Putins in der Ukraine. Und immer deutlicher kommen die Auswirkungen dieses blutigen Konfliktes in das Blickfeld der Europäer: Westliche Geheimdienste gehen von mittlerweile 100 000 russischen Gefallenen aus, der Blutzoll der ukrainischen Opfer dürfte nicht viel geringer sein. Die dokumentierten Kriegsverbrechen des Aggressors werden mit jedem Kriegstag zahlreicher. 10 Millionen Ukrainer sind vor dem Krieg geflohen, davon mehrere Millionen ins Ausland. Etwa 1 Million hat in Deutschland Schutz gefunden.

Die Europäer erleben jetzt durch die Gas- und Ölreduktionen Russlands eine spürbare Inflation ihrer Gemeinschaftswährung. Der Ukraine-Krieg hat eine globale Getreidekrise ausgelöst, die erst jetzt durch die von Russland hingenommenen Exporte ukrainischer Ernten gemildert wird. Der Beschuss des größten Atomkraftwerks in Europa löst auf dem ganzen Kontinent die Angst vor einem nach Tschernobyl zweiten ukrainischen GAU aus. Man kann an diesen wenigen Beispielen erkennen, dass man weit in die Geschichte zurückblicken muss, um mit der Skrupellosigkeit des russischen Aggressors vergleichbare militärische Aktionen zu finden.

Was der Diktator Putin mit diesem Krieg seinem eigenen Land antut, lässt sich bis jetzt nur schemenhaft erkennen. Hunderttausende von Russen mit interessanten Berufen wie Ingenieur, IT-Sachverständige, Ärzte, Journalisten, Diplomaten haben das Land verlassen, weil sie diesen Krieg missbilligen und deshalb für Russlands Zukunft schwarzsehen. Putin hat sein Land durch den anlasslosen Angriffskrieg international so isoliert, dass er sogar bereits in Nordkorea antichambrieren muss. Die westlichen Sanktionen haben jetzt schon bewirkt, dass die Wirtschaftsleistung des Gas- und Öl-Landes um mindestens 5 Prozent abgesenkt wurde. Eine Studie der US-amerikanischen Yale University prognostiziert eine noch viel stärkere Rezession. Schon mussten die ersten Flugzeuge stillgelegt werden, um sie für Ersatzteile auszuschlachten, die aufgrund der Sanktionen nicht mehr ins Land kommen.

Viel deutlicher als die politischen und ökonomischen Folgen von Putins Angriffskrieg zeichnen sich die kirchlichen Konsequenzen ab. Das symbiotische Verhältniss von Staat und Kirche in Russland wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion noch einmal gestärkt. Überall im Lande entstanden neue Kirchen und Klöster oder wurden alte Gebetsstätten renoviert. Die russische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (ROK) wurde mit Privilegien überschüttet. Sie haben den Patriarchen Kyrill zu einem außerordentlich reichen Mann gemacht. Dessen Neigungen zu schweizerischen Luxusuhren sind mittlerweile fotografisch gut dokumentiert. Er erfreut sich bei feierlichen Gottesdiensten auch regelmäßiger Besuche des russischen Staatsoberhauptes, das er seit ihrer gemeinsamen Zeit beim berüchtigten sowjetischen Geheimdienst KGB kennt und schätzt.

Beide Männer betrachten es als ihre Kernaufgabe, die „russische Welt“ vor den dekadenten, sündhaften Einflüssen des Westens zu schützen. Und zu dieser russischen Welt gehören für sie Russland, die Ukraine und Weißrussland sowie russische Minderheiten jenseits dieser Staatsgrenzen, für die auch ein Vertretungsmandat beansprucht wird. Die imperialistischen Impulse Putins decken sich mit dem Anspruch der russisch-orthodoxen Kirche auf ein kanonisches Territorium für die drei Brudervölker. Dieses religiös-nationalistische Narrativ hat wie alle Geschichtsdeutungen dieser Art eine zentrale Schwäche: Homogenität wird nicht nur postuliert, sondern kontrafaktisch fingiert: Wer Russe, Weißrusse oder Ukrainer ist und was die Einheit dieser Völker ausmacht, unterliegt der Definitionsmacht des Kreml und der politisierenden Kleriker. Dieser Anspruch schließt aus, dass die Völker für sich selbst sprechen und selbst entscheiden, in welchem Staat sie leben und welcher Religion sie angehören möchten.

Die nahtlose Unterstützung des Putinschen Angriffskrieges durch den Moskauer Patriarchen Kyrill hat die orthodoxe Kirche in eine dramatische Krise versetzt. Zwar folgte aus der politischen Annexion der Krim auch eine kirchliche, indem die dortigen Diözesen fest an das Moskauer Patriarchat angeschlossen wurden. Aber in Russland selbst haben hunderte von Priestern und tausende von Gläubigen ihren Widerstand gegen den Krieg erklärt. Auch außerhalb bezeichneten mehrere tausend orthodoxe Theologen das religiös-nationalistische Gehabe der ROK als Häresie. Also als Abweichung vom Glauben. In der Ukraine haben die beiden miteinander um Gotteshäuser und Gemeinden rivalisierenden orthodoxen Kirchen in der Verurteilung des russischen Angriffskrieges eine neue Gemeinsamkeit gefunden. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) ist seit 2019 autonom, also selbstständig. Die andere gehörte bisher zum Moskauer Patriarchat.

