Von Günter Müchler

Dr. Günter Müchler

Elektrizität wird bekanntlich durch Reibung erzeugt. Davon gibt es in der Berliner Ampel inzwischen so viel, dass Klimafreunde ob der zusätzlichen Energiequelle eigentlich Freudensprünge machen müssten. Doch den Ampel-Partnern steht momentan der Sinn nicht nach Feiern. Schuld daran ist das Dauermobbing zwischen Liberalen und Grünen, das mit dem Streit um Robert Habecks Heizungs-Gesetzentwurf eine weitere Höchstmarke erreicht hat. Zum ersten Mal steckt die Scholz-Regierung in einer ernsten Krise. Zerbrechen wird sie daran wohl nicht. Zu befürchten ist anderes: Dass nämlich die Koalition, um die Verwerfungen in den großen Fragen der Klima- und Haushaltspolitik zu übertünchen, ihr Heil in riskanten gesellschaftspolitischen Experimenten suchen könnte. Die Stichworte lauten: Legalisierung des Kiffens, Senkung des Wahlalters und „Selbstbestimmung“ für Trans-Kinder.

„Genervt“, „gereizt“: Mit diesen Adjektiven lässt sich das koalitionäre Binnenklima beschreiben. „Verunsichert“ kommt hinzu. Das Wort trifft vor allem den Zustand der Grünen. Lange galten sie als everybodys darling – als jedermanns Liebling. Was immer sie anstellten, nichts schien ihren Höhenflug auf den Schwingen des Zeitgeistes bremsen zu können. Damit ist es wohl vorbei. Demoskopisch befinden sich die Grünen auf dem Stand von vor zehn Jahren. Noch immer behaupten sie, Prometheus zu sein, der den Menschen die Augen öffnet. Sie ignorieren, dass der mythologische Titan für seinen Vorwitz schwer bestraft wurde.

Es ist Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der die Härten der abfallenden Glückskurve derzeit am stärksten zu spüren bekommt. Eloquent wie kein Zweiter, Meister der Kommunikation, Verkörperung von Jugendlichkeit und Ernsthaftigkeit, galt er eine Weile als unbestrittener Kanzler der Herzen. Mittlerweile hat ihn die raue Realität des Regierungshandelns eingeholt. Wenn Habeck zuvor für sich in Anspruch nahm, bei der Gleichzeitigkeit schwerster Herausforderungen seien Fehler unvermeidlich, war ein Großteil der Medien und auch der Bevölkerung lange bereit, ihm zu folgen. Nun bröckelt die Bereitschaft; die Zahl der Fehler hat sich allzu sehr gehäuft.

Besonders hart hat ihn und die ganze Partei der Grünen die Affäre Graichen getroffen. „Amigos“ existierten in der Weltsicht der Grünen nur bei der CSU in Bayern. Jetzt stellt sich heraus, dass es nicht nur Seilschaften auch im eigenen Lager gibt, sondern dass sie vielleicht sogar typisch sind für ein Milieu, in dem Doppelstandards üblich sind und wo als Glaubensstärke ausgegeben wird, was in Wahrheit krude Kumpanei ist. Wenn Fromme beim Sündigen erwischt werden, ist die Fallhöhe enorm. Wie sehr die Grünen die Regression zu politischen Normalos fürchten, offenbarte Jürgen Trittin. Als die Affäre um den Wirtschafts-Staatssekretär ruchbar wurde und selbst Habeck nicht anstand, Fehler einzugestehen, zeterte er in bester Trump-Manier über Verschwörung und Hexenjagd.

Vom Abbau des grünen Moralüberschusses profitiert im Augenblick die FDP am meisten. Geschickt bemüht sich Bundesfinanzminister Christian Lindner, die FDP über die klassische Rolle des Hüters ökonomischer Vernunft hinauszuführen und sie als Anwalt aller zu positionieren, die gegen grüne Besserwisserei und politisches Einweg-Denken sind. Dabei hütet sich Lindner vor dem offenen Konflikt. Er weiß, er darf nicht überziehen; für einen Koalitionswechsel ist die Zeit nicht reif. Er weiß auch, dass jeder Geländegewinn beim Kampf gegen Habecks Wärmepumpen-Monomanie irgendwo entschädigt werden muss. Spielraum sieht er in der Gesellschaftspolitik.

Fest untergehakt haben sich FDP und Grüne in der Absicht, noch in diesem Jahr die Droge Cannabis zu legalisieren.  Auch noch in diesem Jahr soll anstelle des bisherigen Transsexuellen-Gesetzes ein neues „Selbstbestimmungsgesetz“ treten. Und schließlich wird erwogen, das Wahlalter auf 16 Jahre herunterzuziehen. Auf den ersten Blick haben die drei Vorhaben nicht viel miteinander zu tun. Gemeinsam ist ihnen die permissive Grundhaltung und eine souveräne Missachtung ernsthafter Einwände. In Sachen Cannabis werden schlechte Erfahrungen, die andere Länder mit der Freigabe gemacht haben, in den Wind geschlagen. Unterminiert wird die in Sonntagsreden geforderte Anstrengung der Suchtprävention. Wenn Kiffen, das vor allem bei Jugendlichen zu dauerhaften Schädigungen führen kann, künftig prima ist – wie soll dann der Kampf gegen das Rauchen oder den übermäßigen Alkoholgenuss glaubwürdig fortgesetzt werden?

Schweren Bedenken begegnet auch der gemeinsame Gesetzentwurf von Justizministerium (FDP) und Familienministerium (Grüne), der die Rechtsstellung von Transsexuellen verbessern soll. Unverkennbar ist in diesen Fall der Wunsch, Punkte bei der LGBT-Lobby zu sammeln. Mädchen und Jungen mit 14 sollen einfach aufs Amt gehen und ihre urkundliche Geschlechtsidentität ändern können. Aus Petra soll Peter werden, das Ganze unbürokratisch, durch simple Wissensäußerung, einmal im Jahr. Nach Jahresfrist kann dann Peter, wenn ihm danach ist, wieder Petra sein, mehr als die Willensäußerungen ist auch diesmal nicht erforderlich. Fachmediziner warnen, Sportverbände sind alarmiert, Feministinnen irritiert. Anders ausgedrückt: Haben unmündige 14-Jährige, die man mit dem Sonderangebot „Selbstbestimmung“ ködert, nicht einen Anspruch darauf, vom Staat vor irreparabler Selbstschädigung geschützt zu werden? Vor allem die FDP sollte wissen, dass Regellosigkeit nicht Freiheitsgewinn bedeutet.

So viel ist sicher, populär ist weder die Freigabe von Cannabis noch die Verflüssigung der Geschlechtsidentität. Genauso dürfte es schwerfallen, der Bevölkerungsmehrheit weiszumachen, dass ausgerechnet die Herabsetzung des Wahlalters das Gebot der Stunde sein soll. Das Wahlrecht ist ein kostbares Gut. Gerade im Gedenkjahr an die Revolution von 1848 sollte vermieden werden, es zum billigen Jakob zu machen, indem man das Eintrittsalter noch weiter von der Strafmündigkeit entkoppelt. Die Liberalen müssen aufpassen. In dem Bemühen, Habecks Heizungspläne zu erden, sollten sie sich nicht  auf das grüne Bild einer fragmentierten Gesellschaft einlassen, dem die Sicht auf das Ganze abgeht.   

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

    

 

 

 

- ANZEIGE -