Fest im Sattel

Für viele westliche Beobachter und Exilrussen steht der Untergang des Putin-Regimes unmittelbar bevor. In Russland selbst spricht jedoch wenig dafür.

Ein Wandel Russlands hin zu einem demokratischeren Staat, der wieder als Partner und nicht als Gefahr für Europa wahrgenommen wird, ist ohne eine Demontage des autoritären Systems Putin kaum vorstellbar. Sein Namensgeber an der Spitze nimmt im fortgeschrittenen Alter, wenn überhaupt, nur noch Veränderungen in ultrakonservativer, ja rückschrittlicher Richtung vor. Sollte er bis zu seinem Lebensende an der Macht bleiben, wäre kaum mit einer wesentlichen Änderung der Politik zu rechnen. Er sei trotz des Ukrainekriegs mit vielen Toten und umfassenden Zerstörungen überzeugt, alles richtig zu machen und bereue nichts, wie es die regierungsnahe Moskauer Nesawissimaja Gaseta ausdrückt. Innerhalb des Systems werde Putin niemals kritisiert, wie die Zeitung schreibt, und um ihn herum existiere ein bürokratisches Umfeld nach seinen eigenen Vorstellungen.
Putins Privatbilder sollen Stärke und Autorität symbolisieren. Wie stabil ist seine Macht wirklich? © RIA Novosti

Wegen dieser völlig verlorenen Flexibilität des Putin’schen Systems hoffen manche Expertinnen und Experten im Westen und viele russische Oppositionelle auf einen Umbruch, der das aktuelle russische Politestablishment aus dem Amt spült. Ein auch von Fachleuten häufig genanntes Szenario ist, dass sich ein Teil der Elite, der unter der aktuellen Situation große Nachteile hat, mit einem unzufriedenen Volk zu diesem Zweck verbündet. Tatsächlich gibt es in der russischen Elite diejenigen, die aufgrund der Sanktionen oder des Kriegs starke persönliche Verluste erleiden. Oder solche, die in der Vergangenheit zu einem moderateren Regierungskurs geraten haben, etwa regierungsnahe Wirtschaftsliberale oder außenpolitische Experten ohne Sympathien für die neue rechte Ideologie. Diese Leute sind jetzt nicht alle weg – sie haben nur größtenteils ihren Einfluss verloren. Ein solches Bündnis aus Vertreterinnen des Systems und des Volkes ist sogar die einzig denkbare Kombination für ein Umsturzszenario, denn eine starke oppositionelle Bewegung mit einer alternativen Führungsmannschaft ist nicht existent. Die Parlamente landauf, landab bestehen nur aus Verbündeten des Systems oder seinen eigenen Leuten.

Wenn man westliche Presseartikel liest, steht deshalb ein Sturz des Systems unmittelbar bevor, „Machtkämpfe im Kreml“, „Putin am Ende“ – das sind Schlagzeilen der letzten Monate, die die baldige Dämmerung voraussehen wollen. Eine ganze Welle solcher Einschätzungen rauschte durch den Blätterwald zur Zeit der erfolgreichen ukrainischen Offensive im September, obwohl die russische Armee im Feld noch lange nicht geschlagen ist. Auch steht unzweifelhaft fest, dass Putin in Russland selbst gestürzt werden müsste – nicht von der ukrainischen Armee, die schließlich keinen Vormarsch nach Moskau plant. So wittern Journalistinnen und Journalisten bei jedem offenen Wort aus der russischen Hauptstadt eine Spaltung der Elite, wenn nicht sogar ein Messerwetzen. Das gewünschte Szenario ist, dass gemäßigte Kräfte rund um die Führung in einer zunehmend prekären Situation die Reaktion immer nur mit blutiger Härte irgendwann ablehnen und zu denen übergehen, die das verhärtete System stürzen wollen.

Russische Fachleute, auch solche, die keine Sympathie für die Herrschenden haben, sind hier weniger optimistisch. So schreibt der Politologe Wladimir Gelman in einer Analyse, dass eine solche Spaltung der Elite ein System benötigen würde, in dem es eine kollektive Führung und mehrere untereinander konkurrierende Fraktionen gibt, wie etwa in der späten Sowjetzeit im Politbüro. Das sei aber im aktuellen Russland nicht der Fall. Treffen von hochrangigen Regierungsvertretern mit Putin erschöpfen sich aktuell nach seiner Beobachtung in der Demonstration von Zustimmung für von Putin alleine getroffene Entscheidungen. Gelman sieht rund um die Führung keine Fraktionen, sondern eher temporäre Cliquen im Machtkampf um das Zentralgestirn – und Kritik, wie etwa von den Kriegshardlinern Jewgeni Prigoschin und Ramsan Kadyrow am eigenen Verteidigungsministerium, als Episoden im Verteilungskampf.

Die Strafen für Illoyalität in Russland sind hart.

