Deutschland, beängstigend Vaterland
Von Gisbert Kuhn
Eigentlich hätte man bereits am 8. Oktober, dem Wahlabend also, anfangen können, sich verwundert die Augen zu reiben. Auf einmal, nämlich, waren sich in Bayern und Hessen praktisch sämtliche Politiker von Union über SPD, FDP, Freie Wähler bis Grüne (letztere, zugegeben, etwas weniger) einig in der Schlussfolgerung, der dramatisch angestiegene Stimmenanteil der politischen Rechtsextremen mit dem Kürzel AfD habe zentral etwas mit der massiven und ungeregelten Zuwanderung aus den Kriegs-, Armuts- und sonstigen Notstandsregionen der Welt nach Deutschland zu tun. Und noch mehr verblüfft es, jetzt zu sehen, mit welch rasantem Tempo sich mit einem Male Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Berliner Ampel-Partner um Regelungen bemühen, um dem Massenzustrom zu stoppen?
Das ist einerseits natürlich positiv. Die Tatsache, nämlich, dass sich unsere, in die oberste politische Verantwortung gewählten, Volksvertreter endlich jenem Problem zuwenden, das für jeden auch nur einigermaßen aufmerksamen Zeitgenossen schon seit geraumer Zeit erkennbar von einem immer breiter werdenden Teil der Gesellschaft als (zurückhaltend formuliert) zunehmend bedrängend empfunden wurde – die ungezügelte Migration. Aber zu welchem Preis ist diese Einsicht jetzt erfolgt? Zu einem leider sehr hohen! Denn die aktuell in Berlin und anderswo jetzt geradezu hektisch vorgenommenen politisch-rechtlich-moralischen „Anpassungen“ an die „realen“ Verhältnisse scheinen doch leider nur jenen populistischen Vereinfacherern Recht zugeben, die nun behaupten können: „Na also, wir haben das doch immer gesagt. Und die handeln jetzt bloß, weil sie von uns dazu gezwungen worden sind“.
Bedauerlicherweise (sehr bedauerlicherweise!) sieht die AfD damit die Dinge auch noch richtig. Und das ist eigentlich der größte Vorwurf an die demokratischen Kräfte vor allem in der Bundeshauptstadt: Wenn unter „normalen Umständen eine (sagen wir: schwache) Regierung von einer (sagen wir: mächtigen) Opposition sachlich und politisch-inhaltlich zum Jagen getragen werden müsste, dann wäre das natürlich peinlich für diese Regierung. Aber so ist es ja gar nicht an der Spree. Sicher, die Ampel-Koalition um Olaf Scholz macht nicht erst in diesen Tagen eine Politik zum Kopfschütteln. Eigentlich müsste sie daher von der CDU/CSU vor sich hergetrieben werden. Stattdessen geschieht das durch die sich selbst als „Alternative“ bezeichnenden Rechtsaußen-Versimpler.
Und zwar (siehe Landtagswahlen) unter immer kräftigerem Applaus des bundesrepublikanischen Publikums. Das Bedrückende an der gegenwärtigen Situation ist ja gar nicht einmal allein die geschilderte Entwicklung. Es ist vielmehr die Tatsache, dass jene Mahner sich wie Rufer in der Wüste vorkommen müssen, die ja bereits seit vielen Monaten auf die sich zuspitzende Problematik und die damit verbundene Gefahr einer Erosion des Vertrauens in die Schutzfähigkeit des Staates hingewiesen haben. Schlimmer noch – sie wurden nicht selten (auch in den Medien) der Inhumanität, des fehlenden Mitgefühls mit den Ärmsten in der Welt, des Rassismus, der Kaltherzig und ähnlichem geziehen. Derweil wurden die Hilferufe der Kommunen (vom kleinen Dorf angefangen) und Landkreise immer lauter, die für die von „da oben“ angeordnete Unterbringung, Verpflegung, Medizin- und Sozialversorgung sowie für Kindergärten, Schulplätze und auch die Sprachvermittlung zu sorgen hatten.
