Israel – auch von den Freunden verlassen?
Von Günter Müchler
Keine Sekunde glaubten die Hamas-Führer an erfolgreiche Gegenwehr. Keine Vorkehrungen waren getroffen für die leidende und bald hungernde Bevölkerung. Stattdessen wogen die Kommandeure ihren Erfolg im Umfang der Trümmer und in der Tonnage getöteter Landsleute aus. Die Strategie der Hamas war klar und konsequent vom ersten Augenblick. Sie ist noch immer intakt. Der Konflikt muss in die Länge gezogen werden. Denn je länger er dauert, desto weiter entfernt er sich von seinem Ausgangspunkt, desto mehr entgleitet die Hamas in die Unsichtbarkeit. Und desto unvermeidlicher gerät Israel in die Täterposition.
Das Drehbuch wurde in diversen Intifadas erprobt. Nie schickte man Kämpfer nach vorn, immer nur Kinder, die Panzer mit Fäusten traktierten und Steine warfen. Nie traten uniformierte Kämpfer in Erscheinung, immer versteckten sie sich hinter der Zivilbevölkerung – ein Verhalten, das (ganz nebenbei) dem Kriegsrecht eklatant zuwiderläuft. Schon in den Intifadas ging die Rechnung der Hamas auf. Im Westen kippte die Stimmung fortschreitend. Zu überwältigend war die Macht der Bilder. Man ergriff, wie sollte es anders sein, Partei für die Kinder, schrie: Einhalt! Und vergaß, welche Rolle den Kindern in der Inszenierung der Hamas zugewiesen war: die Rolle des Kanonenfutters. Was in den Testreihen der Intifadas so erfolgreich bestand, wird jetzt, im aktuellen Konflikt zur Perfektion gebracht. Im Krieg der Bilder besitzt Israel keine Chance.
Natürlich kennt man in den westlichen Hauptstädten die Mechanik der „asymmetrischen“ Kriegführung. Natürlich weiß der amerikanische Präsident, dass die Vorgehensweise der Hamas an Zynismus nicht zu überbieten ist. Aber Joe Biden ist nicht in der Lage dessen, dem die Stimmung im eigenen Land gleichgültig sein kann. Bald sind Wahlen. Viele Schwarze, die gewohnheitsmäßig die Demokraten unterstützen, empfinden mit den Palästinensern, in denen sie Kompagnons im Kampf gegen Unterdrückung zu erkennen glauben. Bei den Vorwahlen hat Biden erfahren, was das bedeutet.
Eine durch Opposition und freie Medien gestärkte öffentliche Meinung existiert nur im Westen. In Israel kennt sie mit den Regierenden keine Gnade, mitten im Krieg. Anders in der arabischen Welt. Dort muss kein Machthaber auf öffentlichen Widerspruch Rücksicht nehmen. Auch dies ist eine „Asymmetrie“, die den Konflikt kennzeichnet und seinen Gang beeinflusst. Aus dem Fehlen kritischer Stimmen zu folgern, in Beirut, Kairo oder Riad sei man hundertprozentig blind für die Kosten des Hamas-Terrors, wäre jedoch allzu naiv. Selbst im Gaza-Streifen wird es Menschen geben, denen, bei allem Zorn auf Israel, sonnenklar ist, dass der Weg der Hamas in den Abgrund führt.
Aber ihre Meinung ist nicht gefragt. Sie ist noch nicht einmal gefragte bei den westlichen Kriegsberichterstattern. Folgt man den Nachrichtensendungen, gewinnt man den Eindruck, als gäben sich die Reporter damit zufrieden, in klischeehaften Straßeninterviews die Verzweiflung der Menschen und damit das Erwartbare abzubilden. Die Einstellung zur Hamas oder zu den Ereignissen des 7. Oktober ist ihnen keine Frage wert.
Wenn es im Moment für die Hamas also bestens läuft, hat dies mehrere Ursachen. Die Terrororganisation verfügt zweifellos über strategische Intelligenz. Am 7. Oktober beließ man es nicht dabei, Menschen zu massakrieren und den Angehörigen und dem ganzen israelischen Volk dadurch einen Stoß ins Herz zu versetzen, dass man ihnen die Gräueltaten in Videoclips vorführte. Man nahm auch Geiseln, und das war ein diabolisch kluger Schachzug. Denn dass die Regierung in Jerusalem dadurch in eine fatale Zweckmühle geraten würde, war vorhersehbar. Für die Angehörigen, die ihre Lieben wieder bei sich haben wollen, kann kein Preis für die Rückholung zu hoch sein. Eine Regierung darf so nicht denken. Sie muss wägen – und wird schuldig, wie immer sie entscheidet. Noch sollen 130 Geiseln in der Hand der Hamas sein, 30 von ihnen wohl tot. Seit Wochen demonstrieren die Eltern, die Partner. Sie demonstrieren gegen Netanjahu.