Gerade solche kritischen Bemerkungen in der Öffentlichkeit werden im Westen gerne wahrgenommen als Symptom einer zerrütteten Machtelite oder gar Unzufriedenheit in seinem Umfeld mit Putin selbst. Personen wie Kadyrow oder Prigoschin sind jedoch keine Akteure einer eigenständigen Fraktion, die gar in der Lage wären, am Stuhl des Kremlherrn zu sägen. Der langjährige Russlandjournalist Maxim Kireev beschreibt ihre Situation treffend, wenn er anmerkt, dass beide gar keine vom System unabhängige Einnahmequelle besitzen und Putin eher im Kreml einsperren, als ihn stürzen würden. Sie erfüllen vielmehr eine bestimmte Funktion zugunsten des Systems: als Identifikationsfiguren für radikale System-Anhänger, denen selbst die brutale Kriegsführung Russlands in der Ukraine als „zu lasch“ erscheint.

Gelman glaubt, dass tatsächlich viele Vertreterinnen und Vertreter der russischen Machtelite mit dem Verlauf der Ukraineinvasion unzufrieden sind. Doch sie seien deswegen nicht geneigt, ihre eigene Position im System aufs Spiel zu setzen und gegen Putin selbst zu opponieren. Die Strafen für Illoyalität in Russland sind hart – auch als Minister kann man direkt in einem sibirischen Gefängnis landen – und wiegen schwerer als die persönlichen Nachteile durch den aus dem Ruder laufenden Krieg. Zusätzlich geprägt ist die Moskauer Elite von der historischen Erfahrung, dass die Zukunftsaussichten von Mitgliedern einer früheren russischen Oberschicht nach einem erfolgreichen Umsturz nicht rosig sind – wenn sie überhaupt bestehen.

Ähnlich unsicher ist die Situation bei der zweiten Komponente, die ein erfolgreiches Umsturzszenario erfordert, dem Volk. Oppositionell gesinnte Russinnen und Russen befinden sich aktuell angesichts der Kriegsgräuel und des zunehmenden Totalitarismus in einer meist depressiven bis katastrophalen Stimmung. Solch zunehmender Totalitarismus muss nicht zwangsläufig Symptom einer bröckelnden Macht sein. Auch eine immer härter werdende Diktatur kann über viele Jahre bestehen, wie gerade in der russischen Geschichte Stalin zeigt, dem die Exzesse der Dreißigerjahre kaum geschadet haben.

Kaum jemand will im Kampf gegen Windmühlen in Sibirien landen.

Es gibt viele Unzufriedene in Russland, sie können ihrem Unmut jedoch immer weniger Luft machen. Jeder Straßenprotest, ja jedes falsche Wort online oder privat kann inzwischen eine längerfristige Verhaftung nach sich ziehen. Medien, in denen man einer abweichenden Meinung Gehör verschaffen kann, existieren im Inland nicht mehr. Wer sich etwa als Journalistin oder Fachmann nicht komplett an ein rückschrittliches System anpassen will, zieht die einzig richtige Konsequenz und verlässt das Land – wirkt damit aber noch weniger auf die Zurückbleibenden. Dadurch kommen dem russischen Volk diejenigen abhanden, die die Unzufriedenen in der ersten Reihe anführen und Kritik verbalisieren könnten. Kaum jemand will im Kampf gegen Windmühlen in Sibirien landen.

Der Krieg im Nachbarland macht auch vielen unpolitischen Russen zunehmend Sorge, vor allem seit die Mobilmachung die Söhne aus nahezu jeder Kleinstadt oft gegen ihren Willen an die Front gebracht hat. Doch selbst bei dieser unpopulären Maßnahme blieben echte Massenproteste nur auf wenige russische Regionen wie Dagestan oder Jakutien beschränkt. Die große Mehrheit der russischen Bevölkerung schluckte die Mobilisierung murrend. Was aber sehr wichtig ist: Dem eigentlichen Initiator dieses unseligen Feldzugs hat selbst diese Maßnahme kaum geschadet: Wladimir Putin. Sein Rating gab bei allen landesweiten Umfragen zwar um fünf bis sechs Prozent nach – doch noch immer unterstützt ihn die große Mehrheit der Bevölkerung, vor allem unter den Älteren.

Noch immer wirkt hier die Zeit der chaotischen Neunzigerjahre in Russland nach, der letzten Epoche ohne Putin an der Spitze. Damals konnte man zwar frei äußern, was man über die Regierung dachte, war aber aufgrund der wirtschaftlichen Dauerkrise eher mit der Sicherstellung von Nahrung beschäftigt. Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten im Russland der aktuellen Kriegstage konnten die Wirtschaftssanktionen den russischen Lebensstandard noch bei weitem nicht in diese Region bringen. Auch die Sanktionen bringen keinen Stimmungsumschwung. Der bekannte Belarus-Experte Artjom Schrajbman sagte über die westlichen Sanktionen gegen sein Land in einem Interview etwas, was für Russland ebenso gilt: Wer vor dem Krieg dem Westen gegenüber kritisch eingestellt war, macht nun auch den Westen für die entstandenen Wirtschaftsprobleme verantwortlich und nicht die eigene Regierung.

Wer angesichts des Fatalismus auch unter kritisch eingestellten russischen Bürgern als Deutsche die Nase rümpft, sollte vorsichtig sein. Auch die Nazi-Diktatur in Deutschland wurde – auch wenn viele nur passiv dabei waren – bis zur letzten Minute unterstützt. Obwohl die Grausamkeit des Regimes bis zum Ende nie nachließ.

Roland Bathon ist freier Journalist. Er schreibt vor allem zu Russland und Osteuropa

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