Überflüssig, ein weiteres Mal aufzuzählen, warum das nicht funktionieren konnte – und auch noch immer nicht kann. Überflüssig an sich auch, noch einmal daran zu erinnern, dass – zusätzlich zu den rund 220 000 Asylantrag Stellenden vor allem Syrern und Afghanen im ersten Halbjahr 2023 – mehr als 1 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untergebracht und versorgt werden müssen. Wer (und sei es auch bloß als Kind) selbst erlebt wird, auf welche Ablehnung und Zurückweisung teilweise die aus den damaligen Ostgebieten kommenden Flüchtlinge und Vertriebenen gestoßen waren, vermag sich unschwer manches aktuelle „bürgerliche“ Verhalten vorstellen. Dabei waren die entwurzelten und verzweifelten Menschen damals ebenfalls Deutsche. Aber zugegeben: Es war ein völlig anderes Land zu jener Zeit – zerstört, hungernd, perspektivlos. Und ganz sicher konnte sich in jenen Anfangsjahren, in denen (im Westen) das neue, demokratische Deutschland entstand, niemand auch nur im Entferntesten vorstellen, dass ausgerechnet hier irgendwann jemand um Schutz und Obdach nachsuchen würde.
Nun ist Freiheit manchmal schwierig und Demokratie zumeist anstrengend. Gilt es doch schließlich, die in einer Gesellschaft kursierenden höchst unterschiedlichen Vorstellungen von richtig und falsch, von Gerechtigkeit und Sicherheit, von persönlicher Verantwortung und staatlicher Fürsorgepflicht usw. möglichst ausgeglichen zu bedienen. Das kann nicht immer gelingen. Aber auf eines haben die Bürger auf jeden Fall Anspruch – darauf nämlich, dass man ihre Sorgen und Bedenken ernst nimmt und nach Lösungen sucht. Und exakt dies ist, vor allem in Berlin, versäumt worden. Nicht erst in diesen Tagen, nicht erst angesichts drohender Abstrafungen bei Wahlen, und nicht erst von der amtierenden Regierung. Stattdessen regelrechte Festivals schöner Worte, wohlfeiler Appelle an menschliche Gefühle, aber auch gegenseitiger Anschuldigungen oder gar politischer Diffamierungen. Ersparen wir uns Zitate daraus. Manch einem Zeitgenossen werden vielleicht die Ohren klingen; es ist ja noch gar nicht so lange her.
Jetzt, da der Protest gegen verfehlte Asyl- und Migrationspolitik unüberhörbar und – vor allem – unübersehbar geworden ist, weil erkennbar wird, dass das Gift der AfD im „Volkskörper“ angekommen ist und wirkt, ist Feuer unter den Regierungssitzen an der Spree. Mit einem Male werden Pläne aus den diversen Schubladen gezogen und sogar Maßnahmen als denkbar erörtert, die bis vor kurzem noch hauptsächlich bei grünen und sozialdemokratischen Teilen der koalitionären Ampel-Partner als absolut unvorstellbar, ja toxisch galten. Sachleistungen statt Geldzuwendungen, sofortige Arbeitserlaubnis auch wenn noch kein Aufenthaltsrecht ausgesprochen wurde, grundsätzlich Kürzungen der bisher gewährten Sozialleistungen – all das und mehr in der Hoffnung, die „Anziehungskraft“ Deutschlands als vorgebliches Asyl- und Fluchtparadies zu verringern.