Der Ministerpräsident trägt für die Geiselnahme keine Verantwortung, am 7. Oktober vielleicht jedoch eine Mitschuld, durch Unterlassung. Es bringt nichts, vom hohen Ross Ratschläge zu erteilen. Mangelhafte Versorgung der herumirrenden Ausgebombten? Soldatische Fehler? Querschläger? Bei einem Dispositiv, das auf der prinzipiellen Identität beziehungsweise der gewollten Nichtunterscheidbarkeit von Militärischem und Zivilen beruht, ist all dies wohl kaum zu vermeiden. Die Freunde Israels sollten das aber anerkennen, wenn sie der Regierung in Jerusalem Vorhaltungen machen.
Es hilft auch wenig, Netanjahu zu unterstellen, er verlängere den Krieg aus purem Machterhaltungstrieb. Vermutlich ist das Narrativ gar nicht falsch. Es verleitet jedoch zu falschen Schlüssen. So umstritten die Person Netanjahu innenpolitisch ist – das Ziel, die Hamas zu vernichten, um zu verhindern, dass sich der 7. Oktober wiederholt, ist es nicht. Statt auf einen Machtwechsel zu hoffen, sollte man im Westen Netanjahu drängen, endlich zu sagen, was auf die Ausschaltung der Hamas folgen soll. Die Existenz zweier in Frieden und Sicherheit koexistierenden Staaten in Palästina wirkt im Licht des Krieges wie ein Traumgespinst. Aber wer keine Träume hat, ist kein Realist. Ist Netanjahu ein Realist? Es gibt Gründe, daran zu zweifeln.
Noch hat der Krieg in Gaza nicht den großen Flächenbrand ausgelöst. Die Besonnenheit der meisten Staaten in der Region hat das bisher verhindert. Trotzdem sind die Metastasen des Krieges an vielen Orten zu finden, auch in Deutschland. Bei uns wie in den meisten westeuropäischen Ländern haben die Freunde Israels inzwischen einen schweren Stand. Volker Beck, der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft warnt vor einem „Tsunami des Antisemitismus“, der über Deutschland rase. Das mag in der Wortwahl übertrieben sein, abwegig ist die Äußerung nicht. Die islamische Gemeinschaft in der Bundesrepublik ist weitaus zahlreicher als die jüdische. Politischer wären nicht Politiker, wenn sie diesem Umstand in ihrem Handeln nicht Tribut zollten.
Für die Juden in Deutschland ist das ein Albtraum. Der Antisemitismus von rechts war hierzulande immer vorhanden. Daran hat sich nichts geändert. Auch linker Antisemitismus ist nicht neu. Man denke an die Komplizenschaft linker Extremisten mit palästinensischen Terrorgruppen in der APO-Zeit mit den Gewalttätern der Baader/Meinhof-Terroristen. Mittlerweile ist es im linken Milieu gängig, den Palästina-Konflikt als Teil der globalen Auseinandersetzung zwischen einem imaginierten „kollektiven Süden“ und der westlichen Staatenwelt zu sehen, mit Israel als Büttel des internationalen Kapitals und gekennzeichnet mit dem Kainsmal postkolonialer Herrschaftsmanieren.
Was das bedeutet und wie weit diese Denkfigur in das Milieu eingedrungen ist, konnte man an den pro-palästinensischen Demonstrationen nach dem 7. Oktober besichtigen, die allesamt umfangreicher und lautstärker waren als die Demonstrationen pro-Israel. Man kann es ablesen an Bestrebungen, Israel als Apartheid-Staat zu diffamieren, den Holocaust als beliebigen Störfall der Geschichte abzutun und israelische Waren nach dem SA-Muster „Kauft nicht beim Juden“ zu boykottieren.
Die Anklage Deutschlands vor dem Internationalen Gerichtshof durch das diktatorisch regierte und von seinem Präsidenten Daniel Ortega – einst eine Ikone der westdeutschen APO – wirtschaftlich ruinierten Nicaragua, ist so lächerlich, dass sie der Regierung in Berlin mit Recht kein Kopfzerbrechen bereitet. Weitaus ernster zu nehmen ist die im Gang befindliche Umdeutung von Werten und Orientierungen, die bisher für unser Gemeinwesen zentral waren. Deutschland trägt Verantwortung für die Sicherheit des Staates Israel. Als einzige Demokratie im Nahen Osten ist Israel ein Vorposten des Westens. Israel in der Stunde der Not im Stich zu lassen, wäre ein nicht wieder gut zu machendes Unrecht. Und ein schwerer Fehler dazu.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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