Möglicherweise kommt es zur Vereinigung der beiden Kirchen. Für den Moskauer Patriarchen Kyrill wäre das ein weiterer schwerer Schlag. Denn die ukrainischen Diözesen waren bisher die Kraftquellen der Russische-Orthodoxen Kirche in Blick auf Gläubige und Finanzen. Schon jetzt muss der Moskauer Patriarch mit der Tatsache fertig werden, dass der Metropolit der Russischen Auslandskirche den Krieg mit scharfen Worten verurteilt und zur Unterstützung der Ukraine aufgerufen hat. Noch schmerzlicher ist für Kyrill der Verlust des zweitmächtigsten Würdenträgers, des Metropoliten Hilarion Alfejew, der seit 2009 die Abteilung für die Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats geleitet hatte. Er wurde auf einer regulären Sitzung des Heiligen Synods der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) ohne weitere Erklärung seines Amtes enthoben und ohne Dank für seine langjährige Tätigkeit außer Landes geschickt. Alfejew wird künftig als Metropolit in Ungarn elf russische Gemeinden mit acht Priestern leiten.

Diese Entscheidung ist nicht ohne Pointe. Denn wenige Tage zuvor war Hilarion in Budapest, um dem ungarischen Ministerpräsidenten Orban klar zu machen, dass Kyrill nicht auf die Sanktionsliste der Europäischen Union gehöre. Dass ihm dies gelang, dankt ihm Kyrill mit einer unübersehbaren Degradierung. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass die beiden Bischöfe sich über den Krieg zerstritten haben. Das allerdings könnte dem an den Rand des Geschehens versetzen Hilarion nach Kyrills Amtszeit zugutekommen. Denn Hilarion ist in der Orthodoxie eine Lichtgestalt. Der 55 Jahre alte Bischof, hat sich 2005 an der Universität Fribourg in der Schweiz habilitiert, spricht fließend Englisch und Französisch. Er ist außerdem ein erfolgreicher Komponist, dessen Oratorium schon in Rom vor dem Papst aufgeführt wurde.

Hilarion hatte im vergangenen Jahrzehnt als rechte Hand von Kyrill dessen kirchliche und politische Ziele bei Kirchenführern und Staatsmännern aus aller Welt vertreten. Seine Abberufung wird daher von kirchlichen Beobachtern als deutlicher Hinweis verstanden, dass die ROK durch den Krieg in heftigen Turbulenzen geraten ist und auch die ökumenischen Beziehungen in einem Scherbenhaufen gelandet sind. Dennoch will Papst Franziskus, Oberhaupt der Katholischen Kirche, offensichtlich noch einmal den Versuch wagen, sich mit Kyrill zu treffen. Eine erste Begegnung auf Kuba verlief vor einigen Jahren unerfreulich. Mitte September gibt es in der neuen kasachischen Hauptstadt Nur- Sultan ein dreitägiges interreligiöses Treffen mit dem Programmpunkt: „Private Begegnung mit verschiedenen religiösen Führern“.  An ihm möchte der römische Papst gerne teilnehmen.

Franziskus hat in den jüngsten Wochen und Monaten bei verschiedenen Predigten und Begegnungen zwar nie einen Zweifel daran gelassen, wo er die Ursachen für den Krieg sieht, aber in der Öffentlichkeit den russischen Diktator nie namentlich als Aggressor gebrandmarkt. Damit will er seine guten Dienste als Vermittler eines Friedensschlusses ermöglichen. Man erinnert sich daran, dass er gegen jedes Protokoll zu Beginn des Krieges die Residenz des russischen Botschafters in Rom aufgesucht hatte, um so auf Putin einzuwirken. Nun erhofft er sich das gleiche von einem Gespräch mit Kyrill. Ob er zuvor die Einladung des ukrainischen Präsidenten nach Kiew annimmt, ist ebenso ungewiss wie das Zustandekommen einer Begegnung mit Kyrill und vor allem deren Erfolg. Das Oberhaupt der mit Rom verbundenen Griechisch-Katholischen Kirche, der Kiewer Erzbischof Swjatoslaw Sewtschuk, hat sicherlich im Sinne des Papstes gehandelt, als er seine Gläubigen zum Gebet für die russischen Kriegsgegner aufrief. Es sei schwer, von Vergebung zu sprechen, wenn man in die Augen des Feindes schaue. „Feindschaft aber darf nicht das letzte Wort haben, denn Vergebung ist das Geheimnis des Sieges“.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

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