Föderalismus – der beliebte Sündenbock
Von Günter Müchler

Wird Corona zur never ending story – zur unendlichen Geschichte? Der ständige Wechselschritt von Hoffnung und Enttäuschung, von Gasgeben und Vollbremsung, Lösungsansätzen und ihrem Gegenteil wirkt zermürbend. Vom Vertrauen in die Krisenkompetenz der Regierenden, das vor einem Jahr die Zustimmung zur CDU/CSU als führenden Regierungspartei in die Höhe schnellen ließ, ist an Ostern 2021 nur wenig geblieben. Auf die wachsende Gereiztheit der Bevölkerung reagiert die Politik in zweifelhafter Weise: Sie holt die Sündenböcke aus dem Stall.
Zuerst war die Europäische Union an der Reihe. „Brüssel“ habe beim Impfstoff zu langsam genehmigt und zu wenig bestellt. Außerdem habe sich erwiesen, dass die EU-Kommission gewieften Privatunternehmen (AstraZeneca) vertragstechnisch nicht gewachsen sei – Bürokraten eben. So hörte man in Berlin. Keine Rede davon, dass man die Impfstoffbeschaffung ausdrücklich der Gemeinschaft übertragen hatte. Richtigerweise übrigens: Nur auf diese Weise konnte ein hässlicher Kleinkrieg unter den Mitgliedstaaten verhindert werden.
Inzwischen scheint man sich in Berlin auf den Föderalismus einzuschießen. Die Lesart lautet, alles wäre gut, würden die weisen Beschlüsse der Bundesregierung nicht regelmäßig in der Provinz verbogen oder gar von Ministerpräsidenten konterkariert. Angela Merkel ließ es sich nicht nehmen, die Blitzableitung in Richtung Länder durch ihren denkwürdigen Doppelaxel entscheidend zu verschärfen. An einem Tag nahm sie zu allgemeinem Erstaunen die Alleinschuld für Planungsfehler auf sich, um kurz darauf vom Beichtstuhl auf den Sessel der Chefanklägerin zu wechseln.
Mit den Ministerpräsidenten, suggerierte sie in einer Fernsehsendung, sei eine nachhaltige Pandemiebekämpfung nicht zu machen. Eine Inszenierung von großer Virtuosität: Dass sie Armin Laschet, den CDU-Vorsitzenden, der Kanzler werden möchte, schwer in die Bredouille bringen würde, dürfte Angela Merkel, die stets ihre Sinne bei sich hat, in Kauf genommen, wenn nicht gar bezweckt haben. Je näher das Ende ihrer Amtszeit rückt, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, dass sie zwar Abschied nehmen, aber eigentlich keinen Nachfolger haben möchte.
Laschet reagierte empfindlich, er wies den implizierten Vorwurf der Illoyalität zurück und fand dabei die Unterstützung einiger Amtskollegen, die keineswegs zufällig alle der CDU angehören. Die von der SPD fühlten sich nicht angesprochen, im Vertrauen darauf, dass die Kanzlerin, wenn sie austeilt, nie die SPD meint. Und Markus Söder, der CSU-Häuptling? Wie zu erwarten, schickte Merkels treuer Krisen-Kamerad dem friendly fire auf Armin Laschet noch eine Salve aus dem Süden hinterher.
Ob es klug ist, die Sündenböcke EU und Föderalismus zu satteln, darf bezweifelt werden. Der Kampf gegen die Pandemie sei wie die Erstbesteigung eines Achttausenders, hat mal jemand gesagt. Fehler könnten da nicht ausbleiben. Vor einem Jahr konstruierten die Regierenden ihre Kommunikation nach dieser Metapher. Frank und frei räumten Spahn, Söder und andere ein, die Unwägbarkeiten der pandemischen Entwicklung ließen anderes als eine Vorgehensweise auf Sicht nicht zu. Um- und Irrwege eingeschlossen. In der Bevölkerung kam das gut an.
Tatsächlich wurden viele Fehler gemacht, von allen Beteiligten. Nicht jeder Fehler war unvermeidlich. Der Vorwurf, Brüssel habe angesichts des absehbaren Impfstoffmangels in der Anfangsphase nicht beherzt genug zugegriffen, ist berechtigt. Und die Ministerpräsidenten müssen sich sagen lassen, dass sie im vergangenen Sommer die heranrollende zweite Infektionswelle zu lange nicht wahrhaben wollten. Jetzt sind wir mitten in der dritten Welle, und ein Ende des Albtraums ist nicht absehbar.
Und die Bundesregierung? Sie hat überfällige strategische Weichenstellungen verschleppt. Warum erst jetzt und immer noch nicht nachdrücklich die Hausärzte in den Impfprozess einbezogen werden, ist ein Rätsel. Man wird den Verdacht nicht los, dass an den bürokratischen Monstern deshalb festgehalten wird, weil im Hause Spahn ein etatistisches Denken vorherrscht, das den freien Kräften der Gesellschaft prinzipiell misstraut.
Auch eine andere Frage stellt sich: Warum tut sich die Bundesregierung so schwer mit der Ansage, dass diejenigen, die geimpft sind, selbstverständlich ihre Freiheitsrechte zurückbekommen? Und zwar sofort! Nichts könnte der Impfbereitschaft besser auf die Sprünge helfen, ganz abgesehen davon, dass Gastgewerbe, Museen und Sportvereinen endlich eine Perspektive hätten. Aber lieber hört man in Berlin auf Ratgeber wie die Ethikkommission und versteckt sich hinter dem Gebot der Solidarität, das angeblich verlangt, so lange mit Verbotsschildern zu operieren, bis auch der letzte „Querdenker“ seine Dosis bekommen habe.
Aus dem pandemischen Stimmungstief heraus kommt die Politik nicht dadurch, dass die eine Instanz mit dem Finger auf die andere zeigt. Mit Föderalismus-Bashing kann man vielleicht ein paar schnelle Punkte machen. Auf lange Sicht jedoch schädigt man damit eine Institution, die ein Pfund in unserem Verfassungsgefüge darstellt. Der Bundesstaat schafft es besser als der Zentralstaat, das Allgemeine und das Besondere in die Waage zu bringen. Dieser Vorteil kann und sollte in Pandemiezeiten genutzt werden.
Dr. Günter Müchler war lange Jahre Programmdirektor beim Deutschlandfunk
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