Nun muss das natürlich erst noch weiter diskutiert, dann konkret niedergeschrieben, im Kabinett erörtert und schließlich von Parlament beschlossen werden, bevor es bindendes Gesetz wird. Und täusche sich keiner – selbst im günstigsten Fall wäre Deutschland dann noch immer nicht seine Probleme los. Der gewaltige Druck auf die Kommunen, die Schulen, die Sozialhelfer und wer oder was noch weiter an der Leistungskette hängt, wird selbst im günstigst verlaufenden Falle nur langsam abnehmen. Und der Druck im Lande? Nächstes Jahr sind im Mai Europa-Wahlen und werden im September in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg neue Landtage gewählt. Die demoskopischen Umfragen sagen dort überall für die demokratischen Parteien nichts Gutes voraus. Das gilt, im Übrigen; für den ganzen Bereich der einstigen DDR – allenthalben liegt die AfD in der Bevölkerungsgunst bei um die 30 Prozent.
Natürlich haben in einem demokratischen Staat die Menschen das Recht, Regierungen abzustrafen. Dafür sind Wahlen schließlich da. Sie sind das schärfste Schwert des Bürgers, auch wenn dieser das oft genug und leichtfertig nicht nutzt. Allerdings ist es zugleich häufig allzu einfach bis unfair von der so oft beschworenen Öffentlichkeit, die Ursache für fast jedes Wehwehchen fix „der Politik“ und „denen da oben“ zuzuschieben. Was immer man (objektiv oder auch nur aus dem Bauch heraus) an der Spree-„Ampel“ auszusetzen haben mag – für Putins Überfall auf die Ukraine und die daraus resultierenden menschlichen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen können weder Olaf Scholz noch Annalena Baerbock etwas. Und die Sympathiebekundungen zahlreicher AfD-Granden für den Diktator im Kreml haben noch kein einziges Kriegsopfer verhindert. Ebenso wenig sind die zahlreichen anderen Kriege und Krisen auf der Welt der Bundesregierung zuzuordnen.
Mit anderen Worten: Man darf die Bürger auch nicht aus ihrer eigenen Verantwortung entlassen. Mehr als 70 Jahre Demokratie zumindest im Westen unseres gemeinsamen Vaterlandes sollten eigentlich ausgereicht haben, um eine entsprechende politische Reife zu entwickeln, für sich und seine Umwelt zu sorgen, Respekt und Toleranz zu geben und zu empfangen, jeglicher Art von Gewalt und Despotie abhold zu sein. Eigentlich! Wenn aber stattdessen in einem solchen Staat und in einer solchen Gesellschaft rund 80 Prozent der AfD-Wähler in Hessen und Bayern angeben, es sei ihnen „völlig egal“ ob jene Partei in Teilen rechtsextrem sei und sie würden sie trotzdem wählen, dann stimmt ganz entschieden etwas nicht im Staate Deutschland. Es handelt sich immerhin um eine Partei, deren Ehrenvorsitzender Gauland die Nazi-Zeit und die damaligen, unvorstellbaren Verbrechen als „Fliegenschiss der Geschichte“ bezeichnet, deren (aus Hessen gekommener) thüringischer Landesvorsitzender, Björn Höcke, sich in scheußlich-zynischer Weise über körperlich und geistige behinderte Menschen äußert. Eine Partei, die das Ende der EU propagiert – also das (bei allen Fehlentwicklungen) historisch und politisch mit Abstand Beste, was dieser über Jahrhundert kriegsgebeutelte Kontinent je hervorgebracht hat. Um eine Partei, die solches und noch viel mehr auf ihren Fahnen trägt…
Nein, wer solchen Stimmenfängern nachläuft, der wird sich später nicht darauf berufen können, nichts gewusst zu haben. Die Generationen im und nach dem Krieg hatten sich damals entweder geschworen oder waren mit dem Versprechen aufgewachsen „Nie wieder“. Dieser Eid ist nicht vom starken Wind der Gegenwart in die Vergangenheit verblasen worden. „Nie wieder“ ist heute. Wenn Deutschland womöglich sogar noch lange kein „einig Vaterland“ sein wird, so darf es doch auf keinen Fall auch noch ein beängstigendes werden.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.